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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Wirtschaftlicher Grenzschutz West

Heute hat sich das Bild gewendet. An die Stelle der bewaffneten Ostgefahr
ist die schleichende Wirtschaftsgefahr im Westen getreten. Wir haben gegen den
Westen keine Grenzen, und durch das ungeheure Loch in unserer Westgrenze
ergießen sich die Warenmassen Frankreichs, Englands, Amerikas und ihrer Mit¬
läufer. Parfüms. Zigaretten und andere lächerliche Merflüssigkeiten (Zigaretten
für über fünf Milliarden Mary sind durch die westlichen Besatzungszonen in
ungeheuren Mengen .und für gewaltige Beträge nach Deutschland eingeführt.
Die Zigaretten haben ihre kolonienbeglückende Aufgabe erfüllt. Gerade das
niedere Volk raucht die Opiate mit Vorliebe: die Folgen bleiben nicht aus.

Aber während massenhaft unerbetene Luxusgegenstände einströmen, die selbst
eine gesunde Volkswirtschaft nicht ertragen könnte, strömt in täglich wachsendem
Zuge das Mark des deutschen Waren- und Materialvermögens ins Ausland, das
die Mark als ihren geldscheinlichen oder besser scheingeldlichen Gegenwert achsel¬
zuckend ablehnt. "Dumping", sagt händereibend daS auslaufende Ausland --
"Dumping" bestätigt der derzeitige, erste amtliche Finanz-"Fach"manu dieses furcht¬
bare Bild eines weltgeschichtlich unerhörten Konkursausverkaufs. Und doch wird
gerade Erzberger es sein, dessen schnelles Wort und schlagfertige Einstellung zu
den Sorgenfragen im Reichsministerium Initiative und Beschluß verkörperte, der
die Auslieferung unseres Hafcnmaterials sowie alle anderen Auslieferungen --
es stehen ja auch noch solche von ersten Wirtschaftsfachleuten zu erwarten --
nicht wird verhindern können. Daß dann die Eid- und Weserhäfen versanden
und England mit seinem Plane, aus Köln einen mitteleuropäischen, der See¬
schiffahrt zugänglichen Umschlaghafen ersten Ranges zu machen, voran kommt
scheint vorläufig bei der EinsUllung auf den politischen und finanzpolitischen
Tageskampf bei aller GedankeMle nicht bedacht. Wir glauben weder an die
Aufrichtigkeit noch an den Ernst von Vorschlägen bisheriger Feindbünde, die
dahin gehen, die "internationale Valutamistre" international (durch Gemeinschafts-
Anleihen, Moratorien oder ähnliches) zu heilen. Denn angesichts der Ausbeutungs¬
möglichkeiten an Rohstoffen und Absatz, die das fast unter absoluter Parallelität
der Verhältnisse zum Ruin gekommene Rußland heute den Ententeländern bietet,
wird der westliche Kapitalismus sich die Ausbeutung eines Landes, das nach
Zerstörung' wirtschaftlicher Selbständigkeit zum bezahlten Unternehmer und Arbeiter
herabsinkt, nicht ohne Not nehmen lassen. Und eine solche Not vermögen wir bei
den Westländern nicht zu erkennen, es sei denn, daß man Not mit der Sorge vor
einem von Deutschland aus die Welt erfassender Bolschewismus gleichstellt.

Die heutige finanzwirtschaftliche Führung des Reiches ist statt auf um¬
fassende und weitsichtige, vielmehr auf Tagesmaßnahmen eingestellt und -- vielleicht
und recht viae eigenes Verschulden -- angewiesen.

Ein Minister, der deutsche Finanzminister Mathias Erzberger, geht und
fragt den Bankier Jakob Landau aus Kiew um seinen Rat, der ihm beim ReichS-
notopfer schon von ähnlicher Seite -- dem Redakteur Goldberg von der in Berlin
erscheinenden "Golos Rossii" -- zuteil wurde. Der wohl zeitgemäße aber ruinöse
Rat hieß: Ausschreibung einer Sparprämienanleihe, Ausnutzung der mit allen
propagandistischen Mitteln aufzustachelnden Gewinnsucht. In des Reiches Not
riefen die Verantwortlicher zur Kriegsanleihe mit der Mahnung: Wer zeichnet,
hilft dem Vaterlande. In des Vaterlands Verelendung sagt der "Reklamechef"
des Reichsfinanzministers: Wer Sparprämienanleihe zeichnet -- gewinnt I

Eine 5-Milliardenanleihe, die heute dem Reiche 3.3 Milliarden Mark bringt,
ist eine Tayesmaßnahme und nicht geeignet, angesichts der im Oktober 1919 auf
über 50 Millionen Mark Noten Tagesproduktion angestiegenen phantastischen
Papiergeldschuld den Großbedarf nur im Geringsten zu beeinflussen. Wir fechten
weiter. Der Kampf geht wieder um eine Selbsterhaltung. Todbedroht ist die
deutsche Wirtschaft, nicht für, sondern gegen sie haben vereinigte Parteieigensucht
und sachliche Unzulänglichkeit das Neichsnotopfer beschlossen. Man schneidet der
Milchkuh -- und das waren die produzierenden Kräfte der deutschen Wirtschaft für
die Steuerbedürfnisse des Deutschen Reiches und seiner Einzelstaaten -- das Euter
vom Leibe und man wird sich dann später wundern, wenn statt der Milch Blut fließt.


Wirtschaftlicher Grenzschutz West

Heute hat sich das Bild gewendet. An die Stelle der bewaffneten Ostgefahr
ist die schleichende Wirtschaftsgefahr im Westen getreten. Wir haben gegen den
Westen keine Grenzen, und durch das ungeheure Loch in unserer Westgrenze
ergießen sich die Warenmassen Frankreichs, Englands, Amerikas und ihrer Mit¬
läufer. Parfüms. Zigaretten und andere lächerliche Merflüssigkeiten (Zigaretten
für über fünf Milliarden Mary sind durch die westlichen Besatzungszonen in
ungeheuren Mengen .und für gewaltige Beträge nach Deutschland eingeführt.
Die Zigaretten haben ihre kolonienbeglückende Aufgabe erfüllt. Gerade das
niedere Volk raucht die Opiate mit Vorliebe: die Folgen bleiben nicht aus.

Aber während massenhaft unerbetene Luxusgegenstände einströmen, die selbst
eine gesunde Volkswirtschaft nicht ertragen könnte, strömt in täglich wachsendem
Zuge das Mark des deutschen Waren- und Materialvermögens ins Ausland, das
die Mark als ihren geldscheinlichen oder besser scheingeldlichen Gegenwert achsel¬
zuckend ablehnt. „Dumping", sagt händereibend daS auslaufende Ausland —
„Dumping" bestätigt der derzeitige, erste amtliche Finanz-„Fach"manu dieses furcht¬
bare Bild eines weltgeschichtlich unerhörten Konkursausverkaufs. Und doch wird
gerade Erzberger es sein, dessen schnelles Wort und schlagfertige Einstellung zu
den Sorgenfragen im Reichsministerium Initiative und Beschluß verkörperte, der
die Auslieferung unseres Hafcnmaterials sowie alle anderen Auslieferungen —
es stehen ja auch noch solche von ersten Wirtschaftsfachleuten zu erwarten —
nicht wird verhindern können. Daß dann die Eid- und Weserhäfen versanden
und England mit seinem Plane, aus Köln einen mitteleuropäischen, der See¬
schiffahrt zugänglichen Umschlaghafen ersten Ranges zu machen, voran kommt
scheint vorläufig bei der EinsUllung auf den politischen und finanzpolitischen
Tageskampf bei aller GedankeMle nicht bedacht. Wir glauben weder an die
Aufrichtigkeit noch an den Ernst von Vorschlägen bisheriger Feindbünde, die
dahin gehen, die „internationale Valutamistre" international (durch Gemeinschafts-
Anleihen, Moratorien oder ähnliches) zu heilen. Denn angesichts der Ausbeutungs¬
möglichkeiten an Rohstoffen und Absatz, die das fast unter absoluter Parallelität
der Verhältnisse zum Ruin gekommene Rußland heute den Ententeländern bietet,
wird der westliche Kapitalismus sich die Ausbeutung eines Landes, das nach
Zerstörung' wirtschaftlicher Selbständigkeit zum bezahlten Unternehmer und Arbeiter
herabsinkt, nicht ohne Not nehmen lassen. Und eine solche Not vermögen wir bei
den Westländern nicht zu erkennen, es sei denn, daß man Not mit der Sorge vor
einem von Deutschland aus die Welt erfassender Bolschewismus gleichstellt.

Die heutige finanzwirtschaftliche Führung des Reiches ist statt auf um¬
fassende und weitsichtige, vielmehr auf Tagesmaßnahmen eingestellt und — vielleicht
und recht viae eigenes Verschulden — angewiesen.

Ein Minister, der deutsche Finanzminister Mathias Erzberger, geht und
fragt den Bankier Jakob Landau aus Kiew um seinen Rat, der ihm beim ReichS-
notopfer schon von ähnlicher Seite — dem Redakteur Goldberg von der in Berlin
erscheinenden „Golos Rossii" — zuteil wurde. Der wohl zeitgemäße aber ruinöse
Rat hieß: Ausschreibung einer Sparprämienanleihe, Ausnutzung der mit allen
propagandistischen Mitteln aufzustachelnden Gewinnsucht. In des Reiches Not
riefen die Verantwortlicher zur Kriegsanleihe mit der Mahnung: Wer zeichnet,
hilft dem Vaterlande. In des Vaterlands Verelendung sagt der „Reklamechef"
des Reichsfinanzministers: Wer Sparprämienanleihe zeichnet — gewinnt I

Eine 5-Milliardenanleihe, die heute dem Reiche 3.3 Milliarden Mark bringt,
ist eine Tayesmaßnahme und nicht geeignet, angesichts der im Oktober 1919 auf
über 50 Millionen Mark Noten Tagesproduktion angestiegenen phantastischen
Papiergeldschuld den Großbedarf nur im Geringsten zu beeinflussen. Wir fechten
weiter. Der Kampf geht wieder um eine Selbsterhaltung. Todbedroht ist die
deutsche Wirtschaft, nicht für, sondern gegen sie haben vereinigte Parteieigensucht
und sachliche Unzulänglichkeit das Neichsnotopfer beschlossen. Man schneidet der
Milchkuh — und das waren die produzierenden Kräfte der deutschen Wirtschaft für
die Steuerbedürfnisse des Deutschen Reiches und seiner Einzelstaaten — das Euter
vom Leibe und man wird sich dann später wundern, wenn statt der Milch Blut fließt.


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[0045] Wirtschaftlicher Grenzschutz West Heute hat sich das Bild gewendet. An die Stelle der bewaffneten Ostgefahr ist die schleichende Wirtschaftsgefahr im Westen getreten. Wir haben gegen den Westen keine Grenzen, und durch das ungeheure Loch in unserer Westgrenze ergießen sich die Warenmassen Frankreichs, Englands, Amerikas und ihrer Mit¬ läufer. Parfüms. Zigaretten und andere lächerliche Merflüssigkeiten (Zigaretten für über fünf Milliarden Mary sind durch die westlichen Besatzungszonen in ungeheuren Mengen .und für gewaltige Beträge nach Deutschland eingeführt. Die Zigaretten haben ihre kolonienbeglückende Aufgabe erfüllt. Gerade das niedere Volk raucht die Opiate mit Vorliebe: die Folgen bleiben nicht aus. Aber während massenhaft unerbetene Luxusgegenstände einströmen, die selbst eine gesunde Volkswirtschaft nicht ertragen könnte, strömt in täglich wachsendem Zuge das Mark des deutschen Waren- und Materialvermögens ins Ausland, das die Mark als ihren geldscheinlichen oder besser scheingeldlichen Gegenwert achsel¬ zuckend ablehnt. „Dumping", sagt händereibend daS auslaufende Ausland — „Dumping" bestätigt der derzeitige, erste amtliche Finanz-„Fach"manu dieses furcht¬ bare Bild eines weltgeschichtlich unerhörten Konkursausverkaufs. Und doch wird gerade Erzberger es sein, dessen schnelles Wort und schlagfertige Einstellung zu den Sorgenfragen im Reichsministerium Initiative und Beschluß verkörperte, der die Auslieferung unseres Hafcnmaterials sowie alle anderen Auslieferungen — es stehen ja auch noch solche von ersten Wirtschaftsfachleuten zu erwarten — nicht wird verhindern können. Daß dann die Eid- und Weserhäfen versanden und England mit seinem Plane, aus Köln einen mitteleuropäischen, der See¬ schiffahrt zugänglichen Umschlaghafen ersten Ranges zu machen, voran kommt scheint vorläufig bei der EinsUllung auf den politischen und finanzpolitischen Tageskampf bei aller GedankeMle nicht bedacht. Wir glauben weder an die Aufrichtigkeit noch an den Ernst von Vorschlägen bisheriger Feindbünde, die dahin gehen, die „internationale Valutamistre" international (durch Gemeinschafts- Anleihen, Moratorien oder ähnliches) zu heilen. Denn angesichts der Ausbeutungs¬ möglichkeiten an Rohstoffen und Absatz, die das fast unter absoluter Parallelität der Verhältnisse zum Ruin gekommene Rußland heute den Ententeländern bietet, wird der westliche Kapitalismus sich die Ausbeutung eines Landes, das nach Zerstörung' wirtschaftlicher Selbständigkeit zum bezahlten Unternehmer und Arbeiter herabsinkt, nicht ohne Not nehmen lassen. Und eine solche Not vermögen wir bei den Westländern nicht zu erkennen, es sei denn, daß man Not mit der Sorge vor einem von Deutschland aus die Welt erfassender Bolschewismus gleichstellt. Die heutige finanzwirtschaftliche Führung des Reiches ist statt auf um¬ fassende und weitsichtige, vielmehr auf Tagesmaßnahmen eingestellt und — vielleicht und recht viae eigenes Verschulden — angewiesen. Ein Minister, der deutsche Finanzminister Mathias Erzberger, geht und fragt den Bankier Jakob Landau aus Kiew um seinen Rat, der ihm beim ReichS- notopfer schon von ähnlicher Seite — dem Redakteur Goldberg von der in Berlin erscheinenden „Golos Rossii" — zuteil wurde. Der wohl zeitgemäße aber ruinöse Rat hieß: Ausschreibung einer Sparprämienanleihe, Ausnutzung der mit allen propagandistischen Mitteln aufzustachelnden Gewinnsucht. In des Reiches Not riefen die Verantwortlicher zur Kriegsanleihe mit der Mahnung: Wer zeichnet, hilft dem Vaterlande. In des Vaterlands Verelendung sagt der „Reklamechef" des Reichsfinanzministers: Wer Sparprämienanleihe zeichnet — gewinnt I Eine 5-Milliardenanleihe, die heute dem Reiche 3.3 Milliarden Mark bringt, ist eine Tayesmaßnahme und nicht geeignet, angesichts der im Oktober 1919 auf über 50 Millionen Mark Noten Tagesproduktion angestiegenen phantastischen Papiergeldschuld den Großbedarf nur im Geringsten zu beeinflussen. Wir fechten weiter. Der Kampf geht wieder um eine Selbsterhaltung. Todbedroht ist die deutsche Wirtschaft, nicht für, sondern gegen sie haben vereinigte Parteieigensucht und sachliche Unzulänglichkeit das Neichsnotopfer beschlossen. Man schneidet der Milchkuh — und das waren die produzierenden Kräfte der deutschen Wirtschaft für die Steuerbedürfnisse des Deutschen Reiches und seiner Einzelstaaten — das Euter vom Leibe und man wird sich dann später wundern, wenn statt der Milch Blut fließt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/45>, abgerufen am 01.09.2024.