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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Europas Lage

Europas Tage
V von

aine hat in seinem berühmten Kapitel über die Wirkungen der
jakobinischen Herrschaft auf den Zustand Frankreichs die Beschreib
dung Frankreichs damit begonnen, daß er das Land verglich mit
einem menschlichen Körper, den man zwingt, den Kopf nach unten
und die Beine nach oben, zu marschieren. Er wird das Kunst
stück eine Zeitlang fertig bringen, bis der Blutandrang nach dem Kopfe, das
allmähliche Absterben der Extremitäten zum Zusammenbruch des ganzen Körpers
führen wird, der schließlich in fürchterlichen Konvulsionen und schrecklichen
Krämpfen sich verzehrt.

So ungefähr kann man heute die wirtschaftliche Wirkung des
Friedens von Versailles illustrieren. Nicht nur auf Deutschland allein, sondern
auf Europa. Keynes erzählt in seinem Buche über die "ökonomischen Folgen des
Friedens", daß, wo immer er während der Friedensverhandlungen die Franzosen
davon zu überzeugen versucht hat. daß dieser Frieden ihnen nicht das bringen
würde, was sie von ihm erwarteten, nämlich ein zählendes und wiedergut¬
machendes Deutschland, er zur Antwort erhielt: aber Deutschland muß zahlen,
denn was soll sonst aus Frankreich werden? -- An einer anderen Stelle zitiert
Keynes die Ausführungen des französischen Finanzministers Klotz, daß die Ge¬
samtforderung der Alliierten an Deutschland sich auf 300 Milliarden Mark be
laufe, und daß Deutschland diese Schuld in 34 Jahresraten von 20 Milliarden
jährlich abzahlen soll, von denen Frankreich 11 Milliarden jährlich erhalten
werde. Keynes kritisiert diese Rede kurz dahin: "Solange solche Äußerungen in
Paris ohne Widerspruch hingenommen werden, kann es keine finanzielle und
ökonomische Zukunft für Frankreich geben und eine Katastrophe der Enttäuschung
'se nicht weit entfernt."

Wird es nur eine Katastrophe der Enttäuschung sein, oder nicht'vielmehr eme
staatliche und wirtschaftliche Katastrophe, genau solche Katastrophe, wie die. in deren
Mitte Deutschland jetzt steht? Wird nicht und muß nicht Frankreich sowohl wieJtaüen
zusammenbrechen, wenn Deutschland zusammenbricht, ohne daß ihm Europa zu
H'lfe kommt? Die trockenen Zahlen, die Keynes für die finanzielle Situation
der beiden Länder gibt, lassen diese Annahme als mehr als wahrscheinlich bei ^
nahe als gewiß erscheinen. Frankreich hatte 1913 einen monatlichen Über
schuß des Imports über den Ervort von 5.1 Millionen Lstr.. 1918 einen so.chen
von 52,5 Millionen Lstr. und im Juli 1919 einen Überschuß von 68,7 Millionen
Lstr. In Italien ist die Entwicklung ganz analog. Die korrespondierenden
Zahlen von 1918 sind 3.7 Millionen Lstr.. 1918 etwa 33.5 Millionen Lstr..
April bis Juni 1919 52.3 und Juli-August 1919 27.8 Millionen Lstr. ^)er
Valutawert des Franken ist heute weniger als zwei Drittel seines früheren
Wertes, der des Lire weit unter der Hälfte. Wenngleich Keynes der Ansicht ist, daß
Großbritannien im ganzen außerhalb dieser ökonomischen europäischen Entwicklung
steht, so ist doch die Entwertung des Pfundes gegenüber den" Dollar ein Zeichen
dafür, daß auch England in gewisser Beziehung sich nicht ganz von Europa
emanzipieren kann.


Europas Lage

Europas Tage
V von

aine hat in seinem berühmten Kapitel über die Wirkungen der
jakobinischen Herrschaft auf den Zustand Frankreichs die Beschreib
dung Frankreichs damit begonnen, daß er das Land verglich mit
einem menschlichen Körper, den man zwingt, den Kopf nach unten
und die Beine nach oben, zu marschieren. Er wird das Kunst
stück eine Zeitlang fertig bringen, bis der Blutandrang nach dem Kopfe, das
allmähliche Absterben der Extremitäten zum Zusammenbruch des ganzen Körpers
führen wird, der schließlich in fürchterlichen Konvulsionen und schrecklichen
Krämpfen sich verzehrt.

So ungefähr kann man heute die wirtschaftliche Wirkung des
Friedens von Versailles illustrieren. Nicht nur auf Deutschland allein, sondern
auf Europa. Keynes erzählt in seinem Buche über die „ökonomischen Folgen des
Friedens", daß, wo immer er während der Friedensverhandlungen die Franzosen
davon zu überzeugen versucht hat. daß dieser Frieden ihnen nicht das bringen
würde, was sie von ihm erwarteten, nämlich ein zählendes und wiedergut¬
machendes Deutschland, er zur Antwort erhielt: aber Deutschland muß zahlen,
denn was soll sonst aus Frankreich werden? — An einer anderen Stelle zitiert
Keynes die Ausführungen des französischen Finanzministers Klotz, daß die Ge¬
samtforderung der Alliierten an Deutschland sich auf 300 Milliarden Mark be
laufe, und daß Deutschland diese Schuld in 34 Jahresraten von 20 Milliarden
jährlich abzahlen soll, von denen Frankreich 11 Milliarden jährlich erhalten
werde. Keynes kritisiert diese Rede kurz dahin: „Solange solche Äußerungen in
Paris ohne Widerspruch hingenommen werden, kann es keine finanzielle und
ökonomische Zukunft für Frankreich geben und eine Katastrophe der Enttäuschung
'se nicht weit entfernt."

Wird es nur eine Katastrophe der Enttäuschung sein, oder nicht'vielmehr eme
staatliche und wirtschaftliche Katastrophe, genau solche Katastrophe, wie die. in deren
Mitte Deutschland jetzt steht? Wird nicht und muß nicht Frankreich sowohl wieJtaüen
zusammenbrechen, wenn Deutschland zusammenbricht, ohne daß ihm Europa zu
H'lfe kommt? Die trockenen Zahlen, die Keynes für die finanzielle Situation
der beiden Länder gibt, lassen diese Annahme als mehr als wahrscheinlich bei ^
nahe als gewiß erscheinen. Frankreich hatte 1913 einen monatlichen Über
schuß des Imports über den Ervort von 5.1 Millionen Lstr.. 1918 einen so.chen
von 52,5 Millionen Lstr. und im Juli 1919 einen Überschuß von 68,7 Millionen
Lstr. In Italien ist die Entwicklung ganz analog. Die korrespondierenden
Zahlen von 1918 sind 3.7 Millionen Lstr.. 1918 etwa 33.5 Millionen Lstr..
April bis Juni 1919 52.3 und Juli-August 1919 27.8 Millionen Lstr. ^)er
Valutawert des Franken ist heute weniger als zwei Drittel seines früheren
Wertes, der des Lire weit unter der Hälfte. Wenngleich Keynes der Ansicht ist, daß
Großbritannien im ganzen außerhalb dieser ökonomischen europäischen Entwicklung
steht, so ist doch die Entwertung des Pfundes gegenüber den» Dollar ein Zeichen
dafür, daß auch England in gewisser Beziehung sich nicht ganz von Europa
emanzipieren kann.


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[0205] Europas Lage Europas Tage V von aine hat in seinem berühmten Kapitel über die Wirkungen der jakobinischen Herrschaft auf den Zustand Frankreichs die Beschreib dung Frankreichs damit begonnen, daß er das Land verglich mit einem menschlichen Körper, den man zwingt, den Kopf nach unten und die Beine nach oben, zu marschieren. Er wird das Kunst stück eine Zeitlang fertig bringen, bis der Blutandrang nach dem Kopfe, das allmähliche Absterben der Extremitäten zum Zusammenbruch des ganzen Körpers führen wird, der schließlich in fürchterlichen Konvulsionen und schrecklichen Krämpfen sich verzehrt. So ungefähr kann man heute die wirtschaftliche Wirkung des Friedens von Versailles illustrieren. Nicht nur auf Deutschland allein, sondern auf Europa. Keynes erzählt in seinem Buche über die „ökonomischen Folgen des Friedens", daß, wo immer er während der Friedensverhandlungen die Franzosen davon zu überzeugen versucht hat. daß dieser Frieden ihnen nicht das bringen würde, was sie von ihm erwarteten, nämlich ein zählendes und wiedergut¬ machendes Deutschland, er zur Antwort erhielt: aber Deutschland muß zahlen, denn was soll sonst aus Frankreich werden? — An einer anderen Stelle zitiert Keynes die Ausführungen des französischen Finanzministers Klotz, daß die Ge¬ samtforderung der Alliierten an Deutschland sich auf 300 Milliarden Mark be laufe, und daß Deutschland diese Schuld in 34 Jahresraten von 20 Milliarden jährlich abzahlen soll, von denen Frankreich 11 Milliarden jährlich erhalten werde. Keynes kritisiert diese Rede kurz dahin: „Solange solche Äußerungen in Paris ohne Widerspruch hingenommen werden, kann es keine finanzielle und ökonomische Zukunft für Frankreich geben und eine Katastrophe der Enttäuschung 'se nicht weit entfernt." Wird es nur eine Katastrophe der Enttäuschung sein, oder nicht'vielmehr eme staatliche und wirtschaftliche Katastrophe, genau solche Katastrophe, wie die. in deren Mitte Deutschland jetzt steht? Wird nicht und muß nicht Frankreich sowohl wieJtaüen zusammenbrechen, wenn Deutschland zusammenbricht, ohne daß ihm Europa zu H'lfe kommt? Die trockenen Zahlen, die Keynes für die finanzielle Situation der beiden Länder gibt, lassen diese Annahme als mehr als wahrscheinlich bei ^ nahe als gewiß erscheinen. Frankreich hatte 1913 einen monatlichen Über schuß des Imports über den Ervort von 5.1 Millionen Lstr.. 1918 einen so.chen von 52,5 Millionen Lstr. und im Juli 1919 einen Überschuß von 68,7 Millionen Lstr. In Italien ist die Entwicklung ganz analog. Die korrespondierenden Zahlen von 1918 sind 3.7 Millionen Lstr.. 1918 etwa 33.5 Millionen Lstr.. April bis Juni 1919 52.3 und Juli-August 1919 27.8 Millionen Lstr. ^)er Valutawert des Franken ist heute weniger als zwei Drittel seines früheren Wertes, der des Lire weit unter der Hälfte. Wenngleich Keynes der Ansicht ist, daß Großbritannien im ganzen außerhalb dieser ökonomischen europäischen Entwicklung steht, so ist doch die Entwertung des Pfundes gegenüber den» Dollar ein Zeichen dafür, daß auch England in gewisser Beziehung sich nicht ganz von Europa emanzipieren kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/205>, abgerufen am 28.07.2024.