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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Das Uriegsjcchr 1959 in Rußland und seine Folgen

alten Rußland ergoß, verstand es nur das polnische Volk, einen neuen Damm
aufzurichten und im Laufe des Jahres zu halten, nur zum Teil dank der eigenen
Leistungsfähigkeit und der Ententehilfe; denn ein ernsthafter Angriff der Sowjet¬
republik fand nicht statt. Unter dem Druck der Ereignisse am Ural und Don
war für sie die Westfront nur Nebenkriegsschauplatz. Wilna war ihr westlichstes
Ziel, das sie aber wieder räumen mußten. Den Polen gelang es in teils Wechsel-
vollen Kämpfen ihre jetzige Frontlinie zu halten, eine Linie, die weit über die
ethnographischen Grenzen des polnischen Volkstums in litauisches, weißrussisches
und ukrainisches Gebiet hineingreift und noch nicht in vollem Umfange den Förde-
rungen auf Verlauf der künftigen Landesgrenze entspricht. Noch bedarf die
litauisch-polnische und ukrainisch-polnische Frage der Klärung, die unter Entente-
einfluß voraussichtlich zugunsten der Polen entschieden werden wird. Über die
Weißrussen, die als weißruthenischer selbständiger Staat bereits über eine Rada
und ein Kabinett verfügen, werden Bolschewiken, Litauer und Polen wahrschein,
lich zur Tagesordnung übergehen. Die kommenden Monate müssen eine Ent-
scheidung bringen über das Verhältnis Polens zu Rußland, eine Ent¬
scheidung, bei der die Initiative in bolschewistischer Hand liegt. Polen ist. wie
die ganze Welt, ruhebedürftig und kriegsmüde; es wird nicht leichtfertig und
ohne schwerwiegenden Grund den Krieg gegen eine Macht, wie sie die Sowjet¬
republik jetzt darstellt, suchen; es würde allein, höchstens mit Litauen als schwachem
Bundesgenossen und fragwürdiger Ententehilfe, den Anprall der bolschewistischen
Heeresmacht zu eriragen haben. In den Grenzen des alten Reiches hat die
Moskaner Regierung nur noch Polen als Gegner, mit dem abzurechnen ist. Fort¬
setzung des Krieges gegen Polen oder Frieden ist die Frage, die eigentlich nach
den wiederholten Friedensangeboten der Moskaner Kommissare an Polen gelöst
sein dürfte. Daneben aber wird in Moskau beraten, ob der Krieg in Zentral¬
asien oder im Westen fortgeführt werden soll. Kamenew hat sich bei dieser Ge¬
legenheit für unverzüglichen Angriff gegen Polen ausgesprochen; er ist Trotztis
Generalstabschef und soll als militärischer Berater entscheidenden Einfluß haben.
Trotz'i selbst schlug Fortführung der Operationen nach Indien, Persien und der
Mongolei vor; ein endgültiger Beschluß wurde noch nicht gefaßt. Wir müssen
aber annehmen, daß unbeschadet aller Friedcnsaktionen die Vorbereitungen für
die beiden großen Offensiven getroffen werden. Bei Zurückstellung aller politischen
Momente, deren Schwerpunkt in den Ergebnissen der englischen Jnterventions-
Politik gegenüber Rußland und in der grundsätzlichen Frage liegt, ob der bolsche¬
wistische Imperialismus sich, wenn auch nur vorübergehend, mit seinen bisherigen
^folgen begnügen will oder muß; also bei rein militärischer Beurteilung müssen
wir der Möglichkeit eines Feldzuges gegen Litauen und Polen mit großer Sorge
entgegensehen, nicht weil wir Veranlassung hätten, um das Schicksal dieser Staaten
besorgt zu sein, sondern weil damit gerechnet werden muß. daß nach einem Siege
die Bolschewiken an den Grenzen Deutschlands stehen werden. Die polnische
Armee ist schlecht diszipliniert und ausgerüstet, sie hat wenig gelernte Offiziere,
keine bewährten und erfahrenen Führer und keinen geschulren Generalstab Die
Entente wird alle diese Lücken nicht füllen können. Die Organisation und die
innere Festigung sowohl des Heeres als auch des Staatswesens scheinen noch
keineswegs so weit gediehen, daß sie eine Belastungsprobe wie die eines E"t>


Grsuzboten I 1920 16
Das Uriegsjcchr 1959 in Rußland und seine Folgen

alten Rußland ergoß, verstand es nur das polnische Volk, einen neuen Damm
aufzurichten und im Laufe des Jahres zu halten, nur zum Teil dank der eigenen
Leistungsfähigkeit und der Ententehilfe; denn ein ernsthafter Angriff der Sowjet¬
republik fand nicht statt. Unter dem Druck der Ereignisse am Ural und Don
war für sie die Westfront nur Nebenkriegsschauplatz. Wilna war ihr westlichstes
Ziel, das sie aber wieder räumen mußten. Den Polen gelang es in teils Wechsel-
vollen Kämpfen ihre jetzige Frontlinie zu halten, eine Linie, die weit über die
ethnographischen Grenzen des polnischen Volkstums in litauisches, weißrussisches
und ukrainisches Gebiet hineingreift und noch nicht in vollem Umfange den Förde-
rungen auf Verlauf der künftigen Landesgrenze entspricht. Noch bedarf die
litauisch-polnische und ukrainisch-polnische Frage der Klärung, die unter Entente-
einfluß voraussichtlich zugunsten der Polen entschieden werden wird. Über die
Weißrussen, die als weißruthenischer selbständiger Staat bereits über eine Rada
und ein Kabinett verfügen, werden Bolschewiken, Litauer und Polen wahrschein,
lich zur Tagesordnung übergehen. Die kommenden Monate müssen eine Ent-
scheidung bringen über das Verhältnis Polens zu Rußland, eine Ent¬
scheidung, bei der die Initiative in bolschewistischer Hand liegt. Polen ist. wie
die ganze Welt, ruhebedürftig und kriegsmüde; es wird nicht leichtfertig und
ohne schwerwiegenden Grund den Krieg gegen eine Macht, wie sie die Sowjet¬
republik jetzt darstellt, suchen; es würde allein, höchstens mit Litauen als schwachem
Bundesgenossen und fragwürdiger Ententehilfe, den Anprall der bolschewistischen
Heeresmacht zu eriragen haben. In den Grenzen des alten Reiches hat die
Moskaner Regierung nur noch Polen als Gegner, mit dem abzurechnen ist. Fort¬
setzung des Krieges gegen Polen oder Frieden ist die Frage, die eigentlich nach
den wiederholten Friedensangeboten der Moskaner Kommissare an Polen gelöst
sein dürfte. Daneben aber wird in Moskau beraten, ob der Krieg in Zentral¬
asien oder im Westen fortgeführt werden soll. Kamenew hat sich bei dieser Ge¬
legenheit für unverzüglichen Angriff gegen Polen ausgesprochen; er ist Trotztis
Generalstabschef und soll als militärischer Berater entscheidenden Einfluß haben.
Trotz'i selbst schlug Fortführung der Operationen nach Indien, Persien und der
Mongolei vor; ein endgültiger Beschluß wurde noch nicht gefaßt. Wir müssen
aber annehmen, daß unbeschadet aller Friedcnsaktionen die Vorbereitungen für
die beiden großen Offensiven getroffen werden. Bei Zurückstellung aller politischen
Momente, deren Schwerpunkt in den Ergebnissen der englischen Jnterventions-
Politik gegenüber Rußland und in der grundsätzlichen Frage liegt, ob der bolsche¬
wistische Imperialismus sich, wenn auch nur vorübergehend, mit seinen bisherigen
^folgen begnügen will oder muß; also bei rein militärischer Beurteilung müssen
wir der Möglichkeit eines Feldzuges gegen Litauen und Polen mit großer Sorge
entgegensehen, nicht weil wir Veranlassung hätten, um das Schicksal dieser Staaten
besorgt zu sein, sondern weil damit gerechnet werden muß. daß nach einem Siege
die Bolschewiken an den Grenzen Deutschlands stehen werden. Die polnische
Armee ist schlecht diszipliniert und ausgerüstet, sie hat wenig gelernte Offiziere,
keine bewährten und erfahrenen Führer und keinen geschulren Generalstab Die
Entente wird alle diese Lücken nicht füllen können. Die Organisation und die
innere Festigung sowohl des Heeres als auch des Staatswesens scheinen noch
keineswegs so weit gediehen, daß sie eine Belastungsprobe wie die eines E»t>


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[0247] Das Uriegsjcchr 1959 in Rußland und seine Folgen alten Rußland ergoß, verstand es nur das polnische Volk, einen neuen Damm aufzurichten und im Laufe des Jahres zu halten, nur zum Teil dank der eigenen Leistungsfähigkeit und der Ententehilfe; denn ein ernsthafter Angriff der Sowjet¬ republik fand nicht statt. Unter dem Druck der Ereignisse am Ural und Don war für sie die Westfront nur Nebenkriegsschauplatz. Wilna war ihr westlichstes Ziel, das sie aber wieder räumen mußten. Den Polen gelang es in teils Wechsel- vollen Kämpfen ihre jetzige Frontlinie zu halten, eine Linie, die weit über die ethnographischen Grenzen des polnischen Volkstums in litauisches, weißrussisches und ukrainisches Gebiet hineingreift und noch nicht in vollem Umfange den Förde- rungen auf Verlauf der künftigen Landesgrenze entspricht. Noch bedarf die litauisch-polnische und ukrainisch-polnische Frage der Klärung, die unter Entente- einfluß voraussichtlich zugunsten der Polen entschieden werden wird. Über die Weißrussen, die als weißruthenischer selbständiger Staat bereits über eine Rada und ein Kabinett verfügen, werden Bolschewiken, Litauer und Polen wahrschein, lich zur Tagesordnung übergehen. Die kommenden Monate müssen eine Ent- scheidung bringen über das Verhältnis Polens zu Rußland, eine Ent¬ scheidung, bei der die Initiative in bolschewistischer Hand liegt. Polen ist. wie die ganze Welt, ruhebedürftig und kriegsmüde; es wird nicht leichtfertig und ohne schwerwiegenden Grund den Krieg gegen eine Macht, wie sie die Sowjet¬ republik jetzt darstellt, suchen; es würde allein, höchstens mit Litauen als schwachem Bundesgenossen und fragwürdiger Ententehilfe, den Anprall der bolschewistischen Heeresmacht zu eriragen haben. In den Grenzen des alten Reiches hat die Moskaner Regierung nur noch Polen als Gegner, mit dem abzurechnen ist. Fort¬ setzung des Krieges gegen Polen oder Frieden ist die Frage, die eigentlich nach den wiederholten Friedensangeboten der Moskaner Kommissare an Polen gelöst sein dürfte. Daneben aber wird in Moskau beraten, ob der Krieg in Zentral¬ asien oder im Westen fortgeführt werden soll. Kamenew hat sich bei dieser Ge¬ legenheit für unverzüglichen Angriff gegen Polen ausgesprochen; er ist Trotztis Generalstabschef und soll als militärischer Berater entscheidenden Einfluß haben. Trotz'i selbst schlug Fortführung der Operationen nach Indien, Persien und der Mongolei vor; ein endgültiger Beschluß wurde noch nicht gefaßt. Wir müssen aber annehmen, daß unbeschadet aller Friedcnsaktionen die Vorbereitungen für die beiden großen Offensiven getroffen werden. Bei Zurückstellung aller politischen Momente, deren Schwerpunkt in den Ergebnissen der englischen Jnterventions- Politik gegenüber Rußland und in der grundsätzlichen Frage liegt, ob der bolsche¬ wistische Imperialismus sich, wenn auch nur vorübergehend, mit seinen bisherigen ^folgen begnügen will oder muß; also bei rein militärischer Beurteilung müssen wir der Möglichkeit eines Feldzuges gegen Litauen und Polen mit großer Sorge entgegensehen, nicht weil wir Veranlassung hätten, um das Schicksal dieser Staaten besorgt zu sein, sondern weil damit gerechnet werden muß. daß nach einem Siege die Bolschewiken an den Grenzen Deutschlands stehen werden. Die polnische Armee ist schlecht diszipliniert und ausgerüstet, sie hat wenig gelernte Offiziere, keine bewährten und erfahrenen Führer und keinen geschulren Generalstab Die Entente wird alle diese Lücken nicht füllen können. Die Organisation und die innere Festigung sowohl des Heeres als auch des Staatswesens scheinen noch keineswegs so weit gediehen, daß sie eine Belastungsprobe wie die eines E»t> Grsuzboten I 1920 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/247>, abgerufen am 22.12.2024.