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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Georg Cleinow und die Grenzboten

den Gegensatz, in dem sich die gesamte festländisch-europäische Entwicklung zu
der Großbritanniens befand, daß es aber England mit Hilfe einer rücksichts¬
losen Diplomatie gelungen war, unseren Nachbarn in Ost und West den Blick
für den Wesenskern des deutsch-britischen Gegensatzes zu verschleiern und ihnen
dadurch die Erkenntnis unmöglich zu machen, auf welcher Seite ihre wahren
Interessen lagen: die jahrhundertalte deutsch-russische Freundschaft war kein
Zufallsprodukt gewesen.

Durch den Zusammenbruch dieser Freundschaft veränderte sich naturgemäß
die Lage der Polen von Grund aus. Ihr Verhalten den drei Teilungsmächten
gegenüber hat Cleinow in den Grenzboten eingehend geschildert. Infolge
unserer Siege in Kongreßpolen fand er bald Gelegenheit, die dortigen Vorgänge
persönlich zu beobachten: in Anerkennung seiner Sachkenntnis in allen Fragen
des Polentums, von dem außer zahlreichen Allssätzen ein umfangreiches Werk
"Die Zukunft Polens"^) Zeugnis ablegte, wurde er nach Lodz und Warschau
berufen, wo er zuerst als Leutnant für die Armee Mackensen unter Ludendorffs
Leitung, dann als Geheimer Regierungsrat für das Generalgouvernement
Warschau die Presseverwaltung mit ihren weitverzweigten Betrieben einrichtete,
das Werk eines außerordentlichen Organisationstalents! Dort hat er anderthalb
Jahr lang unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen gewirkt. Einer seiner
dortigen Mitarbeiter stellte ihm das Zeugnis aus, daß er wußte, was er
wolltet) Im Sommer 1916 gab er sein Amt aus der Hand, weil er die
von unserer Regierung betriebene widerspruchsvolle Polenpolitik für verhängnis¬
voll hielt. Es bedeutete nach seiner Auffassung ein an Leichtfertigkeit grenzen¬
des Vertrauen zu den Polen, ihnen noch während des Krieges den Aufbau
einer polnischen Armee zu übertragen: wollten wir uns ein Bollwerk gegen
Rußland bauen, so mußten wir den Mut haben, es selbst zu tun. Dem
polnischen Staate stand Cleinow im übrigen nicht ohne Sympathie gegenüber,
um den Preis der polnischen Freundschaft war er sogar zu erheblichen
Konzessionen an die Polen nach dem Kriege bereit. Der durch den Rück¬
tritt des provisorischen Staatsrath gekennzeichnete Zusammenbruch unserer
Polenpolitik vom 5. November 1916 ' nach zehn Monaten hat ihm Recht
gegeben. Er befand sich damals bereits seit Jahr und Tag als Batterie¬
führer an der Front, von wo aus er trotz aller Schwierigkeiten die politischen
Vorgänge aufmerksam verfolgte. Hin und wieder, in der Ruhestellung, oder
auf kurzem Heimaturlaub fand er Gelegenheit, seine Beobachtungen den
Grenzbotenlesern mitzuteilen. Im Januar 1918 kehrte er von den Schrecknissen
des Krieges in tiefster Seele erschüttert nach Berlin zurück. Rußland war
inzwischen zusammengebrochen. Cleinow betonte, daß dieser Zusammenbruch
für England, unseren eigentlichen Feind, nur eine militärische Niederlage sei,
die es schwerlich veranlassen würde, auf einen Machtfrieden zu verzichten, die




°) Zwei Bände, Verlag von Friedrich Wilh. Grunow in Leipzig. 1908--1914.
^) Dr, Paul Roth, Die Politische Entwicklung in Kongreßpolen während der deutschen
Okkupation, Verlag Avr K, F. Koester in Leipzig 1919.
Georg Cleinow und die Grenzboten

den Gegensatz, in dem sich die gesamte festländisch-europäische Entwicklung zu
der Großbritanniens befand, daß es aber England mit Hilfe einer rücksichts¬
losen Diplomatie gelungen war, unseren Nachbarn in Ost und West den Blick
für den Wesenskern des deutsch-britischen Gegensatzes zu verschleiern und ihnen
dadurch die Erkenntnis unmöglich zu machen, auf welcher Seite ihre wahren
Interessen lagen: die jahrhundertalte deutsch-russische Freundschaft war kein
Zufallsprodukt gewesen.

Durch den Zusammenbruch dieser Freundschaft veränderte sich naturgemäß
die Lage der Polen von Grund aus. Ihr Verhalten den drei Teilungsmächten
gegenüber hat Cleinow in den Grenzboten eingehend geschildert. Infolge
unserer Siege in Kongreßpolen fand er bald Gelegenheit, die dortigen Vorgänge
persönlich zu beobachten: in Anerkennung seiner Sachkenntnis in allen Fragen
des Polentums, von dem außer zahlreichen Allssätzen ein umfangreiches Werk
„Die Zukunft Polens"^) Zeugnis ablegte, wurde er nach Lodz und Warschau
berufen, wo er zuerst als Leutnant für die Armee Mackensen unter Ludendorffs
Leitung, dann als Geheimer Regierungsrat für das Generalgouvernement
Warschau die Presseverwaltung mit ihren weitverzweigten Betrieben einrichtete,
das Werk eines außerordentlichen Organisationstalents! Dort hat er anderthalb
Jahr lang unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen gewirkt. Einer seiner
dortigen Mitarbeiter stellte ihm das Zeugnis aus, daß er wußte, was er
wolltet) Im Sommer 1916 gab er sein Amt aus der Hand, weil er die
von unserer Regierung betriebene widerspruchsvolle Polenpolitik für verhängnis¬
voll hielt. Es bedeutete nach seiner Auffassung ein an Leichtfertigkeit grenzen¬
des Vertrauen zu den Polen, ihnen noch während des Krieges den Aufbau
einer polnischen Armee zu übertragen: wollten wir uns ein Bollwerk gegen
Rußland bauen, so mußten wir den Mut haben, es selbst zu tun. Dem
polnischen Staate stand Cleinow im übrigen nicht ohne Sympathie gegenüber,
um den Preis der polnischen Freundschaft war er sogar zu erheblichen
Konzessionen an die Polen nach dem Kriege bereit. Der durch den Rück¬
tritt des provisorischen Staatsrath gekennzeichnete Zusammenbruch unserer
Polenpolitik vom 5. November 1916 ' nach zehn Monaten hat ihm Recht
gegeben. Er befand sich damals bereits seit Jahr und Tag als Batterie¬
führer an der Front, von wo aus er trotz aller Schwierigkeiten die politischen
Vorgänge aufmerksam verfolgte. Hin und wieder, in der Ruhestellung, oder
auf kurzem Heimaturlaub fand er Gelegenheit, seine Beobachtungen den
Grenzbotenlesern mitzuteilen. Im Januar 1918 kehrte er von den Schrecknissen
des Krieges in tiefster Seele erschüttert nach Berlin zurück. Rußland war
inzwischen zusammengebrochen. Cleinow betonte, daß dieser Zusammenbruch
für England, unseren eigentlichen Feind, nur eine militärische Niederlage sei,
die es schwerlich veranlassen würde, auf einen Machtfrieden zu verzichten, die




°) Zwei Bände, Verlag von Friedrich Wilh. Grunow in Leipzig. 1908—1914.
^) Dr, Paul Roth, Die Politische Entwicklung in Kongreßpolen während der deutschen
Okkupation, Verlag Avr K, F. Koester in Leipzig 1919.
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[0029] Georg Cleinow und die Grenzboten den Gegensatz, in dem sich die gesamte festländisch-europäische Entwicklung zu der Großbritanniens befand, daß es aber England mit Hilfe einer rücksichts¬ losen Diplomatie gelungen war, unseren Nachbarn in Ost und West den Blick für den Wesenskern des deutsch-britischen Gegensatzes zu verschleiern und ihnen dadurch die Erkenntnis unmöglich zu machen, auf welcher Seite ihre wahren Interessen lagen: die jahrhundertalte deutsch-russische Freundschaft war kein Zufallsprodukt gewesen. Durch den Zusammenbruch dieser Freundschaft veränderte sich naturgemäß die Lage der Polen von Grund aus. Ihr Verhalten den drei Teilungsmächten gegenüber hat Cleinow in den Grenzboten eingehend geschildert. Infolge unserer Siege in Kongreßpolen fand er bald Gelegenheit, die dortigen Vorgänge persönlich zu beobachten: in Anerkennung seiner Sachkenntnis in allen Fragen des Polentums, von dem außer zahlreichen Allssätzen ein umfangreiches Werk „Die Zukunft Polens"^) Zeugnis ablegte, wurde er nach Lodz und Warschau berufen, wo er zuerst als Leutnant für die Armee Mackensen unter Ludendorffs Leitung, dann als Geheimer Regierungsrat für das Generalgouvernement Warschau die Presseverwaltung mit ihren weitverzweigten Betrieben einrichtete, das Werk eines außerordentlichen Organisationstalents! Dort hat er anderthalb Jahr lang unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen gewirkt. Einer seiner dortigen Mitarbeiter stellte ihm das Zeugnis aus, daß er wußte, was er wolltet) Im Sommer 1916 gab er sein Amt aus der Hand, weil er die von unserer Regierung betriebene widerspruchsvolle Polenpolitik für verhängnis¬ voll hielt. Es bedeutete nach seiner Auffassung ein an Leichtfertigkeit grenzen¬ des Vertrauen zu den Polen, ihnen noch während des Krieges den Aufbau einer polnischen Armee zu übertragen: wollten wir uns ein Bollwerk gegen Rußland bauen, so mußten wir den Mut haben, es selbst zu tun. Dem polnischen Staate stand Cleinow im übrigen nicht ohne Sympathie gegenüber, um den Preis der polnischen Freundschaft war er sogar zu erheblichen Konzessionen an die Polen nach dem Kriege bereit. Der durch den Rück¬ tritt des provisorischen Staatsrath gekennzeichnete Zusammenbruch unserer Polenpolitik vom 5. November 1916 ' nach zehn Monaten hat ihm Recht gegeben. Er befand sich damals bereits seit Jahr und Tag als Batterie¬ führer an der Front, von wo aus er trotz aller Schwierigkeiten die politischen Vorgänge aufmerksam verfolgte. Hin und wieder, in der Ruhestellung, oder auf kurzem Heimaturlaub fand er Gelegenheit, seine Beobachtungen den Grenzbotenlesern mitzuteilen. Im Januar 1918 kehrte er von den Schrecknissen des Krieges in tiefster Seele erschüttert nach Berlin zurück. Rußland war inzwischen zusammengebrochen. Cleinow betonte, daß dieser Zusammenbruch für England, unseren eigentlichen Feind, nur eine militärische Niederlage sei, die es schwerlich veranlassen würde, auf einen Machtfrieden zu verzichten, die °) Zwei Bände, Verlag von Friedrich Wilh. Grunow in Leipzig. 1908—1914. ^) Dr, Paul Roth, Die Politische Entwicklung in Kongreßpolen während der deutschen Okkupation, Verlag Avr K, F. Koester in Leipzig 1919.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/29>, abgerufen am 01.09.2024.