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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Grenzdeutschtum

von sich absperren. Und neben dieser Flucht in die Enge gibt es die Flucht
in die Tiefe, den Weg mystischer Vereinsamung, kultureller oder religiöser
Schwärmerei. Das Dtchter-Denker-Dachstübchen wird wieder zu Ehren kommen,
wie es den alten deutschen Eigenbrötler umhegte, der sich aus allem empirischen
Drange in ein idealistisches Wolkenkuckucksheim rettete. Je lauter die sozialistischen
Parolen in unseren Ohren gellen, desto mehr wird in Wirklichkeit der Indivi¬
dualismus wieder eine Gefahr. Alle überwundenen nationalen Fehler, aus
denen heraus uns Jahrhunderte lang politisches Elend erwuchs, werden, da sie
eben überwunden erschienen, aufs neue die deutsche Zukunft bedrohen. Es wird
unermüdlicher Mahnungen bedürfen, damit nicht diese allgemeine Abkehr vom
Gemeinschicksal zu einer völligen Zersetzung der Volksgemeinschaft führe, damit
jeder Einzelne um des Heiles des Ganzen willen das Kreuz des nationalen
Leidens auf sich nehme. nationaler Frontgeist wird in den nächsten Jahr¬
zehnten mehr als je von uns erfordert werden, keine laute und klirrende
Tapferkeit, sondern stiller, duldender Opfermut, der das Erbe behütet und die
Keime der werdenden Zukunft hegt.

Abkehr von der Veräußerlichung und Aushöhlung des Lebens, Einkehr
in die Tiefen deutschen Geistes und Gemüts tut uns wahrhaft not. Allent¬
halben grinst uns die fürchterlichste Korruption entgegen, die nur noch ein
Erzberger leugnet. Alle kleinen Mittelchen versagen. Nur die Leibwerdung
des zerfallenden Volks ganzen führt uns aus der Zersetzung zur Gesundung.
Leibwerdung der Volksgemeinschaft setzt Solidarität aller Volksgenossen, Jneins-
setzung jedes Einzelnen mit dem Ganzen voraus. Wenn Binnendeutsche und
Grenzdeutsche gelernt haben, eines des anderen Bedrängnisse und Erfolge, Be¬
währung und Versagen, Verzweiflung und Hoffnung wie am eigenen Leibe mit¬
zuempfinden: dann werden wir, was wir heute nur dem Namen und der Er¬
innerung nach sind, wieder in bluthafter Wirklichkeit sein: ein Volk, das durch
Überlieferung und Glauben, durch Schicksal und Wille über die schwankenden
Grenzen der Staaten hinweg zu volleiblicher Einheit verbunden ist. Auch des
Teutschen Reiches Wiederaufstieg ist ohne Gesundung des deutschen Volksleibes
nicht zu denken.

Grenz-Deutschtum: Das Wort hat durch die Not des Krieges und der
Niederlage einen tiefen, schwingenden Klang bekommen, den wir früher nicht
kannten. Wie viele aber haben heute schon seinen tiefen tragischen Sinn, seine
ganze Schwere und Bitterkeit nicht mit dem Kopf allein, sondern mit Herz
und Sinnen erfaßt? Gewiß: die Art und Weise, in der sich breite Schichten
des elsässischen Stammes dem Welschtum in die Arme warfen, weckte bei
uns nicht eben warme Gefühle des Abschieds. Und doch: daß es unter uns
so wenige gibt, die dieses herrliche deutsche Land wirklich kannten, daß seine
Losrei^eng vom Reichskörper so wenig lebendige Empfindungen auflöste: das
ist ein trauriges und beschämendes Zeichen dafür, daß wir trotz des langen
und schweren Kampfes nicht gelernt haben, uns mit dem Schicksal des deutschen


Grenzdeutschtum

von sich absperren. Und neben dieser Flucht in die Enge gibt es die Flucht
in die Tiefe, den Weg mystischer Vereinsamung, kultureller oder religiöser
Schwärmerei. Das Dtchter-Denker-Dachstübchen wird wieder zu Ehren kommen,
wie es den alten deutschen Eigenbrötler umhegte, der sich aus allem empirischen
Drange in ein idealistisches Wolkenkuckucksheim rettete. Je lauter die sozialistischen
Parolen in unseren Ohren gellen, desto mehr wird in Wirklichkeit der Indivi¬
dualismus wieder eine Gefahr. Alle überwundenen nationalen Fehler, aus
denen heraus uns Jahrhunderte lang politisches Elend erwuchs, werden, da sie
eben überwunden erschienen, aufs neue die deutsche Zukunft bedrohen. Es wird
unermüdlicher Mahnungen bedürfen, damit nicht diese allgemeine Abkehr vom
Gemeinschicksal zu einer völligen Zersetzung der Volksgemeinschaft führe, damit
jeder Einzelne um des Heiles des Ganzen willen das Kreuz des nationalen
Leidens auf sich nehme. nationaler Frontgeist wird in den nächsten Jahr¬
zehnten mehr als je von uns erfordert werden, keine laute und klirrende
Tapferkeit, sondern stiller, duldender Opfermut, der das Erbe behütet und die
Keime der werdenden Zukunft hegt.

Abkehr von der Veräußerlichung und Aushöhlung des Lebens, Einkehr
in die Tiefen deutschen Geistes und Gemüts tut uns wahrhaft not. Allent¬
halben grinst uns die fürchterlichste Korruption entgegen, die nur noch ein
Erzberger leugnet. Alle kleinen Mittelchen versagen. Nur die Leibwerdung
des zerfallenden Volks ganzen führt uns aus der Zersetzung zur Gesundung.
Leibwerdung der Volksgemeinschaft setzt Solidarität aller Volksgenossen, Jneins-
setzung jedes Einzelnen mit dem Ganzen voraus. Wenn Binnendeutsche und
Grenzdeutsche gelernt haben, eines des anderen Bedrängnisse und Erfolge, Be¬
währung und Versagen, Verzweiflung und Hoffnung wie am eigenen Leibe mit¬
zuempfinden: dann werden wir, was wir heute nur dem Namen und der Er¬
innerung nach sind, wieder in bluthafter Wirklichkeit sein: ein Volk, das durch
Überlieferung und Glauben, durch Schicksal und Wille über die schwankenden
Grenzen der Staaten hinweg zu volleiblicher Einheit verbunden ist. Auch des
Teutschen Reiches Wiederaufstieg ist ohne Gesundung des deutschen Volksleibes
nicht zu denken.

Grenz-Deutschtum: Das Wort hat durch die Not des Krieges und der
Niederlage einen tiefen, schwingenden Klang bekommen, den wir früher nicht
kannten. Wie viele aber haben heute schon seinen tiefen tragischen Sinn, seine
ganze Schwere und Bitterkeit nicht mit dem Kopf allein, sondern mit Herz
und Sinnen erfaßt? Gewiß: die Art und Weise, in der sich breite Schichten
des elsässischen Stammes dem Welschtum in die Arme warfen, weckte bei
uns nicht eben warme Gefühle des Abschieds. Und doch: daß es unter uns
so wenige gibt, die dieses herrliche deutsche Land wirklich kannten, daß seine
Losrei^eng vom Reichskörper so wenig lebendige Empfindungen auflöste: das
ist ein trauriges und beschämendes Zeichen dafür, daß wir trotz des langen
und schweren Kampfes nicht gelernt haben, uns mit dem Schicksal des deutschen


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[0032] Grenzdeutschtum von sich absperren. Und neben dieser Flucht in die Enge gibt es die Flucht in die Tiefe, den Weg mystischer Vereinsamung, kultureller oder religiöser Schwärmerei. Das Dtchter-Denker-Dachstübchen wird wieder zu Ehren kommen, wie es den alten deutschen Eigenbrötler umhegte, der sich aus allem empirischen Drange in ein idealistisches Wolkenkuckucksheim rettete. Je lauter die sozialistischen Parolen in unseren Ohren gellen, desto mehr wird in Wirklichkeit der Indivi¬ dualismus wieder eine Gefahr. Alle überwundenen nationalen Fehler, aus denen heraus uns Jahrhunderte lang politisches Elend erwuchs, werden, da sie eben überwunden erschienen, aufs neue die deutsche Zukunft bedrohen. Es wird unermüdlicher Mahnungen bedürfen, damit nicht diese allgemeine Abkehr vom Gemeinschicksal zu einer völligen Zersetzung der Volksgemeinschaft führe, damit jeder Einzelne um des Heiles des Ganzen willen das Kreuz des nationalen Leidens auf sich nehme. nationaler Frontgeist wird in den nächsten Jahr¬ zehnten mehr als je von uns erfordert werden, keine laute und klirrende Tapferkeit, sondern stiller, duldender Opfermut, der das Erbe behütet und die Keime der werdenden Zukunft hegt. Abkehr von der Veräußerlichung und Aushöhlung des Lebens, Einkehr in die Tiefen deutschen Geistes und Gemüts tut uns wahrhaft not. Allent¬ halben grinst uns die fürchterlichste Korruption entgegen, die nur noch ein Erzberger leugnet. Alle kleinen Mittelchen versagen. Nur die Leibwerdung des zerfallenden Volks ganzen führt uns aus der Zersetzung zur Gesundung. Leibwerdung der Volksgemeinschaft setzt Solidarität aller Volksgenossen, Jneins- setzung jedes Einzelnen mit dem Ganzen voraus. Wenn Binnendeutsche und Grenzdeutsche gelernt haben, eines des anderen Bedrängnisse und Erfolge, Be¬ währung und Versagen, Verzweiflung und Hoffnung wie am eigenen Leibe mit¬ zuempfinden: dann werden wir, was wir heute nur dem Namen und der Er¬ innerung nach sind, wieder in bluthafter Wirklichkeit sein: ein Volk, das durch Überlieferung und Glauben, durch Schicksal und Wille über die schwankenden Grenzen der Staaten hinweg zu volleiblicher Einheit verbunden ist. Auch des Teutschen Reiches Wiederaufstieg ist ohne Gesundung des deutschen Volksleibes nicht zu denken. Grenz-Deutschtum: Das Wort hat durch die Not des Krieges und der Niederlage einen tiefen, schwingenden Klang bekommen, den wir früher nicht kannten. Wie viele aber haben heute schon seinen tiefen tragischen Sinn, seine ganze Schwere und Bitterkeit nicht mit dem Kopf allein, sondern mit Herz und Sinnen erfaßt? Gewiß: die Art und Weise, in der sich breite Schichten des elsässischen Stammes dem Welschtum in die Arme warfen, weckte bei uns nicht eben warme Gefühle des Abschieds. Und doch: daß es unter uns so wenige gibt, die dieses herrliche deutsche Land wirklich kannten, daß seine Losrei^eng vom Reichskörper so wenig lebendige Empfindungen auflöste: das ist ein trauriges und beschämendes Zeichen dafür, daß wir trotz des langen und schweren Kampfes nicht gelernt haben, uns mit dem Schicksal des deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/32>, abgerufen am 01.09.2024.