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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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nationalen Volksverbande eine starke Rechte
(die sogenannte Enludecja oder Luendccja)
zu bilden. Die Hauptgruppe jedoch, welche
obgleich nicht zahlenmäßig stark, doch durch ihre
Stellung und, wie es sich zeigte, voraus¬
sehende Politik stark wurde, waren die Piasten-
anhänger. Die Thuguttleute haben sich zwar
in größerer Zahl eingefunden, gingen aber
den Sozialisten absolut nicht zur Hand, im
Gegenteil, sie näherten sich eher den Piasten-
anhnngsrn.

Dieses Antlitz des Landtages wurde durch
die Ankunft der Posener Abgeordneten nicht
geändert. Die letzteren gingen zur Rechten,
konnten aber die Gewichtsschnle zu ihren
Gunsten nicht herüberziehen. Infolge dieser
ihrer Stellungnahme, sowie infolge ihrer
großpolnischen Kenntnis der Verhältnisse des
Königreiches und Galiziens, schließlich in¬
folge einer zu-hohen Meinung betr. der
Posener Ausgezeichnetheit verstanden sie es,
nicht einmal im kleinen Maßstabe das wirk¬
liche Leiden des Landtages zu beheben, d. h.
den kleinen Prozentsatz der Intelligenz unter
den Abgeordneten.

Hier bietet sich für die pommerschen
Abgeordneten eine dankbare Aufgabe. Zahlen¬
mäßig wird die pommersche Woiwodschaft
nicht viel Abgeordnete (23) liefern, von
welchen man noch einige deutsche abzählen
muß. Aber wenn bei den Wahlen häusliche
Streitigkeiten, persönliche Ambition und
Parteiinteressen auf den zweiten Plan zurück¬
treten, wenn Pommern sich nicht entschließen
wird eine Reihe von Leuten erstklassiger
Intelligenz nach Warschau zu schicken, an
denen es ja doch Gott sei Dank nicht fehlt,
wenn diese Vertretung mit den Volksgruppen
mitwirken wird, dann werden die Pommer¬
schen Abgeordneten dem Landtage und dem
Vaterlande erstklassige Dienste leisten können.

Gegen die halbjährige Tätigkeit des
Landtages wurden zahlreiche und absprechende
Kritiken laut. Es wird ihm vorgeworfen,
daß er keine regierende Mehrheit geschaffen
hat, daß er die Agrarreform beschlossen hat.
Diese Kritiken kommen hauptsächlich aus
Kreisen der Rechten, und ihr tatsächliches
Mark besteht bei dem einen in der Agrar¬
frage und bei den andern in der Nichthin¬
zulassung zur Negierung der sogenannten

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Enludecja (bedeutet nationale Volksdemo¬
kratische Partei -- Anm. d. Übers.).

Wir beabsichtigen nicht in der Rolle von
blinden Anpreisern des Landtages aufzu¬
treten, diese Kritiken scheinen uns aber doch
nicht ganz motiviert zu sein. Die Ver¬
fassung ist zweifelsohne eine der wichtigsten
Aufgaben des sich bildenden Polens. Jedoch
muß man dabei sein Augenmerk auch darauf
richten, daß die Konstitution das Moment
einer gewissen Festigkeit bedeutet. Jedenfalls
kann sie nicht unveränderlich sein; aber eine
Reihe von Jahren dürfte ausreichen. Und
wenn dem so ist, dann muß die Konstitution
einem gewissen Moment von Festigkeit und
Gleichgewicht im öffentlichen Leben ent¬
sprechen. Einen solchen Augenblick gibt es
in Polen jedoch noch nicht. Es ist alles
flüssig, sogar die Grenzen sind noch nicht
festgelegt, und aus den Gebieten, welche
Polen zuerkannt sind, ist noch keine volle
Vertretung vorhanden (außer Pommern).

Überdies muß die Konstitution noch eine
gewisse Kristallisierung des Staatslebens
ausdrücken. Polen besitzt ein Staatsleben
kaum seit einigen Monaten. Die Formen
desselben hatten noch keine Zeit sich festzu¬
legen. Angesichts dessen konnte die Kon¬
stitution ein rein theoretisches Gebilde sein,
d. h. es liegt in ihr die Gefahr, daß sie
das öffentliche Leben erschwert und sich ihm
in den Weg stellen könnte, anstatt dasselbe
auszudrücken. Es könnte leicht dazu kommen,
Was während der französischen Revolution
geschah, daß man Verfügungen schaffte, daß
der Staat aber nicht nach denselben existieren
konnte, da sie theoretische Schöpfungen waren
und die Staatsform in vollem Fluge auf¬
greifen wollten. Anders stellt sich die Fassung
einer kompakten Mehrheit dar, welche es
erlauben würde, eine parlamentarische Ne¬
gierung zu bilden. Dieser Wunsch sieht uns
ans wie ein Reguisitium aus der kaiserlich-
königlich-österreichischen Staatsweisheit. Wenn
die parlamentarische Regierung in der Mon¬
archie notwendig ist, so bringt sie einer Re¬
publik zweifelhaften Nutzen, indem sie auf
geradem Wege zur Omnipotenz des Parla¬
mentarismus und zur Absolvierung der Aus-
führungsgewnlt durch denselben führt. Weder
die Vereinigten Staaten noch die Schweiz

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nationalen Volksverbande eine starke Rechte
(die sogenannte Enludecja oder Luendccja)
zu bilden. Die Hauptgruppe jedoch, welche
obgleich nicht zahlenmäßig stark, doch durch ihre
Stellung und, wie es sich zeigte, voraus¬
sehende Politik stark wurde, waren die Piasten-
anhänger. Die Thuguttleute haben sich zwar
in größerer Zahl eingefunden, gingen aber
den Sozialisten absolut nicht zur Hand, im
Gegenteil, sie näherten sich eher den Piasten-
anhnngsrn.

Dieses Antlitz des Landtages wurde durch
die Ankunft der Posener Abgeordneten nicht
geändert. Die letzteren gingen zur Rechten,
konnten aber die Gewichtsschnle zu ihren
Gunsten nicht herüberziehen. Infolge dieser
ihrer Stellungnahme, sowie infolge ihrer
großpolnischen Kenntnis der Verhältnisse des
Königreiches und Galiziens, schließlich in¬
folge einer zu-hohen Meinung betr. der
Posener Ausgezeichnetheit verstanden sie es,
nicht einmal im kleinen Maßstabe das wirk¬
liche Leiden des Landtages zu beheben, d. h.
den kleinen Prozentsatz der Intelligenz unter
den Abgeordneten.

Hier bietet sich für die pommerschen
Abgeordneten eine dankbare Aufgabe. Zahlen¬
mäßig wird die pommersche Woiwodschaft
nicht viel Abgeordnete (23) liefern, von
welchen man noch einige deutsche abzählen
muß. Aber wenn bei den Wahlen häusliche
Streitigkeiten, persönliche Ambition und
Parteiinteressen auf den zweiten Plan zurück¬
treten, wenn Pommern sich nicht entschließen
wird eine Reihe von Leuten erstklassiger
Intelligenz nach Warschau zu schicken, an
denen es ja doch Gott sei Dank nicht fehlt,
wenn diese Vertretung mit den Volksgruppen
mitwirken wird, dann werden die Pommer¬
schen Abgeordneten dem Landtage und dem
Vaterlande erstklassige Dienste leisten können.

Gegen die halbjährige Tätigkeit des
Landtages wurden zahlreiche und absprechende
Kritiken laut. Es wird ihm vorgeworfen,
daß er keine regierende Mehrheit geschaffen
hat, daß er die Agrarreform beschlossen hat.
Diese Kritiken kommen hauptsächlich aus
Kreisen der Rechten, und ihr tatsächliches
Mark besteht bei dem einen in der Agrar¬
frage und bei den andern in der Nichthin¬
zulassung zur Negierung der sogenannten

[Spaltenumbruch]

Enludecja (bedeutet nationale Volksdemo¬
kratische Partei — Anm. d. Übers.).

Wir beabsichtigen nicht in der Rolle von
blinden Anpreisern des Landtages aufzu¬
treten, diese Kritiken scheinen uns aber doch
nicht ganz motiviert zu sein. Die Ver¬
fassung ist zweifelsohne eine der wichtigsten
Aufgaben des sich bildenden Polens. Jedoch
muß man dabei sein Augenmerk auch darauf
richten, daß die Konstitution das Moment
einer gewissen Festigkeit bedeutet. Jedenfalls
kann sie nicht unveränderlich sein; aber eine
Reihe von Jahren dürfte ausreichen. Und
wenn dem so ist, dann muß die Konstitution
einem gewissen Moment von Festigkeit und
Gleichgewicht im öffentlichen Leben ent¬
sprechen. Einen solchen Augenblick gibt es
in Polen jedoch noch nicht. Es ist alles
flüssig, sogar die Grenzen sind noch nicht
festgelegt, und aus den Gebieten, welche
Polen zuerkannt sind, ist noch keine volle
Vertretung vorhanden (außer Pommern).

Überdies muß die Konstitution noch eine
gewisse Kristallisierung des Staatslebens
ausdrücken. Polen besitzt ein Staatsleben
kaum seit einigen Monaten. Die Formen
desselben hatten noch keine Zeit sich festzu¬
legen. Angesichts dessen konnte die Kon¬
stitution ein rein theoretisches Gebilde sein,
d. h. es liegt in ihr die Gefahr, daß sie
das öffentliche Leben erschwert und sich ihm
in den Weg stellen könnte, anstatt dasselbe
auszudrücken. Es könnte leicht dazu kommen,
Was während der französischen Revolution
geschah, daß man Verfügungen schaffte, daß
der Staat aber nicht nach denselben existieren
konnte, da sie theoretische Schöpfungen waren
und die Staatsform in vollem Fluge auf¬
greifen wollten. Anders stellt sich die Fassung
einer kompakten Mehrheit dar, welche es
erlauben würde, eine parlamentarische Ne¬
gierung zu bilden. Dieser Wunsch sieht uns
ans wie ein Reguisitium aus der kaiserlich-
königlich-österreichischen Staatsweisheit. Wenn
die parlamentarische Regierung in der Mon¬
archie notwendig ist, so bringt sie einer Re¬
publik zweifelhaften Nutzen, indem sie auf
geradem Wege zur Omnipotenz des Parla¬
mentarismus und zur Absolvierung der Aus-
führungsgewnlt durch denselben führt. Weder
die Vereinigten Staaten noch die Schweiz

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[0505] Pressestimmen nationalen Volksverbande eine starke Rechte (die sogenannte Enludecja oder Luendccja) zu bilden. Die Hauptgruppe jedoch, welche obgleich nicht zahlenmäßig stark, doch durch ihre Stellung und, wie es sich zeigte, voraus¬ sehende Politik stark wurde, waren die Piasten- anhänger. Die Thuguttleute haben sich zwar in größerer Zahl eingefunden, gingen aber den Sozialisten absolut nicht zur Hand, im Gegenteil, sie näherten sich eher den Piasten- anhnngsrn. Dieses Antlitz des Landtages wurde durch die Ankunft der Posener Abgeordneten nicht geändert. Die letzteren gingen zur Rechten, konnten aber die Gewichtsschnle zu ihren Gunsten nicht herüberziehen. Infolge dieser ihrer Stellungnahme, sowie infolge ihrer großpolnischen Kenntnis der Verhältnisse des Königreiches und Galiziens, schließlich in¬ folge einer zu-hohen Meinung betr. der Posener Ausgezeichnetheit verstanden sie es, nicht einmal im kleinen Maßstabe das wirk¬ liche Leiden des Landtages zu beheben, d. h. den kleinen Prozentsatz der Intelligenz unter den Abgeordneten. Hier bietet sich für die pommerschen Abgeordneten eine dankbare Aufgabe. Zahlen¬ mäßig wird die pommersche Woiwodschaft nicht viel Abgeordnete (23) liefern, von welchen man noch einige deutsche abzählen muß. Aber wenn bei den Wahlen häusliche Streitigkeiten, persönliche Ambition und Parteiinteressen auf den zweiten Plan zurück¬ treten, wenn Pommern sich nicht entschließen wird eine Reihe von Leuten erstklassiger Intelligenz nach Warschau zu schicken, an denen es ja doch Gott sei Dank nicht fehlt, wenn diese Vertretung mit den Volksgruppen mitwirken wird, dann werden die Pommer¬ schen Abgeordneten dem Landtage und dem Vaterlande erstklassige Dienste leisten können. Gegen die halbjährige Tätigkeit des Landtages wurden zahlreiche und absprechende Kritiken laut. Es wird ihm vorgeworfen, daß er keine regierende Mehrheit geschaffen hat, daß er die Agrarreform beschlossen hat. Diese Kritiken kommen hauptsächlich aus Kreisen der Rechten, und ihr tatsächliches Mark besteht bei dem einen in der Agrar¬ frage und bei den andern in der Nichthin¬ zulassung zur Negierung der sogenannten Enludecja (bedeutet nationale Volksdemo¬ kratische Partei — Anm. d. Übers.). Wir beabsichtigen nicht in der Rolle von blinden Anpreisern des Landtages aufzu¬ treten, diese Kritiken scheinen uns aber doch nicht ganz motiviert zu sein. Die Ver¬ fassung ist zweifelsohne eine der wichtigsten Aufgaben des sich bildenden Polens. Jedoch muß man dabei sein Augenmerk auch darauf richten, daß die Konstitution das Moment einer gewissen Festigkeit bedeutet. Jedenfalls kann sie nicht unveränderlich sein; aber eine Reihe von Jahren dürfte ausreichen. Und wenn dem so ist, dann muß die Konstitution einem gewissen Moment von Festigkeit und Gleichgewicht im öffentlichen Leben ent¬ sprechen. Einen solchen Augenblick gibt es in Polen jedoch noch nicht. Es ist alles flüssig, sogar die Grenzen sind noch nicht festgelegt, und aus den Gebieten, welche Polen zuerkannt sind, ist noch keine volle Vertretung vorhanden (außer Pommern). Überdies muß die Konstitution noch eine gewisse Kristallisierung des Staatslebens ausdrücken. Polen besitzt ein Staatsleben kaum seit einigen Monaten. Die Formen desselben hatten noch keine Zeit sich festzu¬ legen. Angesichts dessen konnte die Kon¬ stitution ein rein theoretisches Gebilde sein, d. h. es liegt in ihr die Gefahr, daß sie das öffentliche Leben erschwert und sich ihm in den Weg stellen könnte, anstatt dasselbe auszudrücken. Es könnte leicht dazu kommen, Was während der französischen Revolution geschah, daß man Verfügungen schaffte, daß der Staat aber nicht nach denselben existieren konnte, da sie theoretische Schöpfungen waren und die Staatsform in vollem Fluge auf¬ greifen wollten. Anders stellt sich die Fassung einer kompakten Mehrheit dar, welche es erlauben würde, eine parlamentarische Ne¬ gierung zu bilden. Dieser Wunsch sieht uns ans wie ein Reguisitium aus der kaiserlich- königlich-österreichischen Staatsweisheit. Wenn die parlamentarische Regierung in der Mon¬ archie notwendig ist, so bringt sie einer Re¬ publik zweifelhaften Nutzen, indem sie auf geradem Wege zur Omnipotenz des Parla¬ mentarismus und zur Absolvierung der Aus- führungsgewnlt durch denselben führt. Weder die Vereinigten Staaten noch die Schweiz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/505>, abgerufen am 15.01.2025.