Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Die Lehre von Leipzig Erinnerung an die einstige Größe und Selbständigkeit des Vaterlandes aus¬ Die Vorzeit löste den Gegensatz zwischen Soldatenstand und Bürgertum 6*
Die Lehre von Leipzig Erinnerung an die einstige Größe und Selbständigkeit des Vaterlandes aus¬ Die Vorzeit löste den Gegensatz zwischen Soldatenstand und Bürgertum 6*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336349"/> <fw type="header" place="top"> Die Lehre von Leipzig</fw><lb/> <p xml:id="ID_186" prev="#ID_185"> Erinnerung an die einstige Größe und Selbständigkeit des Vaterlandes aus¬<lb/> zulöschen, die den Geist der Ergebung, nicht den der Erhebung in die gedrückten<lb/> Seelen einzupflanzen sucht. Um so weniger darf der nationaldenkende Deutsche,<lb/> der sein Volk liebt, es sich nehmen lassen, immer wieder sich und andere an<lb/> die großen Gedanken zu erinnern, die in unserer geschichtlichen Vergangenheit<lb/> ersichtlich sind und uns auch heute noch große Pflichten auferlegen. Der<lb/> entrechtete und geknechtete preußische Staat im Anfang des neunzehnten Jahr¬<lb/> hunderts hat sieben Jahre der ernsten, vorbereitenden Arbeit gebraucht, ehe<lb/> die politische Lage, der Mann und die Stunde sich einstellten, welche zur Freiheit<lb/> führten. Erst Werktagsarbeit und dann Sturmtagsfahrt sind es gewesen, die<lb/> dem entscheidenden Tage von Leipzig vorangingen. Sieben harte Jahre haben,<lb/> den Preußen von 1806 erst gezeigt, daß sie zusammengehören, daß sie eine<lb/> Nation seien. Das größere Deutschland hat, ehe es an eine neue Freiheit<lb/> denken darf, noch einen ähnlichen Prozeß durchzumachen: wir brauchen zunächst<lb/> einen Sieg.stag über unser Selbst. Wir alle müssen erst noch den Deutschen<lb/> in uns überwinden, nämlich die falsche Art von Weltbürgertum und die<lb/> kleinliche Parteisucht, die im deutschen Wesen so unversteckr enthalten sind.<lb/> Innerlich und äußerlich muß alles Volksfreude bekämpft und ausgeschieden,<lb/> muß einmütiges Wollen erlernt und angefleht, muß die sittliche Notwendigkeit<lb/> einer neuen Erhebung allgemein anerkannt werden — und, sollte sie anstatt<lb/> nach sieben Jahren erst nach sieben Lustren möglich sein! Eben dieserhalb<lb/> sollten wir auch keinen Gedenktag vergangener Größe ohne mahnendes Erinnern<lb/> vorübergehen lassen, sondern uns den Inhalt und Wert solcher nationaler Geschehnisse<lb/> vor Geist und Seele stellen. In diesem Sinne ist der Tag von Leipzig von<lb/> besonderer Bedeutung — nicht so sehr, weil von da „die Viktorie beginnt",<lb/> sondern weil da erst die Schmach endet. Nicht was auf Leipzig folgte, fondern<lb/> der Weg, der bis dorthin zurückzulegen war, ist das lehrhafte für unser heute.<lb/> Freilich werden wir nicht im entferntesten die gleichen Pfade des Aufstiegs<lb/> gehen können; durch den Friedensvertrag und die unter dessen Schwert stehende<lb/> Reichsverfassung sind sie uns nur allzusehr versperrt. Wir wissen jedoch,<lb/> wie viel bei dem Weg allein schon vom Willen abhängt.</p><lb/> <p xml:id="ID_187" next="#ID_188"> Die Vorzeit löste den Gegensatz zwischen Soldatenstand und Bürgertum<lb/> dadurch, daß sie beide vereinigend veredelte: der Wehrstand wurde nur noch<lb/> «us Landeskindern, das Offizierkorps nunmehr auch aus dem gebildeten Bürger¬<lb/> tum ergänzt und dann, zunächst für die Dauer des Krieges, die Wehrpflicht<lb/> allen Berufsständen auferlegt; die Preußen wurden ein Volk in Waffen. Diese<lb/> geistige sittliche Änderung des staatlichen Prinzips vollzog sich unter Führung<lb/> der Krone. Die heutige deutsche Reichsregierung sehen wir andere Wege<lb/> gehen: die Wehrpflicht wird abgeschafft, eine durch Werbung ergänzte Polizei¬<lb/> macht aufgestellt, der Bildungsstand und das Ansehen des Offizierkorps werden<lb/> herabgedrückt. Aus der Nation heraus wird also die Aufgabe übernommen<lb/> werden müssen, für welche bei der Regierung sowohl die Bewegungsfreiheit wie<lb/> auch der staatsmännische Wille fehlt. ' Denn eben die demokratische Gestaltung<lb/> unserer Reichs Verfassung gibt ja der Nation mehr als früher Recht und Pflicht,<lb/> nicht nur mitzuarbeiten, sondern mitzuwollen bei ihrer künftigen politischen<lb/> Entwicklung. Auch wir stehen wieder vor Reformen wie unsere Vorväter<lb/> nach der durch Napoleon den Ersten erlittenen schmählichen Niederlage. Wieder<lb/> handelt es sich um die hohe, aber schwere Aufgabe, „die unveräußerlichen<lb/> Rechte des Individuums und die sittlich-geistigen Ideale der Menschheit mit den<lb/> harten und unbiegsamen Ansprüchen des von Natur egoistischen und heroischen<lb/> Staates in Einklang zu bringen." Es handelt sich aber auch darum, diesen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 6*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0059]
Die Lehre von Leipzig
Erinnerung an die einstige Größe und Selbständigkeit des Vaterlandes aus¬
zulöschen, die den Geist der Ergebung, nicht den der Erhebung in die gedrückten
Seelen einzupflanzen sucht. Um so weniger darf der nationaldenkende Deutsche,
der sein Volk liebt, es sich nehmen lassen, immer wieder sich und andere an
die großen Gedanken zu erinnern, die in unserer geschichtlichen Vergangenheit
ersichtlich sind und uns auch heute noch große Pflichten auferlegen. Der
entrechtete und geknechtete preußische Staat im Anfang des neunzehnten Jahr¬
hunderts hat sieben Jahre der ernsten, vorbereitenden Arbeit gebraucht, ehe
die politische Lage, der Mann und die Stunde sich einstellten, welche zur Freiheit
führten. Erst Werktagsarbeit und dann Sturmtagsfahrt sind es gewesen, die
dem entscheidenden Tage von Leipzig vorangingen. Sieben harte Jahre haben,
den Preußen von 1806 erst gezeigt, daß sie zusammengehören, daß sie eine
Nation seien. Das größere Deutschland hat, ehe es an eine neue Freiheit
denken darf, noch einen ähnlichen Prozeß durchzumachen: wir brauchen zunächst
einen Sieg.stag über unser Selbst. Wir alle müssen erst noch den Deutschen
in uns überwinden, nämlich die falsche Art von Weltbürgertum und die
kleinliche Parteisucht, die im deutschen Wesen so unversteckr enthalten sind.
Innerlich und äußerlich muß alles Volksfreude bekämpft und ausgeschieden,
muß einmütiges Wollen erlernt und angefleht, muß die sittliche Notwendigkeit
einer neuen Erhebung allgemein anerkannt werden — und, sollte sie anstatt
nach sieben Jahren erst nach sieben Lustren möglich sein! Eben dieserhalb
sollten wir auch keinen Gedenktag vergangener Größe ohne mahnendes Erinnern
vorübergehen lassen, sondern uns den Inhalt und Wert solcher nationaler Geschehnisse
vor Geist und Seele stellen. In diesem Sinne ist der Tag von Leipzig von
besonderer Bedeutung — nicht so sehr, weil von da „die Viktorie beginnt",
sondern weil da erst die Schmach endet. Nicht was auf Leipzig folgte, fondern
der Weg, der bis dorthin zurückzulegen war, ist das lehrhafte für unser heute.
Freilich werden wir nicht im entferntesten die gleichen Pfade des Aufstiegs
gehen können; durch den Friedensvertrag und die unter dessen Schwert stehende
Reichsverfassung sind sie uns nur allzusehr versperrt. Wir wissen jedoch,
wie viel bei dem Weg allein schon vom Willen abhängt.
Die Vorzeit löste den Gegensatz zwischen Soldatenstand und Bürgertum
dadurch, daß sie beide vereinigend veredelte: der Wehrstand wurde nur noch
«us Landeskindern, das Offizierkorps nunmehr auch aus dem gebildeten Bürger¬
tum ergänzt und dann, zunächst für die Dauer des Krieges, die Wehrpflicht
allen Berufsständen auferlegt; die Preußen wurden ein Volk in Waffen. Diese
geistige sittliche Änderung des staatlichen Prinzips vollzog sich unter Führung
der Krone. Die heutige deutsche Reichsregierung sehen wir andere Wege
gehen: die Wehrpflicht wird abgeschafft, eine durch Werbung ergänzte Polizei¬
macht aufgestellt, der Bildungsstand und das Ansehen des Offizierkorps werden
herabgedrückt. Aus der Nation heraus wird also die Aufgabe übernommen
werden müssen, für welche bei der Regierung sowohl die Bewegungsfreiheit wie
auch der staatsmännische Wille fehlt. ' Denn eben die demokratische Gestaltung
unserer Reichs Verfassung gibt ja der Nation mehr als früher Recht und Pflicht,
nicht nur mitzuarbeiten, sondern mitzuwollen bei ihrer künftigen politischen
Entwicklung. Auch wir stehen wieder vor Reformen wie unsere Vorväter
nach der durch Napoleon den Ersten erlittenen schmählichen Niederlage. Wieder
handelt es sich um die hohe, aber schwere Aufgabe, „die unveräußerlichen
Rechte des Individuums und die sittlich-geistigen Ideale der Menschheit mit den
harten und unbiegsamen Ansprüchen des von Natur egoistischen und heroischen
Staates in Einklang zu bringen." Es handelt sich aber auch darum, diesen
6*
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |