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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Georg Lleinow und die Grenzboten

der weltpolitischen Lage tat diese Mahnung not, hat aber ihren Zweck nicht
erreicht, ja sie hat vielleicht die egoistischen Triebfedern der kurzsichtigen Wähler
gestärkt und zur Radikalisierung des Reichstags beigetragen, die uns so ver¬
hängnisvoll geworden ist.

So sahen die Grundlagen unseres politischen Lebens aus, mit denen wir
bei Kriegsausbruch zu rechnen hatten! Ähnliche Zustände und Unklarheiten,
dasselbe Mißtrauen und Mißverstehen glaubte Cleinow bei rückschauender Be¬
trachtung in der Epoche des Vormärz feststellen zu können. "Dem Chronisten",
schrieb er, "steht manchmal das Herz still." sämtlichen Parteien machte er
den Vorwurf, daß sie in ihrer Politik von Gesichtspunkten ausgingen, die den
nationalen, gesamtvölkischen Interessen nicht gerecht wurden. Den Ausgleich
zwischen Großbetrieb und Persönlichkeit, zwischen Kapital und Mensch vermochte
keine von ihnen zu finden, ohne den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Aussicht auf Gesundung unseres Volkstums schien Cleinow eine Reform des
Wahlrechts zu bieten, die letzten Endes auf die Grundsätze des Freiherrn von
Stein, also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückgriffe. Natürlich
hatte er dabei nicht die alten Stände im Ange, sondern er dachte an die
modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und
Verbände entstehen konnten.




Angesichts der innerpolitischen Krankheitssymptome war es Trug, wenn das
deutsche Volk kraftvoll dazustehen schien. Bei genauerem Hinsehen war tat¬
sächlich zu erkennen, daß das Deutschtum überall, wo es in nähere Beziehungen
zu anderen Nationalitäten kam, zurückgedrängt wurde und zwar in der Weise,
daß diese Zurückdrängung um so stärker zutage trat, je näher die Fremden mit
der Hauptmasse des deutschen Volkes in Berührung kamen, was besonders in
unseren Ostmarken der Fall war. Der Grund hierfür lag eben darin, daß
aus dem deutschen Nationalstaat ein Wirtschaftsverband geworden war, daß
die Rücksicht auf unsere wirtschaftliche Entwicklung diese selbst zwar förderte,
aber die Macht des Staates untergrub, indem sie um wirtschaftlicher Vorteile
willen das Deutschtum den fremden Nationalitäten Preisgab. Einen besonders
schwerwiegenden Mißstand sah Cleinow in dem für, unsere Industrie und Land¬
wirtschaft bestehenden Zwang, nichtdeutsche, zum erheblichen Teil sogar ausländische
Arbeiter heranzuziehen, und in der Unmöglichkeit, diese Entwicklung' aufzuhalten,
ohne schweren materiellen Schaden zu bringen. Dies ist der letzte Grund, weshalb
er den friedlichen Ausgleich mit den Holen betrieb und für die Erhaltung des
Weltfriedens so energisch eintrat, daß schwere Kämpfe mit den Ver¬
tretern lauter Säbelpolitik nicht ausbleiben konnten (1911). Die zu¬
nehmende Industrialisierung des Westens bewirkte eine immer stärker
werdende Abwanderung der ostdeutschen Bevölkerung und ein Hinein¬
fluten der Polen in die leer gewordenen Plätze. So waren es nicht
eigentlich die Polen, die uns aus den Ostmarken vertrieben, und deshalb er-


Georg Lleinow und die Grenzboten

der weltpolitischen Lage tat diese Mahnung not, hat aber ihren Zweck nicht
erreicht, ja sie hat vielleicht die egoistischen Triebfedern der kurzsichtigen Wähler
gestärkt und zur Radikalisierung des Reichstags beigetragen, die uns so ver¬
hängnisvoll geworden ist.

So sahen die Grundlagen unseres politischen Lebens aus, mit denen wir
bei Kriegsausbruch zu rechnen hatten! Ähnliche Zustände und Unklarheiten,
dasselbe Mißtrauen und Mißverstehen glaubte Cleinow bei rückschauender Be¬
trachtung in der Epoche des Vormärz feststellen zu können. „Dem Chronisten",
schrieb er, „steht manchmal das Herz still." sämtlichen Parteien machte er
den Vorwurf, daß sie in ihrer Politik von Gesichtspunkten ausgingen, die den
nationalen, gesamtvölkischen Interessen nicht gerecht wurden. Den Ausgleich
zwischen Großbetrieb und Persönlichkeit, zwischen Kapital und Mensch vermochte
keine von ihnen zu finden, ohne den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Aussicht auf Gesundung unseres Volkstums schien Cleinow eine Reform des
Wahlrechts zu bieten, die letzten Endes auf die Grundsätze des Freiherrn von
Stein, also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückgriffe. Natürlich
hatte er dabei nicht die alten Stände im Ange, sondern er dachte an die
modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und
Verbände entstehen konnten.




Angesichts der innerpolitischen Krankheitssymptome war es Trug, wenn das
deutsche Volk kraftvoll dazustehen schien. Bei genauerem Hinsehen war tat¬
sächlich zu erkennen, daß das Deutschtum überall, wo es in nähere Beziehungen
zu anderen Nationalitäten kam, zurückgedrängt wurde und zwar in der Weise,
daß diese Zurückdrängung um so stärker zutage trat, je näher die Fremden mit
der Hauptmasse des deutschen Volkes in Berührung kamen, was besonders in
unseren Ostmarken der Fall war. Der Grund hierfür lag eben darin, daß
aus dem deutschen Nationalstaat ein Wirtschaftsverband geworden war, daß
die Rücksicht auf unsere wirtschaftliche Entwicklung diese selbst zwar förderte,
aber die Macht des Staates untergrub, indem sie um wirtschaftlicher Vorteile
willen das Deutschtum den fremden Nationalitäten Preisgab. Einen besonders
schwerwiegenden Mißstand sah Cleinow in dem für, unsere Industrie und Land¬
wirtschaft bestehenden Zwang, nichtdeutsche, zum erheblichen Teil sogar ausländische
Arbeiter heranzuziehen, und in der Unmöglichkeit, diese Entwicklung' aufzuhalten,
ohne schweren materiellen Schaden zu bringen. Dies ist der letzte Grund, weshalb
er den friedlichen Ausgleich mit den Holen betrieb und für die Erhaltung des
Weltfriedens so energisch eintrat, daß schwere Kämpfe mit den Ver¬
tretern lauter Säbelpolitik nicht ausbleiben konnten (1911). Die zu¬
nehmende Industrialisierung des Westens bewirkte eine immer stärker
werdende Abwanderung der ostdeutschen Bevölkerung und ein Hinein¬
fluten der Polen in die leer gewordenen Plätze. So waren es nicht
eigentlich die Polen, die uns aus den Ostmarken vertrieben, und deshalb er-


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[0025] Georg Lleinow und die Grenzboten der weltpolitischen Lage tat diese Mahnung not, hat aber ihren Zweck nicht erreicht, ja sie hat vielleicht die egoistischen Triebfedern der kurzsichtigen Wähler gestärkt und zur Radikalisierung des Reichstags beigetragen, die uns so ver¬ hängnisvoll geworden ist. So sahen die Grundlagen unseres politischen Lebens aus, mit denen wir bei Kriegsausbruch zu rechnen hatten! Ähnliche Zustände und Unklarheiten, dasselbe Mißtrauen und Mißverstehen glaubte Cleinow bei rückschauender Be¬ trachtung in der Epoche des Vormärz feststellen zu können. „Dem Chronisten", schrieb er, „steht manchmal das Herz still." sämtlichen Parteien machte er den Vorwurf, daß sie in ihrer Politik von Gesichtspunkten ausgingen, die den nationalen, gesamtvölkischen Interessen nicht gerecht wurden. Den Ausgleich zwischen Großbetrieb und Persönlichkeit, zwischen Kapital und Mensch vermochte keine von ihnen zu finden, ohne den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Aussicht auf Gesundung unseres Volkstums schien Cleinow eine Reform des Wahlrechts zu bieten, die letzten Endes auf die Grundsätze des Freiherrn von Stein, also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückgriffe. Natürlich hatte er dabei nicht die alten Stände im Ange, sondern er dachte an die modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und Verbände entstehen konnten. Angesichts der innerpolitischen Krankheitssymptome war es Trug, wenn das deutsche Volk kraftvoll dazustehen schien. Bei genauerem Hinsehen war tat¬ sächlich zu erkennen, daß das Deutschtum überall, wo es in nähere Beziehungen zu anderen Nationalitäten kam, zurückgedrängt wurde und zwar in der Weise, daß diese Zurückdrängung um so stärker zutage trat, je näher die Fremden mit der Hauptmasse des deutschen Volkes in Berührung kamen, was besonders in unseren Ostmarken der Fall war. Der Grund hierfür lag eben darin, daß aus dem deutschen Nationalstaat ein Wirtschaftsverband geworden war, daß die Rücksicht auf unsere wirtschaftliche Entwicklung diese selbst zwar förderte, aber die Macht des Staates untergrub, indem sie um wirtschaftlicher Vorteile willen das Deutschtum den fremden Nationalitäten Preisgab. Einen besonders schwerwiegenden Mißstand sah Cleinow in dem für, unsere Industrie und Land¬ wirtschaft bestehenden Zwang, nichtdeutsche, zum erheblichen Teil sogar ausländische Arbeiter heranzuziehen, und in der Unmöglichkeit, diese Entwicklung' aufzuhalten, ohne schweren materiellen Schaden zu bringen. Dies ist der letzte Grund, weshalb er den friedlichen Ausgleich mit den Holen betrieb und für die Erhaltung des Weltfriedens so energisch eintrat, daß schwere Kämpfe mit den Ver¬ tretern lauter Säbelpolitik nicht ausbleiben konnten (1911). Die zu¬ nehmende Industrialisierung des Westens bewirkte eine immer stärker werdende Abwanderung der ostdeutschen Bevölkerung und ein Hinein¬ fluten der Polen in die leer gewordenen Plätze. So waren es nicht eigentlich die Polen, die uns aus den Ostmarken vertrieben, und deshalb er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/25>, abgerufen am 01.09.2024.