Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Der Ring im Westen trachtet. 3. Holland verpflichtet sich, sofort um Aufnahme in den Völkerbund zu Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die belgische Annexionistenpolitik Grenzboten IV 191S 8
Der Ring im Westen trachtet. 3. Holland verpflichtet sich, sofort um Aufnahme in den Völkerbund zu Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die belgische Annexionistenpolitik Grenzboten IV 191S 8
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336387"/> <fw type="header" place="top"> Der Ring im Westen</fw><lb/> <p xml:id="ID_319" prev="#ID_318"> trachtet. 3. Holland verpflichtet sich, sofort um Aufnahme in den Völkerbund zu<lb/> ersuchen. Daraus erhellt, dasz man Holland nötigen will, sich der Koalition der<lb/> westeuropäischen Mächte Frankreich-Belgien und -Italien, dem man in Frankreich<lb/> neuerdings wieder starke Avancen macht, auf Gedeih und Verderb anzuschließen.<lb/> Die Bewilligung von Punkt 2 würde Holland in einem wichtigen Moment der<lb/> freien Entschließungsmöglichkeit berauben und ein Eingehen auf Punkt 3 hieße,<lb/> so lange Deutschland nicht im Völkerbund aufgenommen ist, direkt einer gegen<lb/> Deutschland gerichteten Koalition beitreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_320" next="#ID_321"> Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die belgische Annexionistenpolitik<lb/> nur von einer zwar einflußreichen aber kleinen Clique betrieben wird. Das<lb/> Land braucht Frieden und will ihn wahren und die Chancen eines sieg¬<lb/> reichen Feldzuges gegen Holland sind nicht groß, da Holland sein Heer während<lb/> des Krieges organisiert hat und fest entschlossen scheint, sich ohne äußerste Not<lb/> nichts wider seinen Willen abringen zu lassen. Auch muß man berücksichtigen,<lb/> daß Belgien schwer unter inneren Gegensätzen leidet. Die Arbeiter scheinen sich<lb/> jetzt, nachdem es eine Zeitlang bedrohlich gekriselt hat, allerdings vorläufig wieder<lb/> beruhigt zu haben. Die Lebensbedingungen sind erträglich in Belgien und der<lb/> Praktische Sinn des Belgiers ist leicht davon zu überzeugen, daß für die nächste<lb/> Zeit einmal alles auf eine Steigerung der Erzeugung ankommt. Dafür ist aber<lb/> auch die Flamenfrage in ein überaus kritisches Stadium getreten. Nachdem man<lb/> zunächst den Willen zur belgischen Einheit dadurch behandelt hatte, daß man<lb/> durch Mißhandlungen und Hochverratsprozesse gegen diejenigen Aktivisten vor¬<lb/> ging, die während der deutschen Besetzung mit den Deutschen zusammen an der<lb/> Verwaltungstrennung gearbeitet hatten, an der Genter Hochschule wieder fran¬<lb/> zösische Vorlesungen einführte, und flämisch sprechende Abgeordnete in der Kammer<lb/> niederbrüllte, zeigte es sich, daß die nicht durch Zusammenarbeit mit den<lb/> Deutschen kompromittierten Passivisten auf ihren flämischen Standpunkt beharrten<lb/> und der von van Ccmwelaert seinerzeit in Holland gegründete „Vlaamsch<lb/> Verbond" und die flämische Frontpartei mächtiger waren denn je. Das Blatt<lb/> der Frontpartei „Ons Vaterland" konnte im Frühjahr sogar nach Brüssel verlegt<lb/> werden und als es, da es gemäß dem auch vom „Vlaamsch Verbond" ver¬<lb/> tretenen Programm Aufteilung der Armee in flämische und wallonische Regimenter<lb/> forderte, für Soldaten verboten wurde, gewann es mit einem Schlage auch im<lb/> Heere Tausende von neuen Lesern. In Antwerpen stand es eine Zeitlang so, daß<lb/> auf Ansammlungen von fünf Personen ohne Warnung geschossen werden sollte,<lb/> und in Gent, wo in den ersten Wochen nach einem Bericht der „Rheinisch-<lb/> Westfälischen Zeitung" allein 156 Häuser durch wallonische Soldaten geplündert<lb/> worden sind, konnte die Ordnung nur durch englische und amerikanische Truppen<lb/> aufrecht erhalten werden. Aber gerade in Ostflandern werden die flämischen<lb/> Interessen durch die niedere Geistlichkeit geschützt, die überall im Lande, sehr<lb/> gegen den Willen des Kardinal Mercier, sich der Flamen annimmt und das auch<lb/> tun muß, wenn sie das Volk nicht dem mächtig von Frankreich her eindringenden<lb/> Liberalismus und Freidenkertum in die Arme treiben will. Im Mai ist die<lb/> Kammer allerdings noch nach einer auf Jnterpellation von Cauwelaerts erfolgten<lb/> Regierungserklärung gegen die Verwaltungstrennung, gegen die Trennung im<lb/> Heer, und daß von einer flämischen Hochschule in Gent schon deswegen nicht<lb/> die Rede sein könne, da man dadurch zu sehr die Erinnerung an die deutsche<lb/> Verwaltungszeit aufrütteln würde, mit 71 Stimmen gegen 44 bei 11 Ent¬<lb/> haltungen zur Tagesordnung übergegangen, inzwischen aber hat die flämische<lb/> Bewegung weitere Fortschritte gemacht. Nicht nur hat man in Gent im Sep-<lb/> tember den Versuch gemacht, die wieder französierte Hochschule in die Luft zu<lb/> sprengen, nicht nur hat der Bischof Nullen von Lüttich neuerdings wieder betont,<lb/> daß die Forderungen der Flamen nach kultureller Selbständigkeit, nach flämischer<lb/> Unterrichts-, Gerichts- und Heeressprache völlig berechtigt seien, auch der Kammer-<lb/> Präsident Poullet hat sich unlängst mit der ^s80Liaticm cAtuolicme von Löwen<lb/> Praktisch dem Programm des „Vlaamsch Verbond" angeschlossen und in Roeselaere</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 191S 8</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0097]
Der Ring im Westen
trachtet. 3. Holland verpflichtet sich, sofort um Aufnahme in den Völkerbund zu
ersuchen. Daraus erhellt, dasz man Holland nötigen will, sich der Koalition der
westeuropäischen Mächte Frankreich-Belgien und -Italien, dem man in Frankreich
neuerdings wieder starke Avancen macht, auf Gedeih und Verderb anzuschließen.
Die Bewilligung von Punkt 2 würde Holland in einem wichtigen Moment der
freien Entschließungsmöglichkeit berauben und ein Eingehen auf Punkt 3 hieße,
so lange Deutschland nicht im Völkerbund aufgenommen ist, direkt einer gegen
Deutschland gerichteten Koalition beitreten.
Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die belgische Annexionistenpolitik
nur von einer zwar einflußreichen aber kleinen Clique betrieben wird. Das
Land braucht Frieden und will ihn wahren und die Chancen eines sieg¬
reichen Feldzuges gegen Holland sind nicht groß, da Holland sein Heer während
des Krieges organisiert hat und fest entschlossen scheint, sich ohne äußerste Not
nichts wider seinen Willen abringen zu lassen. Auch muß man berücksichtigen,
daß Belgien schwer unter inneren Gegensätzen leidet. Die Arbeiter scheinen sich
jetzt, nachdem es eine Zeitlang bedrohlich gekriselt hat, allerdings vorläufig wieder
beruhigt zu haben. Die Lebensbedingungen sind erträglich in Belgien und der
Praktische Sinn des Belgiers ist leicht davon zu überzeugen, daß für die nächste
Zeit einmal alles auf eine Steigerung der Erzeugung ankommt. Dafür ist aber
auch die Flamenfrage in ein überaus kritisches Stadium getreten. Nachdem man
zunächst den Willen zur belgischen Einheit dadurch behandelt hatte, daß man
durch Mißhandlungen und Hochverratsprozesse gegen diejenigen Aktivisten vor¬
ging, die während der deutschen Besetzung mit den Deutschen zusammen an der
Verwaltungstrennung gearbeitet hatten, an der Genter Hochschule wieder fran¬
zösische Vorlesungen einführte, und flämisch sprechende Abgeordnete in der Kammer
niederbrüllte, zeigte es sich, daß die nicht durch Zusammenarbeit mit den
Deutschen kompromittierten Passivisten auf ihren flämischen Standpunkt beharrten
und der von van Ccmwelaert seinerzeit in Holland gegründete „Vlaamsch
Verbond" und die flämische Frontpartei mächtiger waren denn je. Das Blatt
der Frontpartei „Ons Vaterland" konnte im Frühjahr sogar nach Brüssel verlegt
werden und als es, da es gemäß dem auch vom „Vlaamsch Verbond" ver¬
tretenen Programm Aufteilung der Armee in flämische und wallonische Regimenter
forderte, für Soldaten verboten wurde, gewann es mit einem Schlage auch im
Heere Tausende von neuen Lesern. In Antwerpen stand es eine Zeitlang so, daß
auf Ansammlungen von fünf Personen ohne Warnung geschossen werden sollte,
und in Gent, wo in den ersten Wochen nach einem Bericht der „Rheinisch-
Westfälischen Zeitung" allein 156 Häuser durch wallonische Soldaten geplündert
worden sind, konnte die Ordnung nur durch englische und amerikanische Truppen
aufrecht erhalten werden. Aber gerade in Ostflandern werden die flämischen
Interessen durch die niedere Geistlichkeit geschützt, die überall im Lande, sehr
gegen den Willen des Kardinal Mercier, sich der Flamen annimmt und das auch
tun muß, wenn sie das Volk nicht dem mächtig von Frankreich her eindringenden
Liberalismus und Freidenkertum in die Arme treiben will. Im Mai ist die
Kammer allerdings noch nach einer auf Jnterpellation von Cauwelaerts erfolgten
Regierungserklärung gegen die Verwaltungstrennung, gegen die Trennung im
Heer, und daß von einer flämischen Hochschule in Gent schon deswegen nicht
die Rede sein könne, da man dadurch zu sehr die Erinnerung an die deutsche
Verwaltungszeit aufrütteln würde, mit 71 Stimmen gegen 44 bei 11 Ent¬
haltungen zur Tagesordnung übergegangen, inzwischen aber hat die flämische
Bewegung weitere Fortschritte gemacht. Nicht nur hat man in Gent im Sep-
tember den Versuch gemacht, die wieder französierte Hochschule in die Luft zu
sprengen, nicht nur hat der Bischof Nullen von Lüttich neuerdings wieder betont,
daß die Forderungen der Flamen nach kultureller Selbständigkeit, nach flämischer
Unterrichts-, Gerichts- und Heeressprache völlig berechtigt seien, auch der Kammer-
Präsident Poullet hat sich unlängst mit der ^s80Liaticm cAtuolicme von Löwen
Praktisch dem Programm des „Vlaamsch Verbond" angeschlossen und in Roeselaere
Grenzboten IV 191S 8
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