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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Vaterland und Mutterland

Macchiavell. Der Kaisergedanke dagegen überkam den Deutschen. Er war
kein anderer als der: das Mutterland im Vaterlande aufgehen zu lassen, den
Widerspruch zwischen Volk und Staat aufzuheben und aus beiden eine große
geistige und doch politische Einheit zu bilden. Er überkam uns als Sehnsucht
und überkam uns als Arbeit: als eine Sehnsucht der Deutschen, die sie sich auch
in schwächlich werdender Kaiserzeit niemals nehmen ließen und die-sie immer mit
dem Glauben an das letzte, das dritte, das Erdreich auf Erden verbanden --
und als die Arbeit der Preußen, die zunächst einmal das Leben des Volkes fest
auf einem Leben im Staate begründeten.

Der Versuch, Arbeit und Sehnsucht zu verbinden, durch Preußen zu
Deutschland zu gelangen, das Vaterland und das Mutterland eines werden zu
lassen, ist heute gescheitert. Aber das Problem bleibt. Wenn ein oberflächliches
Volk zusammenbricht, dann sucht es wohl Schuldige. Es wird sie mit Leichtigkeit
in Personen, in Zuständen, in besonderen, jenachdem betastenden oder ent¬
lastenden Umständen finden. Soweit wir vom Westen mit seiner Denkweise seine
Oberflächlichkeit übernommen haben und auch bei uns die triumphierende Bestie
einer Demagogie aufhenke, der Massenjustiz nach Gemeinplätzen alles ist und die
von inneren seelischen tragischen Schicksalszusammenhängen nichts weiß und nichts
wissen will, übernehmen wir bereits diese Gepflogenheiten. Aber eine Nation,
die den Stolz der Selbstverantwortung besitzt, wird den Grund nicht außer sich,
sondern in sich suchen.

Es ist gar nicht wahr, daß wir vor dem Kriege eine Nation gewesen sind,
die "kulturell bedeutend und zugleich politisch bedeutend" war. Wir haben den
Sinn unserer Einigung nicht verstanden. Und wir haben die Tatsache der Eini¬
gung nicht vertragen. Vielleicht kam sie zu schnell und endete deshalb
so bald. Vielleicht hätte die Zeit des deutschen Zollvereins und wiederum
die des Norddeutschen Bundes, als eine Zeit der Vorbereitung, länger
dauern müssen. Statt dessen drängte sich nun in einem Menschenalter an Ent¬
wicklung zusammen, wozu ein Jahrhundert und mehr gehört haben würde. Wir
waren für die Stunde von 1870 bereit, aber nicht für die Spanne von 1872
bis 1914. Und gerade in dieser Zeit wurde die Grundlage, auf der unsere
politische Einheit ruhen sollte, von der kulturellen Seite her gesprengt. Wir
vernachlässigten uns geistig. Wir wurden unsere eigenen Nachgeborenen. An
den Gründerjahren sind wir schließlich zugrunde gegangen. Nun hatten wir
endlich ein Vaterland bekommen. Aber wir verloren darüber den Zusammenhang
mit dem Mutterlande. Wir wurden Reichsdeutsche. Aber es blieb ein leerer
unwirscher frostiger Begriff. Die Nation fühlte sich in ihm und fühlte sich wohl.
Doch der Begriff des Vaterlandes selbst erfüllte das Versprechen nicht, das uns
mit ihm gegeben worden war. Er wurde ein Wort ohne Durchdringung. Wir
waren gar keine Nation. Wir sprachen wohl davon, daß wir jetzt eine politisierte
Nation werden müßten. Aber wir versäumten darüber, zunächst einmal eine
nationalisierte Nation zu werden. Wir waren zu bequem, politische Gedanken
zu Ende zu denken, wie man dies von einem philosophischen Volke hätte erwarten
sollen, das wir bis dahin gewesen waren. Wir glaubten unserer politischen
Denkpflicht vollauf genügt zu haben, wenn wir für Äußerlichkeiten, für formale
Demokratie, Parlamentarisierung und sonstige Westlichkeiten ein uns vor dem


Vaterland und Mutterland

Macchiavell. Der Kaisergedanke dagegen überkam den Deutschen. Er war
kein anderer als der: das Mutterland im Vaterlande aufgehen zu lassen, den
Widerspruch zwischen Volk und Staat aufzuheben und aus beiden eine große
geistige und doch politische Einheit zu bilden. Er überkam uns als Sehnsucht
und überkam uns als Arbeit: als eine Sehnsucht der Deutschen, die sie sich auch
in schwächlich werdender Kaiserzeit niemals nehmen ließen und die-sie immer mit
dem Glauben an das letzte, das dritte, das Erdreich auf Erden verbanden —
und als die Arbeit der Preußen, die zunächst einmal das Leben des Volkes fest
auf einem Leben im Staate begründeten.

Der Versuch, Arbeit und Sehnsucht zu verbinden, durch Preußen zu
Deutschland zu gelangen, das Vaterland und das Mutterland eines werden zu
lassen, ist heute gescheitert. Aber das Problem bleibt. Wenn ein oberflächliches
Volk zusammenbricht, dann sucht es wohl Schuldige. Es wird sie mit Leichtigkeit
in Personen, in Zuständen, in besonderen, jenachdem betastenden oder ent¬
lastenden Umständen finden. Soweit wir vom Westen mit seiner Denkweise seine
Oberflächlichkeit übernommen haben und auch bei uns die triumphierende Bestie
einer Demagogie aufhenke, der Massenjustiz nach Gemeinplätzen alles ist und die
von inneren seelischen tragischen Schicksalszusammenhängen nichts weiß und nichts
wissen will, übernehmen wir bereits diese Gepflogenheiten. Aber eine Nation,
die den Stolz der Selbstverantwortung besitzt, wird den Grund nicht außer sich,
sondern in sich suchen.

Es ist gar nicht wahr, daß wir vor dem Kriege eine Nation gewesen sind,
die „kulturell bedeutend und zugleich politisch bedeutend" war. Wir haben den
Sinn unserer Einigung nicht verstanden. Und wir haben die Tatsache der Eini¬
gung nicht vertragen. Vielleicht kam sie zu schnell und endete deshalb
so bald. Vielleicht hätte die Zeit des deutschen Zollvereins und wiederum
die des Norddeutschen Bundes, als eine Zeit der Vorbereitung, länger
dauern müssen. Statt dessen drängte sich nun in einem Menschenalter an Ent¬
wicklung zusammen, wozu ein Jahrhundert und mehr gehört haben würde. Wir
waren für die Stunde von 1870 bereit, aber nicht für die Spanne von 1872
bis 1914. Und gerade in dieser Zeit wurde die Grundlage, auf der unsere
politische Einheit ruhen sollte, von der kulturellen Seite her gesprengt. Wir
vernachlässigten uns geistig. Wir wurden unsere eigenen Nachgeborenen. An
den Gründerjahren sind wir schließlich zugrunde gegangen. Nun hatten wir
endlich ein Vaterland bekommen. Aber wir verloren darüber den Zusammenhang
mit dem Mutterlande. Wir wurden Reichsdeutsche. Aber es blieb ein leerer
unwirscher frostiger Begriff. Die Nation fühlte sich in ihm und fühlte sich wohl.
Doch der Begriff des Vaterlandes selbst erfüllte das Versprechen nicht, das uns
mit ihm gegeben worden war. Er wurde ein Wort ohne Durchdringung. Wir
waren gar keine Nation. Wir sprachen wohl davon, daß wir jetzt eine politisierte
Nation werden müßten. Aber wir versäumten darüber, zunächst einmal eine
nationalisierte Nation zu werden. Wir waren zu bequem, politische Gedanken
zu Ende zu denken, wie man dies von einem philosophischen Volke hätte erwarten
sollen, das wir bis dahin gewesen waren. Wir glaubten unserer politischen
Denkpflicht vollauf genügt zu haben, wenn wir für Äußerlichkeiten, für formale
Demokratie, Parlamentarisierung und sonstige Westlichkeiten ein uns vor dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/83>, abgerufen am 22.12.2024.