Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Materialien zur ostdeutschen Frage Mehrheit auch im polnischen Staate die Herrschaft über die Deutschen in die Hand Wie kann man dann aber den Weg zur deutschen Einigung finden? Wir So muß anch bei uns die Einigung durch praktische Arbeit versucht werden: Aber, wird vielleicht jemand sagen, das Beispiel der deutschen Einheits¬ Materialien zur ostdeutschen Frage Mehrheit auch im polnischen Staate die Herrschaft über die Deutschen in die Hand Wie kann man dann aber den Weg zur deutschen Einigung finden? Wir So muß anch bei uns die Einigung durch praktische Arbeit versucht werden: Aber, wird vielleicht jemand sagen, das Beispiel der deutschen Einheits¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0494" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336784"/> <fw type="header" place="top"> Materialien zur ostdeutschen Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_2436" prev="#ID_2435"> Mehrheit auch im polnischen Staate die Herrschaft über die Deutschen in die Hand<lb/> nehmen will und dadurch von vornherein die unerquicklichen Zustände im Reiche<lb/> in das gefährdete Deutschtum in Polen tragen würde, wird auch diese Arbeits¬<lb/> gemeinschaft keine Einigung herbeiführen; denn da wird sich bald dieses oder<lb/> jenes Grüppchen von der Arbeitsgemeinschaft absondern oder ihr gar nicht bei¬<lb/> treten, und dann kommt es wieder zu neuen Auseinandersetzungen und „'Einigungen".<lb/> Es ist ein ganz aussichtsloses Beginnen, in solcher Arbeitsgemeinschaft eine<lb/> Einigung zustande zu bringen. Wohl ist es wünschenswert, daß die „Deutsche<lb/> Partei" in der obersten Spitze, d, h. in der Landesvereinigung, sich an der Arbeits¬<lb/> gemeinschaft beteiligt, um nach außen hin eine einige Front des Deutschtums zu<lb/> bilden. Aber in den einzelnen Kreisen und Orten solche Arbeitsgemeinschaft bilden,<lb/> hieße den Bock zum Gärtner machen. Vor lauter Reden und Streiten würde<lb/> man zu keiner Arbeit kommen. Also noch einmal, man sehe in den politischen<lb/> Einigungsverhandlungen kein Allheilmittel der Einigung und vergeude nicht darin<lb/> seine besten Kräfte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2437"> Wie kann man dann aber den Weg zur deutschen Einigung finden? Wir<lb/> wollen uns die deutschen Einheitsbestrebungen im vorigen Jahrhundert ins Ge¬<lb/> dächtnis zurückrufen. Es hat eine lange Zeit gedauert von 1806, der Auflösung<lb/> des tausendjährigen Deutschen Reiches, bis 1871, zur Wiedererrichtung des deutschen<lb/> Kaisertums. Da ist viel geredet worden, auf den Volksversammlungen und in<lb/> den Parlamenten, besonders in den schwarz-rot-goldenen von 1848 an, aber eine<lb/> Einigung haben diese politischen Versammlungen und Reden nicht gebracht. Vor<lb/> lauter Reden wußte man niemals recht, was man eigentlich wollte, ob großdeutsch<lb/> mit Einschluß Österreichs oder kleindeutsch unter Preußens Führung u. a. in.<lb/> Die wirkliche Einigung ist einen andern Weg gegangen, einen Weg, der schmal<lb/> und verborgen angefangen hat, aber zielstrebig weiter ging und sich immer mehr<lb/> verbreiterte. 1319 erfolgte die Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Ge-<lb/> schichts kunde, man versenkte sich in die große Vergangenheit. 1317 erschienen<lb/> Görres' „Altdeutsche Volks- und Meisterlieder". 1819 Grimms „DeutscheGrammatik".<lb/> Die alten Märchen und Sagen wurden im Volke wieder lebendig gemacht. 1832<lb/> wurde das deutsche Naiionalmuseum in Nürnberg eröffnet. Mit einem Worte,<lb/> man pflegte deutsche Geschichte und Kultur. Daneben fanden fich die einzelnen<lb/> Verufsgruppen zusammen. Die Landwirte, Gelehrten, Voltswirte, Kaufleute,<lb/> Innungen usw. traten zu gemeinsamen deutschen Tagungen zusammen, es ent¬<lb/> standen deutsche Interessengemeinschaften. Ferner schlossen sich die Schützen, Turner,<lb/> Sänger zu eindrucksvoller gesamtdeutschen Schützen-, Turner- und Sängerfesten<lb/> znscunmen. Am wichtigsten war aber der wirtschaftliche Kitt im deutschen Zoll¬<lb/> verein. Auf diesem Wege wurde praktische Einigungsarbeit getan. Bis dann der<lb/> Mann kam, der die deutsche Einheit zusammenschweißte— denn von selber ging<lb/> das auch trotz aller vorhin besprochenen Vorarbeiten nicht — Bismarck, der Schmied<lb/> des Deutschen Reichs.</p><lb/> <p xml:id="ID_2438"> So muß anch bei uns die Einigung durch praktische Arbeit versucht werden:<lb/> Pflege der deutschen Geschichte und Kultur, Zusammenschluß der einzelnen Verufs¬<lb/> gruppen, z. B. deutsche Vereinigungen der Landwirte, Kaufleute, Lehrer, Hand¬<lb/> werker usw. Schaffung eines wirtschaftlichen Ringes. Alles das getränkt von<lb/> dein einen Gedanken: Deutsch. Die politische Einigung kommt dann schließlich<lb/> von selber, wenn das Deutschtum in die Schmiede kommt. Erst wenn die Not<lb/> kommt und den verschiedenen aus^inanderstrebendcn eigenwilligen deutschen Köpfen<lb/> gehörig „eins auf den Kopf gibt", daß sie zusammengestoßen werden, wird eine<lb/> Einigung möglich sein und werden die Deutschen unter einen Hut gebracht<lb/> werden können.</p><lb/> <p xml:id="ID_2439" next="#ID_2440"> Aber, wird vielleicht jemand sagen, das Beispiel der deutschen Einheits¬<lb/> bestrebungen paßt aus uns nicht. Wir werden im polnischen Staate unter ganz<lb/> anderen Bedingungen leben. Nun, der Deutsche ist sich gleich in seinen Vorzügen<lb/> und Fehlern, wo er auch wohnen mag. Darum kann jene deutsche Geschichte<lb/> für uns lehrreich sein. Aber wir wollen anch die polnischen Verhältnisse be-</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0494]
Materialien zur ostdeutschen Frage
Mehrheit auch im polnischen Staate die Herrschaft über die Deutschen in die Hand
nehmen will und dadurch von vornherein die unerquicklichen Zustände im Reiche
in das gefährdete Deutschtum in Polen tragen würde, wird auch diese Arbeits¬
gemeinschaft keine Einigung herbeiführen; denn da wird sich bald dieses oder
jenes Grüppchen von der Arbeitsgemeinschaft absondern oder ihr gar nicht bei¬
treten, und dann kommt es wieder zu neuen Auseinandersetzungen und „'Einigungen".
Es ist ein ganz aussichtsloses Beginnen, in solcher Arbeitsgemeinschaft eine
Einigung zustande zu bringen. Wohl ist es wünschenswert, daß die „Deutsche
Partei" in der obersten Spitze, d, h. in der Landesvereinigung, sich an der Arbeits¬
gemeinschaft beteiligt, um nach außen hin eine einige Front des Deutschtums zu
bilden. Aber in den einzelnen Kreisen und Orten solche Arbeitsgemeinschaft bilden,
hieße den Bock zum Gärtner machen. Vor lauter Reden und Streiten würde
man zu keiner Arbeit kommen. Also noch einmal, man sehe in den politischen
Einigungsverhandlungen kein Allheilmittel der Einigung und vergeude nicht darin
seine besten Kräfte.
Wie kann man dann aber den Weg zur deutschen Einigung finden? Wir
wollen uns die deutschen Einheitsbestrebungen im vorigen Jahrhundert ins Ge¬
dächtnis zurückrufen. Es hat eine lange Zeit gedauert von 1806, der Auflösung
des tausendjährigen Deutschen Reiches, bis 1871, zur Wiedererrichtung des deutschen
Kaisertums. Da ist viel geredet worden, auf den Volksversammlungen und in
den Parlamenten, besonders in den schwarz-rot-goldenen von 1848 an, aber eine
Einigung haben diese politischen Versammlungen und Reden nicht gebracht. Vor
lauter Reden wußte man niemals recht, was man eigentlich wollte, ob großdeutsch
mit Einschluß Österreichs oder kleindeutsch unter Preußens Führung u. a. in.
Die wirkliche Einigung ist einen andern Weg gegangen, einen Weg, der schmal
und verborgen angefangen hat, aber zielstrebig weiter ging und sich immer mehr
verbreiterte. 1319 erfolgte die Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Ge-
schichts kunde, man versenkte sich in die große Vergangenheit. 1317 erschienen
Görres' „Altdeutsche Volks- und Meisterlieder". 1819 Grimms „DeutscheGrammatik".
Die alten Märchen und Sagen wurden im Volke wieder lebendig gemacht. 1832
wurde das deutsche Naiionalmuseum in Nürnberg eröffnet. Mit einem Worte,
man pflegte deutsche Geschichte und Kultur. Daneben fanden fich die einzelnen
Verufsgruppen zusammen. Die Landwirte, Gelehrten, Voltswirte, Kaufleute,
Innungen usw. traten zu gemeinsamen deutschen Tagungen zusammen, es ent¬
standen deutsche Interessengemeinschaften. Ferner schlossen sich die Schützen, Turner,
Sänger zu eindrucksvoller gesamtdeutschen Schützen-, Turner- und Sängerfesten
znscunmen. Am wichtigsten war aber der wirtschaftliche Kitt im deutschen Zoll¬
verein. Auf diesem Wege wurde praktische Einigungsarbeit getan. Bis dann der
Mann kam, der die deutsche Einheit zusammenschweißte— denn von selber ging
das auch trotz aller vorhin besprochenen Vorarbeiten nicht — Bismarck, der Schmied
des Deutschen Reichs.
So muß anch bei uns die Einigung durch praktische Arbeit versucht werden:
Pflege der deutschen Geschichte und Kultur, Zusammenschluß der einzelnen Verufs¬
gruppen, z. B. deutsche Vereinigungen der Landwirte, Kaufleute, Lehrer, Hand¬
werker usw. Schaffung eines wirtschaftlichen Ringes. Alles das getränkt von
dein einen Gedanken: Deutsch. Die politische Einigung kommt dann schließlich
von selber, wenn das Deutschtum in die Schmiede kommt. Erst wenn die Not
kommt und den verschiedenen aus^inanderstrebendcn eigenwilligen deutschen Köpfen
gehörig „eins auf den Kopf gibt", daß sie zusammengestoßen werden, wird eine
Einigung möglich sein und werden die Deutschen unter einen Hut gebracht
werden können.
Aber, wird vielleicht jemand sagen, das Beispiel der deutschen Einheits¬
bestrebungen paßt aus uns nicht. Wir werden im polnischen Staate unter ganz
anderen Bedingungen leben. Nun, der Deutsche ist sich gleich in seinen Vorzügen
und Fehlern, wo er auch wohnen mag. Darum kann jene deutsche Geschichte
für uns lehrreich sein. Aber wir wollen anch die polnischen Verhältnisse be-
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