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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Wirtschaftsdiktatur

wie alles Deutsche, ein Umweg. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir oft
ein Jahrhundert an einen einzelnen Schritt zu setzen hatten und daß wir, die
wir jetzt sogar unsere letzten Schritte zurücknehmen mußten, vor allem Zeit, Zeit,
Zeit an die nächsten zu setzen haben werden. Dann werden wir den anderen
Verkünder verstehen, der von den Deutschen sagte, daß sie kein Heute besitzen,
weil sie von Vorgestern und von Übermorgen sind, und der hinzufügte, als er
sich vertrieben von Vater- und Mutterländern fühlte: "So liebe ich allein meiner
Kinder Land."

Wehe dem Volke, das kein Geheimnis ist! Ein Tag, ein Jahr, ein Kriegs¬
ende, ein Friedensschluß kann es auslöschen, als sei es nie gewesen. Unser
deutsches Geheimnis ist, daß wir ein altes Volk sind, beladen mit einer grauen
und steinernen Geschichte, unter deren Wechselfällen jede andere Nation längst
verblaßt und verwittert wäre -- und daß wir zugleich ein junges Volk blieben,
dem es nicht darauf anzukommen scheint, wie ein Kind mit ein paar Jahr¬
hunderten scheinbar verlorener Geschichte zu spielen. Aber einmal muß jede
Jugend erwachsen. Dieser Krieg wird unser Erziehungskrieg gewesen sein,
wenn er uns lehrt, aus unserem Schicksal zu lernen, -- und wenn wir dann nach
den Leiden der Ohnmacht und des halben Vergessenseins, in die er uns zurück¬
wirft, als eine bewußt gewordene Nation erwachen.




Wirtschaftsdiktatur
or. L. Stabeler von

le schleichende Krisis, von der wir heimgesucht werden, läßt sich
nur mit jener entscheidenden Krisis vergleichen, welche vor anderthalb
Jahren dem Ausbruch der ersten deutschen Revolution unmittelbar
vorausging. Als ich damals nach zweijähriger russischer Kriegs-
gefangenschaft mit wesentlicher innerer Distanzierung zu den Tages¬
ereignissen die Gesamtlage auf mich einwirken ließ, wuchs in mir die Erkenntnis,
daß der klaffende Riß, den der Defaitismus im Nationalbewußtsein des deutschen
Volkes hervorgerufen hatte, im Zusammenhang mit den Ereignissen an der Front
und den Zersetzungserscheinungen in der Heimat schnellstens zur Katastrophe
führen müsse, wenn nicht durch eine straffe diktatorische Zusammenfassung der
militärisch-politischen Gewalt in einer einzigen überragenden Persönlichkeit der
Ausweg gesucht würde. Die Stimme verklang damals in der Wüste. Die
Revolution kam als seelisch-politischer Zusammenbruch -- "Friede um jeden Preis"
--- und schwemmte die konstitutionellen monarchischen Formen des preußisch-deutschen
Staatswesens mit fort.

Trotz des Zusammenbruchs der Seele und der äußeren politischen Macht¬
formen erhielt sich noch ein festes Gefüge und ein starkes Fundament: der


Wirtschaftsdiktatur

wie alles Deutsche, ein Umweg. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir oft
ein Jahrhundert an einen einzelnen Schritt zu setzen hatten und daß wir, die
wir jetzt sogar unsere letzten Schritte zurücknehmen mußten, vor allem Zeit, Zeit,
Zeit an die nächsten zu setzen haben werden. Dann werden wir den anderen
Verkünder verstehen, der von den Deutschen sagte, daß sie kein Heute besitzen,
weil sie von Vorgestern und von Übermorgen sind, und der hinzufügte, als er
sich vertrieben von Vater- und Mutterländern fühlte: „So liebe ich allein meiner
Kinder Land."

Wehe dem Volke, das kein Geheimnis ist! Ein Tag, ein Jahr, ein Kriegs¬
ende, ein Friedensschluß kann es auslöschen, als sei es nie gewesen. Unser
deutsches Geheimnis ist, daß wir ein altes Volk sind, beladen mit einer grauen
und steinernen Geschichte, unter deren Wechselfällen jede andere Nation längst
verblaßt und verwittert wäre — und daß wir zugleich ein junges Volk blieben,
dem es nicht darauf anzukommen scheint, wie ein Kind mit ein paar Jahr¬
hunderten scheinbar verlorener Geschichte zu spielen. Aber einmal muß jede
Jugend erwachsen. Dieser Krieg wird unser Erziehungskrieg gewesen sein,
wenn er uns lehrt, aus unserem Schicksal zu lernen, — und wenn wir dann nach
den Leiden der Ohnmacht und des halben Vergessenseins, in die er uns zurück¬
wirft, als eine bewußt gewordene Nation erwachen.




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or. L. Stabeler von

le schleichende Krisis, von der wir heimgesucht werden, läßt sich
nur mit jener entscheidenden Krisis vergleichen, welche vor anderthalb
Jahren dem Ausbruch der ersten deutschen Revolution unmittelbar
vorausging. Als ich damals nach zweijähriger russischer Kriegs-
gefangenschaft mit wesentlicher innerer Distanzierung zu den Tages¬
ereignissen die Gesamtlage auf mich einwirken ließ, wuchs in mir die Erkenntnis,
daß der klaffende Riß, den der Defaitismus im Nationalbewußtsein des deutschen
Volkes hervorgerufen hatte, im Zusammenhang mit den Ereignissen an der Front
und den Zersetzungserscheinungen in der Heimat schnellstens zur Katastrophe
führen müsse, wenn nicht durch eine straffe diktatorische Zusammenfassung der
militärisch-politischen Gewalt in einer einzigen überragenden Persönlichkeit der
Ausweg gesucht würde. Die Stimme verklang damals in der Wüste. Die
Revolution kam als seelisch-politischer Zusammenbruch — „Friede um jeden Preis"
—- und schwemmte die konstitutionellen monarchischen Formen des preußisch-deutschen
Staatswesens mit fort.

Trotz des Zusammenbruchs der Seele und der äußeren politischen Macht¬
formen erhielt sich noch ein festes Gefüge und ein starkes Fundament: der


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[0086] Wirtschaftsdiktatur wie alles Deutsche, ein Umweg. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir oft ein Jahrhundert an einen einzelnen Schritt zu setzen hatten und daß wir, die wir jetzt sogar unsere letzten Schritte zurücknehmen mußten, vor allem Zeit, Zeit, Zeit an die nächsten zu setzen haben werden. Dann werden wir den anderen Verkünder verstehen, der von den Deutschen sagte, daß sie kein Heute besitzen, weil sie von Vorgestern und von Übermorgen sind, und der hinzufügte, als er sich vertrieben von Vater- und Mutterländern fühlte: „So liebe ich allein meiner Kinder Land." Wehe dem Volke, das kein Geheimnis ist! Ein Tag, ein Jahr, ein Kriegs¬ ende, ein Friedensschluß kann es auslöschen, als sei es nie gewesen. Unser deutsches Geheimnis ist, daß wir ein altes Volk sind, beladen mit einer grauen und steinernen Geschichte, unter deren Wechselfällen jede andere Nation längst verblaßt und verwittert wäre — und daß wir zugleich ein junges Volk blieben, dem es nicht darauf anzukommen scheint, wie ein Kind mit ein paar Jahr¬ hunderten scheinbar verlorener Geschichte zu spielen. Aber einmal muß jede Jugend erwachsen. Dieser Krieg wird unser Erziehungskrieg gewesen sein, wenn er uns lehrt, aus unserem Schicksal zu lernen, — und wenn wir dann nach den Leiden der Ohnmacht und des halben Vergessenseins, in die er uns zurück¬ wirft, als eine bewußt gewordene Nation erwachen. Wirtschaftsdiktatur or. L. Stabeler von le schleichende Krisis, von der wir heimgesucht werden, läßt sich nur mit jener entscheidenden Krisis vergleichen, welche vor anderthalb Jahren dem Ausbruch der ersten deutschen Revolution unmittelbar vorausging. Als ich damals nach zweijähriger russischer Kriegs- gefangenschaft mit wesentlicher innerer Distanzierung zu den Tages¬ ereignissen die Gesamtlage auf mich einwirken ließ, wuchs in mir die Erkenntnis, daß der klaffende Riß, den der Defaitismus im Nationalbewußtsein des deutschen Volkes hervorgerufen hatte, im Zusammenhang mit den Ereignissen an der Front und den Zersetzungserscheinungen in der Heimat schnellstens zur Katastrophe führen müsse, wenn nicht durch eine straffe diktatorische Zusammenfassung der militärisch-politischen Gewalt in einer einzigen überragenden Persönlichkeit der Ausweg gesucht würde. Die Stimme verklang damals in der Wüste. Die Revolution kam als seelisch-politischer Zusammenbruch — „Friede um jeden Preis" —- und schwemmte die konstitutionellen monarchischen Formen des preußisch-deutschen Staatswesens mit fort. Trotz des Zusammenbruchs der Seele und der äußeren politischen Macht¬ formen erhielt sich noch ein festes Gefüge und ein starkes Fundament: der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/86>, abgerufen am 22.12.2024.