Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.Vaterland und Mutterland heraustreten und deren Anerkennung fordern, bekommen sie Vaterländer. Aber Das Schicksal des deutschen Volkes war immer zwischen Mutterland und 6*
Vaterland und Mutterland heraustreten und deren Anerkennung fordern, bekommen sie Vaterländer. Aber Das Schicksal des deutschen Volkes war immer zwischen Mutterland und 6*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0081" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336926"/> <fw type="header" place="top"> Vaterland und Mutterland</fw><lb/> <p xml:id="ID_229" prev="#ID_228"> heraustreten und deren Anerkennung fordern, bekommen sie Vaterländer. Aber<lb/> auch dann noch unterscheidet die Völker, ob sie dem Mutterlande nahe bleiben,<lb/> oder ob sie die Verbindung mit dem Boden aufheben und nur Staat sein wollen,<lb/> Völker, die ein Mutterland haben, können von politischen Nationen besiegt, unter¬<lb/> worfen, vorübergehend beherrscht werden. Aber sie bleiben immer irgendwie<lb/> unanrührbar. Dies erklärt ihre Langlebigkeit. Das Leben einer politischen Nation<lb/> reicht niemals weiter, als ihre Macht reicht. Das Leben einer mythischen Nation<lb/> währt, solange der Mensch währt. Auch der Mythos kann schließlich zu<lb/> einer Tradition werden, in der die Menschen an Persönlichkeit verlieren und<lb/> nur als Massenwesen die mütterliche Erde bevölkern. Doch das Volk lebt. China<lb/> lebt. Und Nußland überdauert. Solche Völker scheinen zur Zeit die Ewigkeit be¬<lb/> kommen zu haben. Politische Nationen dagegen geben sich vor ihrer Zeit aus,<lb/> Ihre Menschen stehen unter den Zwangläufigkeiten der von ihnen eingeschlagenen<lb/> Entwicklung und drängen im vorbestimmten Kreislaufe ihrer politischen Möglich<lb/> leiten selbst auf ein Ende hin. Wenn eine politische Nation einmal zusammen¬<lb/> bricht, dann scheidet ihr Vaterland aus der Geschichte: endgültig. Aus Mutter<lb/> läutern aber wächst Leben nach: immer wieder. Die römische Herrschaft hat nur<lb/> sieben Jahrhunderte gedauert. Die Herrschaft der Engländer, die heute vier¬<lb/> hundertjährig ist und in dem Augenblicke begann, als England seinen Fuß aus Frank¬<lb/> reich zurückzog und dafür seinen Arm über die Weltmeere greifen ließ, wird viel-<lb/> leicht noch nicht einmal so lange dauern. Die englische Grundlage ist dünner,<lb/> als die römische war. Römische Provinzen waren immer noch Teile eines<lb/> zusammenhängenden Vaterlandes. Britische Dominions sind bereits heute ein<lb/> Wille vom selbständigen Vaterlande oder Mutterlande. Der Römer war ge¬<lb/> drungene Kraft, die in Legionen marschierte. Der Engländer ist Mensch einer<lb/> Insel und wirft bereits einen hageren und einsamen Schatten. Er wird völlig<lb/> verschwinden, wenn jenes „Ende des kolonialpolitischen Zeitalters" hereinbricht,<lb/> das während des Weltkrieges berufen wurde und das der Ausgang des Weltkrieges nur<lb/> beschleunigen kann — wenn es sich mit jenem anderen Ereignis verbindet, das die<lb/> Verkündung des Nabindranath Tagore aussprach: wenn der Osten den „Geist<lb/> Japans" aufnimmt, wenn der Bolschewismus den Himalaya überschreitet und das<lb/> Mutterland Asien endlich zum Vaterland aller Asiaten werden will. Dann wird<lb/> London kein Mittelpunkt mehr sein. Und England ist nur ein Kreidefelsen.</p><lb/> <p xml:id="ID_230" next="#ID_231"> Das Schicksal des deutschen Volkes war immer zwischen Mutterland und<lb/> Vaterland geteilt. In dieser gewaltigsten aller Polaritäten hat unser Dualismus,<lb/> der Symbol unseres nationalen Charakters ist, seine menschliche Wurzel. Neben<lb/> Deutschen mit weiblichen empfindsamen bildenden Kräften, die im Unwirklichen<lb/> auch dann lebten, wenn sie ihm eine feine oder wilde Gestalt gaben, traten immer<lb/> wieder Deutsche mit einer männlichen starken klaren Entschlußkraft hervor, die<lb/> das Wirkliche wollten. Eifer für Deutschland trieb sie, echte politische Leidenschaft,<lb/> die es nicht duldete, daß ein wichtiges und wertvolles Volk noch seinem Range<lb/> und Ansehen verachtet unter den Völkern dahinleben sollte. Also wurde das<lb/> Volk einer großen Geistesgeschichte das Volk einer großen Kaisergeschichte. In<lb/> der Doppelung aller Werte, die sich daraus .ergaben, hat dann der Reichtum<lb/> unserer Geschichte gelegen, die schon früh den Sänger neben den Ritter, die<lb/> wieder den Reformator neben den Humanisten und die schließlich den Weltweisen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 6*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0081]
Vaterland und Mutterland
heraustreten und deren Anerkennung fordern, bekommen sie Vaterländer. Aber
auch dann noch unterscheidet die Völker, ob sie dem Mutterlande nahe bleiben,
oder ob sie die Verbindung mit dem Boden aufheben und nur Staat sein wollen,
Völker, die ein Mutterland haben, können von politischen Nationen besiegt, unter¬
worfen, vorübergehend beherrscht werden. Aber sie bleiben immer irgendwie
unanrührbar. Dies erklärt ihre Langlebigkeit. Das Leben einer politischen Nation
reicht niemals weiter, als ihre Macht reicht. Das Leben einer mythischen Nation
währt, solange der Mensch währt. Auch der Mythos kann schließlich zu
einer Tradition werden, in der die Menschen an Persönlichkeit verlieren und
nur als Massenwesen die mütterliche Erde bevölkern. Doch das Volk lebt. China
lebt. Und Nußland überdauert. Solche Völker scheinen zur Zeit die Ewigkeit be¬
kommen zu haben. Politische Nationen dagegen geben sich vor ihrer Zeit aus,
Ihre Menschen stehen unter den Zwangläufigkeiten der von ihnen eingeschlagenen
Entwicklung und drängen im vorbestimmten Kreislaufe ihrer politischen Möglich
leiten selbst auf ein Ende hin. Wenn eine politische Nation einmal zusammen¬
bricht, dann scheidet ihr Vaterland aus der Geschichte: endgültig. Aus Mutter
läutern aber wächst Leben nach: immer wieder. Die römische Herrschaft hat nur
sieben Jahrhunderte gedauert. Die Herrschaft der Engländer, die heute vier¬
hundertjährig ist und in dem Augenblicke begann, als England seinen Fuß aus Frank¬
reich zurückzog und dafür seinen Arm über die Weltmeere greifen ließ, wird viel-
leicht noch nicht einmal so lange dauern. Die englische Grundlage ist dünner,
als die römische war. Römische Provinzen waren immer noch Teile eines
zusammenhängenden Vaterlandes. Britische Dominions sind bereits heute ein
Wille vom selbständigen Vaterlande oder Mutterlande. Der Römer war ge¬
drungene Kraft, die in Legionen marschierte. Der Engländer ist Mensch einer
Insel und wirft bereits einen hageren und einsamen Schatten. Er wird völlig
verschwinden, wenn jenes „Ende des kolonialpolitischen Zeitalters" hereinbricht,
das während des Weltkrieges berufen wurde und das der Ausgang des Weltkrieges nur
beschleunigen kann — wenn es sich mit jenem anderen Ereignis verbindet, das die
Verkündung des Nabindranath Tagore aussprach: wenn der Osten den „Geist
Japans" aufnimmt, wenn der Bolschewismus den Himalaya überschreitet und das
Mutterland Asien endlich zum Vaterland aller Asiaten werden will. Dann wird
London kein Mittelpunkt mehr sein. Und England ist nur ein Kreidefelsen.
Das Schicksal des deutschen Volkes war immer zwischen Mutterland und
Vaterland geteilt. In dieser gewaltigsten aller Polaritäten hat unser Dualismus,
der Symbol unseres nationalen Charakters ist, seine menschliche Wurzel. Neben
Deutschen mit weiblichen empfindsamen bildenden Kräften, die im Unwirklichen
auch dann lebten, wenn sie ihm eine feine oder wilde Gestalt gaben, traten immer
wieder Deutsche mit einer männlichen starken klaren Entschlußkraft hervor, die
das Wirkliche wollten. Eifer für Deutschland trieb sie, echte politische Leidenschaft,
die es nicht duldete, daß ein wichtiges und wertvolles Volk noch seinem Range
und Ansehen verachtet unter den Völkern dahinleben sollte. Also wurde das
Volk einer großen Geistesgeschichte das Volk einer großen Kaisergeschichte. In
der Doppelung aller Werte, die sich daraus .ergaben, hat dann der Reichtum
unserer Geschichte gelegen, die schon früh den Sänger neben den Ritter, die
wieder den Reformator neben den Humanisten und die schließlich den Weltweisen
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