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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Weltspiegel

Schöpfertum das Neue zu fordern, nicht aber denen, die das Klassische lieben und
sich die Freude daran nicht nehmen lassen. Ehrfurcht und Hingabe, die alle
große Musik von denen fordert, die ihr Geheimnis erleben wollen, werden diesen
letzteren leichter und natürliche? sein als jenen. Und besinnen wir uns zuletzt
darauf, daß über allem Streit um die Musik diese selber ungetrübt und sich selbst
genug verharrt, und daß aller Widerstreit der Meinungen nicht an diese ihre
geheime, zwiefache Macht heranreicht, die wir vielleicht mit den Goethescher Versen
ausdrücken dürfen:




Weltspiegel

Indien. Am 23. Dezember sprach sich Clemenceau in seiner großen Kammer¬
rede in schärfsten Ausdrücken gegen jedes Verhandeln mit der russischen Sowjet-
regiemng aus. nachdem im Anschluß an verschiedene Londoner Konferenzen Lloyd
George am 16. Dezember im Unterhaus die Einigkeit der Alliierten hinsichtlich
ihrer Stellungnahme zu Sowjetrußland betont hatte. Aber die schon Anfang
Februar erfolgte Ankündigung der englischen Negierung, daß England Polen
nicht mehr gegen die Bolschewismen unterstützen könne, die dann am 17. Februar
vom Obersten Alliiertenrat als für alle Alliierten bindend erklärt und am 23. Fe¬
bruar erneut bestätigt wurde, macht den inzwischen erfolgten entschiedenen Um¬
schwung der englischen Weltpolitik deutlich.

Hätte man in England schon vorher die Absicht gehabt einzulenken, so
hätte man es unstreitig zu verhindern gewußt, daß Clemenceau, der bis zu einem
gewissen Grabe ja im Namen der Entente sprach, sich unrettbar festlegte (und es
kann aus vielerlei Gründen nicht Englands Absicht gewesen sein, Clemenceau
bloßzustellen). Mit welcher Gewalt der Umschwung erfolgt ist, läßt sich daraus
entnehmen, daß er von einer Reihe schwerwiegender Maßnahmen begleitet
wurde. So wurde der Admiral Jellicoe am 21. Januar telegraphisch von einer
Südamerika-Reise zurückberufen, Churchill und Walter Long zu dringenden Be¬
sprechungen beordert, alle verfügbaren britischen Kriegsschiffe ins Mittelmeer ge¬
sandt. Zwischen dem 23. Dezember und dem 17. Januar müssen also der eng¬
lischen Negierung Nachrichten und Erwägungen von ganz besonderem Gewicht
zugekommen sein, und da wir wissen, daß der Vizekönig von Indien im Januar
lange und äußerst wichtige Depeschen nach England gesandt hat und seit etwa
zwei Monaten englische Zeitungen, die sich sonst nur mit indischen Reformfragen
SU beschäftigen Pflegen, mit einemmal über Unruhen und Grenzkämpfe ge¬
sprächiger geworden sind und von unverkennbarem Ernst der Lage reden, so darf
man, zumal die Engländer im ersten Augenblick offensichtlich versucht haben, eine
militärische Stellung im Kaukasus zu beziehen, annehmen, daß diese Nachrichten,
die so folgenschwere Entschlüsse auslösten, sich im wesentlichen auf die Gefahr der
Ausbreitung des Bolschewismus nach Indien bezogen haben.

Von Unruhen in Indien hört der deutsche Leser im allgemeinen nicht mehr
gern. Er ist während des Krieges so oft mit indischen Aufständen und drohender
indischer Revolution vertröstet worden, daß er nicht mehr geneigt ist, Angaben
über solche Möglichkeiten Glauben zu schenken. Aber so richtig es auch ist. daß
die Bedeutung vereinzelter bekannt werdender Vorkommnisse von der deutschen


Weltspiegel

Schöpfertum das Neue zu fordern, nicht aber denen, die das Klassische lieben und
sich die Freude daran nicht nehmen lassen. Ehrfurcht und Hingabe, die alle
große Musik von denen fordert, die ihr Geheimnis erleben wollen, werden diesen
letzteren leichter und natürliche? sein als jenen. Und besinnen wir uns zuletzt
darauf, daß über allem Streit um die Musik diese selber ungetrübt und sich selbst
genug verharrt, und daß aller Widerstreit der Meinungen nicht an diese ihre
geheime, zwiefache Macht heranreicht, die wir vielleicht mit den Goethescher Versen
ausdrücken dürfen:




Weltspiegel

Indien. Am 23. Dezember sprach sich Clemenceau in seiner großen Kammer¬
rede in schärfsten Ausdrücken gegen jedes Verhandeln mit der russischen Sowjet-
regiemng aus. nachdem im Anschluß an verschiedene Londoner Konferenzen Lloyd
George am 16. Dezember im Unterhaus die Einigkeit der Alliierten hinsichtlich
ihrer Stellungnahme zu Sowjetrußland betont hatte. Aber die schon Anfang
Februar erfolgte Ankündigung der englischen Negierung, daß England Polen
nicht mehr gegen die Bolschewismen unterstützen könne, die dann am 17. Februar
vom Obersten Alliiertenrat als für alle Alliierten bindend erklärt und am 23. Fe¬
bruar erneut bestätigt wurde, macht den inzwischen erfolgten entschiedenen Um¬
schwung der englischen Weltpolitik deutlich.

Hätte man in England schon vorher die Absicht gehabt einzulenken, so
hätte man es unstreitig zu verhindern gewußt, daß Clemenceau, der bis zu einem
gewissen Grabe ja im Namen der Entente sprach, sich unrettbar festlegte (und es
kann aus vielerlei Gründen nicht Englands Absicht gewesen sein, Clemenceau
bloßzustellen). Mit welcher Gewalt der Umschwung erfolgt ist, läßt sich daraus
entnehmen, daß er von einer Reihe schwerwiegender Maßnahmen begleitet
wurde. So wurde der Admiral Jellicoe am 21. Januar telegraphisch von einer
Südamerika-Reise zurückberufen, Churchill und Walter Long zu dringenden Be¬
sprechungen beordert, alle verfügbaren britischen Kriegsschiffe ins Mittelmeer ge¬
sandt. Zwischen dem 23. Dezember und dem 17. Januar müssen also der eng¬
lischen Negierung Nachrichten und Erwägungen von ganz besonderem Gewicht
zugekommen sein, und da wir wissen, daß der Vizekönig von Indien im Januar
lange und äußerst wichtige Depeschen nach England gesandt hat und seit etwa
zwei Monaten englische Zeitungen, die sich sonst nur mit indischen Reformfragen
SU beschäftigen Pflegen, mit einemmal über Unruhen und Grenzkämpfe ge¬
sprächiger geworden sind und von unverkennbarem Ernst der Lage reden, so darf
man, zumal die Engländer im ersten Augenblick offensichtlich versucht haben, eine
militärische Stellung im Kaukasus zu beziehen, annehmen, daß diese Nachrichten,
die so folgenschwere Entschlüsse auslösten, sich im wesentlichen auf die Gefahr der
Ausbreitung des Bolschewismus nach Indien bezogen haben.

Von Unruhen in Indien hört der deutsche Leser im allgemeinen nicht mehr
gern. Er ist während des Krieges so oft mit indischen Aufständen und drohender
indischer Revolution vertröstet worden, daß er nicht mehr geneigt ist, Angaben
über solche Möglichkeiten Glauben zu schenken. Aber so richtig es auch ist. daß
die Bedeutung vereinzelter bekannt werdender Vorkommnisse von der deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/379>, abgerufen am 27.07.2024.