Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.Das Rricgsjahr 5959 in Rußland und seine Folgen Ein nicht geringer Teil der Schuld an dem Zusammenbruch aller arti" Deutschland ist an der weiteren Entwicklung der Lage in Nußland wirt¬ Die Beantwortung der zweiten Frage ist nur nach Untersuchung der ersten Das Rricgsjahr 5959 in Rußland und seine Folgen Ein nicht geringer Teil der Schuld an dem Zusammenbruch aller arti« Deutschland ist an der weiteren Entwicklung der Lage in Nußland wirt¬ Die Beantwortung der zweiten Frage ist nur nach Untersuchung der ersten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337089"/> <fw type="header" place="top"> Das Rricgsjahr 5959 in Rußland und seine Folgen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1965"> Ein nicht geringer Teil der Schuld an dem Zusammenbruch aller arti«<lb/> bolschewistischen Unternehmungen kommt auf das Konto der Entente. Daß Frank¬<lb/> reich und England sich nicht einig sind über die Linie der in Rußland einzu¬<lb/> schlagenden Politik, ist bekannt. Es ist kaum zweifelhaft, daß die Entente auch<lb/> ohne Einsatz eigener Truppen durch straffe Leitung und reichliche Versorgung der<lb/> weißen Armeen sowie durch politische Beeinflussung der verschiedene Ziele ver¬<lb/> folgenden Sowjetgegner die Zertrümmerung der Sowjetmacht hätte erreich?::<lb/> können. Eine militärische Bezwingung des bolschewistischen Staates war möglich.<lb/> Daß es selbst bei Aufwendung reichlichster Mittel in absehbarer Zeit möglich sein<lb/> wird, wieder Armeen wie die Koltschcüs, DenikinS und Judenitschs aufzustellen,<lb/> muß mau verneinen. Frei liegen für unabsehbare Zeit die Grenzen Sowjet¬<lb/> rußlands im Norden, Osten und Süden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1966"> Deutschland ist an der weiteren Entwicklung der Lage in Nußland wirt¬<lb/> schaftlich und militärisch stark interessiert. Im Vordergrunde aller Betrachtungen<lb/> muß die Frage liegen: wird Rußland in Kürze wirtschaftlich oder aus inner><lb/> politischen Gründen zusammenbrechen und werden die Bolschewiken im Jahre 19W<lb/> ihre Angriffe an der Peripherie des Reiches fortsetzen, bejahendenfalls in welcher<lb/> Richtung, nach Zentralasien oder gegen Westen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1967" next="#ID_1968"> Die Beantwortung der zweiten Frage ist nur nach Untersuchung der ersten<lb/> möglich. Denn ein wirtschaftlich nicht lebensfähiges Sowjetrußland kann keine<lb/> Angriffskriege führen. Ohne in eine eingehende Prüfung der wirtschaftlichen Zu¬<lb/> stände eintreten zu wollen, ist es deshalb doch von militärischem Gesichtspunt!<lb/> notwendig, sich über die Ernährungs- und Versorgungsverhältnisse des LcmdeL,<lb/> dessen militärische Leistungsfähigkeit zu prüfen ist, im klaren zu sein. Und hierbei<lb/> muß man, nachdem die Ernährungsnot des Jahres 1919 ohne Erschütterung des<lb/> Staatswesens überstanden ist, nunmehr, wo die Wolgagebiete und Westsibirien<lb/> für die Lebensmittellieserungen, der Ural und Südrußland für die Versorgung<lb/> mit Kohle, Eisen, Salz. Zucker und wohl auch Erdölen zur Verfügung der Vo!°<lb/> schewiken stehen, ferner der Handel mit der Entente in Aussicht steht, zu der<lb/> Überzeugung gelangen, daß an eine Wirtschaftskatastrophe, die die Fortsetzung<lb/> des Krieges in Frage stellt, vorläufig nicht zu denken ist. Ebensowenig liegen<lb/> Anzeichen vor für einen Zusammenbruch aus innerpolitischen Gründen. Vielmehr<lb/> muß man feststellen, daß die Sowjetrepublik durch Rückkehr zu alten bewährten<lb/> Grundsätzen des Kapitalismus: Einführung vermehrter Arbeitszeit, Annahme der<lb/> Akkordlöhnung. Rückgabe von Industrieanlagen an ihre früheren Be¬<lb/> sitzer oder technisch gebildete Leiter, Freiheit in der Preisbildung, im<lb/> Begriffe steht, die Zustände im Lande aus dem Bereiche bisheriger<lb/> völliger Unproduktivst einer besseren Zukunft zuzuführen. Das Ver<lb/> trauen der Sowjetrepublik zu der eignen Wirtschaftskraft kommt in der<lb/> mit der Entente angebahnten Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zum<lb/> Ausdruck. Während bisher das bolschewistische Nußland hungerte, hält es sich<lb/> jetzt für fähig, Getreide zu exportieren, denn darum kann es sich im wesentlichen<lb/> nur handeln. Wenn uns nicht schon der Brester Frieden Veranlassung gäbe, den<lb/> Abmachungen und Versprechungen der Moskaner Sowjetbehörden mißtrauisch<lb/> gegenüber zu stehen, so ist bei der Bewertung der zu erwartenden Ausfuhr von<lb/> Getreide auch deshalb äußerste Skepsis am Platze, weil die bolschewistischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0244]
Das Rricgsjahr 5959 in Rußland und seine Folgen
Ein nicht geringer Teil der Schuld an dem Zusammenbruch aller arti«
bolschewistischen Unternehmungen kommt auf das Konto der Entente. Daß Frank¬
reich und England sich nicht einig sind über die Linie der in Rußland einzu¬
schlagenden Politik, ist bekannt. Es ist kaum zweifelhaft, daß die Entente auch
ohne Einsatz eigener Truppen durch straffe Leitung und reichliche Versorgung der
weißen Armeen sowie durch politische Beeinflussung der verschiedene Ziele ver¬
folgenden Sowjetgegner die Zertrümmerung der Sowjetmacht hätte erreich?::
können. Eine militärische Bezwingung des bolschewistischen Staates war möglich.
Daß es selbst bei Aufwendung reichlichster Mittel in absehbarer Zeit möglich sein
wird, wieder Armeen wie die Koltschcüs, DenikinS und Judenitschs aufzustellen,
muß mau verneinen. Frei liegen für unabsehbare Zeit die Grenzen Sowjet¬
rußlands im Norden, Osten und Süden.
Deutschland ist an der weiteren Entwicklung der Lage in Nußland wirt¬
schaftlich und militärisch stark interessiert. Im Vordergrunde aller Betrachtungen
muß die Frage liegen: wird Rußland in Kürze wirtschaftlich oder aus inner>
politischen Gründen zusammenbrechen und werden die Bolschewiken im Jahre 19W
ihre Angriffe an der Peripherie des Reiches fortsetzen, bejahendenfalls in welcher
Richtung, nach Zentralasien oder gegen Westen?
Die Beantwortung der zweiten Frage ist nur nach Untersuchung der ersten
möglich. Denn ein wirtschaftlich nicht lebensfähiges Sowjetrußland kann keine
Angriffskriege führen. Ohne in eine eingehende Prüfung der wirtschaftlichen Zu¬
stände eintreten zu wollen, ist es deshalb doch von militärischem Gesichtspunt!
notwendig, sich über die Ernährungs- und Versorgungsverhältnisse des LcmdeL,
dessen militärische Leistungsfähigkeit zu prüfen ist, im klaren zu sein. Und hierbei
muß man, nachdem die Ernährungsnot des Jahres 1919 ohne Erschütterung des
Staatswesens überstanden ist, nunmehr, wo die Wolgagebiete und Westsibirien
für die Lebensmittellieserungen, der Ural und Südrußland für die Versorgung
mit Kohle, Eisen, Salz. Zucker und wohl auch Erdölen zur Verfügung der Vo!°
schewiken stehen, ferner der Handel mit der Entente in Aussicht steht, zu der
Überzeugung gelangen, daß an eine Wirtschaftskatastrophe, die die Fortsetzung
des Krieges in Frage stellt, vorläufig nicht zu denken ist. Ebensowenig liegen
Anzeichen vor für einen Zusammenbruch aus innerpolitischen Gründen. Vielmehr
muß man feststellen, daß die Sowjetrepublik durch Rückkehr zu alten bewährten
Grundsätzen des Kapitalismus: Einführung vermehrter Arbeitszeit, Annahme der
Akkordlöhnung. Rückgabe von Industrieanlagen an ihre früheren Be¬
sitzer oder technisch gebildete Leiter, Freiheit in der Preisbildung, im
Begriffe steht, die Zustände im Lande aus dem Bereiche bisheriger
völliger Unproduktivst einer besseren Zukunft zuzuführen. Das Ver
trauen der Sowjetrepublik zu der eignen Wirtschaftskraft kommt in der
mit der Entente angebahnten Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zum
Ausdruck. Während bisher das bolschewistische Nußland hungerte, hält es sich
jetzt für fähig, Getreide zu exportieren, denn darum kann es sich im wesentlichen
nur handeln. Wenn uns nicht schon der Brester Frieden Veranlassung gäbe, den
Abmachungen und Versprechungen der Moskaner Sowjetbehörden mißtrauisch
gegenüber zu stehen, so ist bei der Bewertung der zu erwartenden Ausfuhr von
Getreide auch deshalb äußerste Skepsis am Platze, weil die bolschewistischen
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |