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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Martin Spahn, dessen Blick ein den europäischen Hauptpunkten hängt, setzt
tiir diesen Umschwung der Zeitalter etwa das Jahr 187" an. Aber schnell holte
die- politische Geistigkeit des englischen Volkes die innere Umstellung nach. Ein über¬
empfindliches Bewußtsein von der Gesetzmäßigkeit der Zusammenhänge des Bodens
im Raum und den daraus entstehenden Notwendigkeiten politischer Zielsetzung
wachte auf und machte sich geltend. Der geschärfte Sinn für die Bedrohtheit
der nationalen Leistung schuf in der vorgestellten Idee aus dem bloßen Kolonial¬
reich mit verstreuten Bodenflächsn und Stützpunkten ein raumpolitisches Impe¬
rium. Es ergaben sich die bekannten Zweckinhalte der neuen britischen Welt-
Politik, die nun mit plötzlicher Energie verfolgt und angestrebt wurden: die Linie
"om Kap bis Kairo und von Kairo nach Indien mit der Küstenländerpolitik für
die Beherrschung des Indischen Ozeans, die Linie von Ägypten durch das Mittel-
ländische Meer bis hiu zu den britischen Inseln, die dann, über die der Nordsee
vorgelagerten Riffe hinweg und durch das Vasallentum Norwegens hindurch, die
Umklammerung Europas fortsetzen sollten. So wurden in der Idee, auf deren
Verwirklichung alles ankam, bodenpolitische Zusammenhänge einer Hemisphäre
hergestellt, die gleichzeitig die Vorbedingungen einer weltraumwirtschaftlichen
Auswertung in sich enthielten. In die unmittelbare Verbindung zwischen der
Linie des Mittelländischen Meeres und England selber riß aber der vorgeschobene
Kontinent mit dem Lebensbereich der lateinischen Nationen eine sehr breite Lücke.
Hier steckte eine dem Anschein nach unbegleichbaro Fehlrechnung. Spahn deutet in¬
dessen die interessante Beobachtung an, daß die englische Staatskunst schon früh¬
zeitig den Wunsch gehabt habe, die lateinischen Nationen auf mittelbare Weise in
die räumliche Struktur des Empire einzuspannen und dadurch die Lücke zu füllen.
So wäre zugleich, von der Abriegelung Frankreichs aus, indirekt die Gesamt-
nscheinung Jnuereuropa für den Weltraum verkapselt worden. Das Ver¬
hängnisvolle war bloß, daß Jnnereuropa in geschichtlicher Erneuerung seines
Scelenbestcmdes sich selbst bewußt als eine Ganzheit hätte begreifen können, um
damit das überlieferungsgemäße Faktum "Europa" als vereinheitlichte "Welt¬
macht" in das Geschehen des Erdballs zu senden. Diese Gefahr kündigte sich in
den neunziger Jahren an mit den ersten leisen Anzeichen einer "Verständi¬
gung" zwischen Deutschland und Frankreich, wie überhaupt die neunziger Jahre,
da gerade damals Rußland seinen Versuch einer Wandlung von der Extensität
im Intensität unternahm, die schlimmste kritische Zeit für die englische Welt-
stellung gewesen sind.

In den, genannten Jahrzehnt war ein Zusammengehen der beiden inner-
europäischen "Erbfeinde" in manchen weltpolitischen Fragen schon stellenweise
bemerkbar; und eine solche gemeinsame Weltpolitik nach größeren Zielpunkten
wurde, besonders in Afrika und Vorderasien, sehr gut möglich gewesen sein, wenn
^ zwei Erbfeinde sich wirklich hätten finden können. Daß sie es nicht ver¬
mochten, war das wunderbare Geschenk, welches das Weltenschicksal England in
den Schoß warf. Die entscheidende Möglichkeit wurde aus mancherlei Ursachen
verpaßt. Erstens erwies sich das gegenseitige Mißtrauen als zu stark. Zweitens
war das Deutsche Reich bereits 1898 in der Faschoda-Angelegenheit nicht mehr in
d^r Lage, an die französische Seite zu springen, da es durch sein vorhergehendes
Inhalten, anfänglich mit dem sogenannten Helgolandvertrage, längst darauf


Martin Spahn, dessen Blick ein den europäischen Hauptpunkten hängt, setzt
tiir diesen Umschwung der Zeitalter etwa das Jahr 187« an. Aber schnell holte
die- politische Geistigkeit des englischen Volkes die innere Umstellung nach. Ein über¬
empfindliches Bewußtsein von der Gesetzmäßigkeit der Zusammenhänge des Bodens
im Raum und den daraus entstehenden Notwendigkeiten politischer Zielsetzung
wachte auf und machte sich geltend. Der geschärfte Sinn für die Bedrohtheit
der nationalen Leistung schuf in der vorgestellten Idee aus dem bloßen Kolonial¬
reich mit verstreuten Bodenflächsn und Stützpunkten ein raumpolitisches Impe¬
rium. Es ergaben sich die bekannten Zweckinhalte der neuen britischen Welt-
Politik, die nun mit plötzlicher Energie verfolgt und angestrebt wurden: die Linie
»om Kap bis Kairo und von Kairo nach Indien mit der Küstenländerpolitik für
die Beherrschung des Indischen Ozeans, die Linie von Ägypten durch das Mittel-
ländische Meer bis hiu zu den britischen Inseln, die dann, über die der Nordsee
vorgelagerten Riffe hinweg und durch das Vasallentum Norwegens hindurch, die
Umklammerung Europas fortsetzen sollten. So wurden in der Idee, auf deren
Verwirklichung alles ankam, bodenpolitische Zusammenhänge einer Hemisphäre
hergestellt, die gleichzeitig die Vorbedingungen einer weltraumwirtschaftlichen
Auswertung in sich enthielten. In die unmittelbare Verbindung zwischen der
Linie des Mittelländischen Meeres und England selber riß aber der vorgeschobene
Kontinent mit dem Lebensbereich der lateinischen Nationen eine sehr breite Lücke.
Hier steckte eine dem Anschein nach unbegleichbaro Fehlrechnung. Spahn deutet in¬
dessen die interessante Beobachtung an, daß die englische Staatskunst schon früh¬
zeitig den Wunsch gehabt habe, die lateinischen Nationen auf mittelbare Weise in
die räumliche Struktur des Empire einzuspannen und dadurch die Lücke zu füllen.
So wäre zugleich, von der Abriegelung Frankreichs aus, indirekt die Gesamt-
nscheinung Jnuereuropa für den Weltraum verkapselt worden. Das Ver¬
hängnisvolle war bloß, daß Jnnereuropa in geschichtlicher Erneuerung seines
Scelenbestcmdes sich selbst bewußt als eine Ganzheit hätte begreifen können, um
damit das überlieferungsgemäße Faktum „Europa" als vereinheitlichte „Welt¬
macht" in das Geschehen des Erdballs zu senden. Diese Gefahr kündigte sich in
den neunziger Jahren an mit den ersten leisen Anzeichen einer „Verständi¬
gung" zwischen Deutschland und Frankreich, wie überhaupt die neunziger Jahre,
da gerade damals Rußland seinen Versuch einer Wandlung von der Extensität
im Intensität unternahm, die schlimmste kritische Zeit für die englische Welt-
stellung gewesen sind.

In den, genannten Jahrzehnt war ein Zusammengehen der beiden inner-
europäischen „Erbfeinde" in manchen weltpolitischen Fragen schon stellenweise
bemerkbar; und eine solche gemeinsame Weltpolitik nach größeren Zielpunkten
wurde, besonders in Afrika und Vorderasien, sehr gut möglich gewesen sein, wenn
^ zwei Erbfeinde sich wirklich hätten finden können. Daß sie es nicht ver¬
mochten, war das wunderbare Geschenk, welches das Weltenschicksal England in
den Schoß warf. Die entscheidende Möglichkeit wurde aus mancherlei Ursachen
verpaßt. Erstens erwies sich das gegenseitige Mißtrauen als zu stark. Zweitens
war das Deutsche Reich bereits 1898 in der Faschoda-Angelegenheit nicht mehr in
d^r Lage, an die französische Seite zu springen, da es durch sein vorhergehendes
Inhalten, anfänglich mit dem sogenannten Helgolandvertrage, längst darauf


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[0219] Martin Spahn, dessen Blick ein den europäischen Hauptpunkten hängt, setzt tiir diesen Umschwung der Zeitalter etwa das Jahr 187« an. Aber schnell holte die- politische Geistigkeit des englischen Volkes die innere Umstellung nach. Ein über¬ empfindliches Bewußtsein von der Gesetzmäßigkeit der Zusammenhänge des Bodens im Raum und den daraus entstehenden Notwendigkeiten politischer Zielsetzung wachte auf und machte sich geltend. Der geschärfte Sinn für die Bedrohtheit der nationalen Leistung schuf in der vorgestellten Idee aus dem bloßen Kolonial¬ reich mit verstreuten Bodenflächsn und Stützpunkten ein raumpolitisches Impe¬ rium. Es ergaben sich die bekannten Zweckinhalte der neuen britischen Welt- Politik, die nun mit plötzlicher Energie verfolgt und angestrebt wurden: die Linie »om Kap bis Kairo und von Kairo nach Indien mit der Küstenländerpolitik für die Beherrschung des Indischen Ozeans, die Linie von Ägypten durch das Mittel- ländische Meer bis hiu zu den britischen Inseln, die dann, über die der Nordsee vorgelagerten Riffe hinweg und durch das Vasallentum Norwegens hindurch, die Umklammerung Europas fortsetzen sollten. So wurden in der Idee, auf deren Verwirklichung alles ankam, bodenpolitische Zusammenhänge einer Hemisphäre hergestellt, die gleichzeitig die Vorbedingungen einer weltraumwirtschaftlichen Auswertung in sich enthielten. In die unmittelbare Verbindung zwischen der Linie des Mittelländischen Meeres und England selber riß aber der vorgeschobene Kontinent mit dem Lebensbereich der lateinischen Nationen eine sehr breite Lücke. Hier steckte eine dem Anschein nach unbegleichbaro Fehlrechnung. Spahn deutet in¬ dessen die interessante Beobachtung an, daß die englische Staatskunst schon früh¬ zeitig den Wunsch gehabt habe, die lateinischen Nationen auf mittelbare Weise in die räumliche Struktur des Empire einzuspannen und dadurch die Lücke zu füllen. So wäre zugleich, von der Abriegelung Frankreichs aus, indirekt die Gesamt- nscheinung Jnuereuropa für den Weltraum verkapselt worden. Das Ver¬ hängnisvolle war bloß, daß Jnnereuropa in geschichtlicher Erneuerung seines Scelenbestcmdes sich selbst bewußt als eine Ganzheit hätte begreifen können, um damit das überlieferungsgemäße Faktum „Europa" als vereinheitlichte „Welt¬ macht" in das Geschehen des Erdballs zu senden. Diese Gefahr kündigte sich in den neunziger Jahren an mit den ersten leisen Anzeichen einer „Verständi¬ gung" zwischen Deutschland und Frankreich, wie überhaupt die neunziger Jahre, da gerade damals Rußland seinen Versuch einer Wandlung von der Extensität im Intensität unternahm, die schlimmste kritische Zeit für die englische Welt- stellung gewesen sind. In den, genannten Jahrzehnt war ein Zusammengehen der beiden inner- europäischen „Erbfeinde" in manchen weltpolitischen Fragen schon stellenweise bemerkbar; und eine solche gemeinsame Weltpolitik nach größeren Zielpunkten wurde, besonders in Afrika und Vorderasien, sehr gut möglich gewesen sein, wenn ^ zwei Erbfeinde sich wirklich hätten finden können. Daß sie es nicht ver¬ mochten, war das wunderbare Geschenk, welches das Weltenschicksal England in den Schoß warf. Die entscheidende Möglichkeit wurde aus mancherlei Ursachen verpaßt. Erstens erwies sich das gegenseitige Mißtrauen als zu stark. Zweitens war das Deutsche Reich bereits 1898 in der Faschoda-Angelegenheit nicht mehr in d^r Lage, an die französische Seite zu springen, da es durch sein vorhergehendes Inhalten, anfänglich mit dem sogenannten Helgolandvertrage, längst darauf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/219>, abgerufen am 22.12.2024.