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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Georg Cleinow und die Grenzboten

AIs Cleinow an die selbstgewählte Arbeit heranging, war daher hoher
Wellengang in der inneren Politik: Bülow war durch die Konservativen, die
sich der von ihm geplanten Finanzreform widersetzt hatten, gestürzt, der von
ihm geschaffene Block war zerfallen. Die Nachwirkung hiervon war eine
stärkere Betonung der Parteigegensätze und was schlimmer war: ein Zurück¬
treten der von der Blockpolitik stark betonten nationalen Motive. Die inter¬
nationalen Parteien wurden für die ehemaligen Blockparteien bündnisfähig.
Die Konservativen fanden dech Zentrum "auf demselben Weg" und die Linke
verbrüderte sich mit der Sozialdemokratie. Als Bethmann Hollweg ans Ruder
kam, erklärte er offen, daß es ihm bei der Verwirrung und Verhetzung der
Parteien unmöglich sei, sich auf bestimmte Parteien zu stützen, er wollte viel¬
mehr versuchen, durch ein über den Parteien stehendes Regiment -- das heißt,
durch praktische Leistungen -- die Regierungsgeschäfte über die Zeit der
Schwierigkeiten und Wirren hinwegzuführen, aber er mußte bald die Erfahrung
machen, daß er doch immer wieder in das parteipolitische Getriebe hinabgezogen
wurde. Wenn er sich die Aufgabe gestellt hatte, die Sammlung der bürger¬
lichen Parteien zur Richtschnur seiner Politik zu wählen, so ist es ihm tatsächlich
nicht einmal gelungen, diese Sammlung angesichts einer einzigen wichtigen
Aufgabe zustande zu bringen. Die Negierungsautorität wurde aus diese Weise
untergraben, und die Folge waren Vorgänge, wie sie sich im Herbst 1910 in
Berlin abgespielt haben: in Moabit fanden blutige Krawatte statt und die
Staatsgewalt mußte sich drei Nächte lang herumschlagen, ehe die Ordnung
wieder hergestellt war. War dieser Aufruhr als Vorläufer einer Revolution
zu deuten? Cleinow betrachtete die Lage mit um so größerem Ernst, als sich
ihm der Vergleich mit den Zuständen in Nußland nach dem Tode Plehwes
(1904) aufdrängte. Plehwe hatte sich in einer ähnlichen Situation befunden
wie Bülow. "Sie suchten", so schrieb Cleinow, "jeder mit den ihnen durch die
Staatsverfassung zur Verfügung stehenden Mitteln, die Autorität des Staates
aufrecht zu erhalten. Beide wurden gestürzt. An ihre Stelle kamen aber
leine Reformatoren großen Stils, sondern Männer des Ausgleichs, Männer
mit gleichen guten Absichten sür den Staat und die Nation -- aber Männer
ohne starke Initiative. In Rußland Fürst Swjatopolk-Mirski, in Deutschland
Herr von Bethmann Hollweg. Beide gaben die Parole aus: .Vertrauen zur
Regierung und Sammlung der staatserhaltenden Parteien.' Beide zogen sich
alsdann aus der Öffentlichkeit zurück. Beider Beschäftigung während der
Zurückgezogenheit bestand hauptsächlich in der .Reformation' der höchsten
Regierungsorgane! Beide hatten auch das Glück, zwei oder drei tüchtige
Männer für sich zu gewinnen... Zu einer Zusammenfassung der Kräfte, die
besonders bei uns vor einem Jahre noch vorhanden waren, ist aber kein Versuch
gemacht worden. Beide Minister standen auch den modernen Instrumenten der
Staatskunst vollständig ratlos gegenüber. Beide Minister wurden eines schönen
Tages durch .friedliche' Straßendemonstrationen überrascht .... Swjatopolk-


Georg Cleinow und die Grenzboten

AIs Cleinow an die selbstgewählte Arbeit heranging, war daher hoher
Wellengang in der inneren Politik: Bülow war durch die Konservativen, die
sich der von ihm geplanten Finanzreform widersetzt hatten, gestürzt, der von
ihm geschaffene Block war zerfallen. Die Nachwirkung hiervon war eine
stärkere Betonung der Parteigegensätze und was schlimmer war: ein Zurück¬
treten der von der Blockpolitik stark betonten nationalen Motive. Die inter¬
nationalen Parteien wurden für die ehemaligen Blockparteien bündnisfähig.
Die Konservativen fanden dech Zentrum „auf demselben Weg" und die Linke
verbrüderte sich mit der Sozialdemokratie. Als Bethmann Hollweg ans Ruder
kam, erklärte er offen, daß es ihm bei der Verwirrung und Verhetzung der
Parteien unmöglich sei, sich auf bestimmte Parteien zu stützen, er wollte viel¬
mehr versuchen, durch ein über den Parteien stehendes Regiment — das heißt,
durch praktische Leistungen — die Regierungsgeschäfte über die Zeit der
Schwierigkeiten und Wirren hinwegzuführen, aber er mußte bald die Erfahrung
machen, daß er doch immer wieder in das parteipolitische Getriebe hinabgezogen
wurde. Wenn er sich die Aufgabe gestellt hatte, die Sammlung der bürger¬
lichen Parteien zur Richtschnur seiner Politik zu wählen, so ist es ihm tatsächlich
nicht einmal gelungen, diese Sammlung angesichts einer einzigen wichtigen
Aufgabe zustande zu bringen. Die Negierungsautorität wurde aus diese Weise
untergraben, und die Folge waren Vorgänge, wie sie sich im Herbst 1910 in
Berlin abgespielt haben: in Moabit fanden blutige Krawatte statt und die
Staatsgewalt mußte sich drei Nächte lang herumschlagen, ehe die Ordnung
wieder hergestellt war. War dieser Aufruhr als Vorläufer einer Revolution
zu deuten? Cleinow betrachtete die Lage mit um so größerem Ernst, als sich
ihm der Vergleich mit den Zuständen in Nußland nach dem Tode Plehwes
(1904) aufdrängte. Plehwe hatte sich in einer ähnlichen Situation befunden
wie Bülow. „Sie suchten", so schrieb Cleinow, „jeder mit den ihnen durch die
Staatsverfassung zur Verfügung stehenden Mitteln, die Autorität des Staates
aufrecht zu erhalten. Beide wurden gestürzt. An ihre Stelle kamen aber
leine Reformatoren großen Stils, sondern Männer des Ausgleichs, Männer
mit gleichen guten Absichten sür den Staat und die Nation — aber Männer
ohne starke Initiative. In Rußland Fürst Swjatopolk-Mirski, in Deutschland
Herr von Bethmann Hollweg. Beide gaben die Parole aus: .Vertrauen zur
Regierung und Sammlung der staatserhaltenden Parteien.' Beide zogen sich
alsdann aus der Öffentlichkeit zurück. Beider Beschäftigung während der
Zurückgezogenheit bestand hauptsächlich in der .Reformation' der höchsten
Regierungsorgane! Beide hatten auch das Glück, zwei oder drei tüchtige
Männer für sich zu gewinnen... Zu einer Zusammenfassung der Kräfte, die
besonders bei uns vor einem Jahre noch vorhanden waren, ist aber kein Versuch
gemacht worden. Beide Minister standen auch den modernen Instrumenten der
Staatskunst vollständig ratlos gegenüber. Beide Minister wurden eines schönen
Tages durch .friedliche' Straßendemonstrationen überrascht .... Swjatopolk-


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[0019] Georg Cleinow und die Grenzboten AIs Cleinow an die selbstgewählte Arbeit heranging, war daher hoher Wellengang in der inneren Politik: Bülow war durch die Konservativen, die sich der von ihm geplanten Finanzreform widersetzt hatten, gestürzt, der von ihm geschaffene Block war zerfallen. Die Nachwirkung hiervon war eine stärkere Betonung der Parteigegensätze und was schlimmer war: ein Zurück¬ treten der von der Blockpolitik stark betonten nationalen Motive. Die inter¬ nationalen Parteien wurden für die ehemaligen Blockparteien bündnisfähig. Die Konservativen fanden dech Zentrum „auf demselben Weg" und die Linke verbrüderte sich mit der Sozialdemokratie. Als Bethmann Hollweg ans Ruder kam, erklärte er offen, daß es ihm bei der Verwirrung und Verhetzung der Parteien unmöglich sei, sich auf bestimmte Parteien zu stützen, er wollte viel¬ mehr versuchen, durch ein über den Parteien stehendes Regiment — das heißt, durch praktische Leistungen — die Regierungsgeschäfte über die Zeit der Schwierigkeiten und Wirren hinwegzuführen, aber er mußte bald die Erfahrung machen, daß er doch immer wieder in das parteipolitische Getriebe hinabgezogen wurde. Wenn er sich die Aufgabe gestellt hatte, die Sammlung der bürger¬ lichen Parteien zur Richtschnur seiner Politik zu wählen, so ist es ihm tatsächlich nicht einmal gelungen, diese Sammlung angesichts einer einzigen wichtigen Aufgabe zustande zu bringen. Die Negierungsautorität wurde aus diese Weise untergraben, und die Folge waren Vorgänge, wie sie sich im Herbst 1910 in Berlin abgespielt haben: in Moabit fanden blutige Krawatte statt und die Staatsgewalt mußte sich drei Nächte lang herumschlagen, ehe die Ordnung wieder hergestellt war. War dieser Aufruhr als Vorläufer einer Revolution zu deuten? Cleinow betrachtete die Lage mit um so größerem Ernst, als sich ihm der Vergleich mit den Zuständen in Nußland nach dem Tode Plehwes (1904) aufdrängte. Plehwe hatte sich in einer ähnlichen Situation befunden wie Bülow. „Sie suchten", so schrieb Cleinow, „jeder mit den ihnen durch die Staatsverfassung zur Verfügung stehenden Mitteln, die Autorität des Staates aufrecht zu erhalten. Beide wurden gestürzt. An ihre Stelle kamen aber leine Reformatoren großen Stils, sondern Männer des Ausgleichs, Männer mit gleichen guten Absichten sür den Staat und die Nation — aber Männer ohne starke Initiative. In Rußland Fürst Swjatopolk-Mirski, in Deutschland Herr von Bethmann Hollweg. Beide gaben die Parole aus: .Vertrauen zur Regierung und Sammlung der staatserhaltenden Parteien.' Beide zogen sich alsdann aus der Öffentlichkeit zurück. Beider Beschäftigung während der Zurückgezogenheit bestand hauptsächlich in der .Reformation' der höchsten Regierungsorgane! Beide hatten auch das Glück, zwei oder drei tüchtige Männer für sich zu gewinnen... Zu einer Zusammenfassung der Kräfte, die besonders bei uns vor einem Jahre noch vorhanden waren, ist aber kein Versuch gemacht worden. Beide Minister standen auch den modernen Instrumenten der Staatskunst vollständig ratlos gegenüber. Beide Minister wurden eines schönen Tages durch .friedliche' Straßendemonstrationen überrascht .... Swjatopolk-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/19>, abgerufen am 01.09.2024.