Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Tschecho-Slowakei Wenn behauptet wird, daß zwar die Klagen der Deutschen über tschechische Tschecho-Slowakei Wenn behauptet wird, daß zwar die Klagen der Deutschen über tschechische <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336628"/> <fw type="header" place="top"> Tschecho-Slowakei</fw><lb/> <p xml:id="ID_1229" next="#ID_1230"> Wenn behauptet wird, daß zwar die Klagen der Deutschen über tschechische<lb/> Bedrückung objektiv berechtigt seien, dann aber gesagt wird: „Aber es liegt doch<lb/> auch im Wesen gewaltsamer und plötzlicher Veränderungen innerhalb eines Staats¬<lb/> wesens begründet, daß sie sich nicht in der Form anpassenden Wachstums, sondern<lb/> als über das eigentliche Ziel hinausgehende Reaktionen vollziehen. Tatsache ist<lb/> doch, daß sich die Tschechen, gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht, unterdrückt ge¬<lb/> fühlt haben; daß sie nun, da sie das Hest in der Hand haben, ihrerseits unter¬<lb/> drücken wollen, liegt in der menschlichen Natur", so fordert hier doch alles zum<lb/> Widerspruche heraus- Ich möchte dagegen folgendes einwenden: Zunächst ist es<lb/> ganz und gar nicht belanglos, ob die Tschechen sich im alten österreichischen Staate<lb/> mit Recht oder Unrecht bedrückt fühlten. In Wirklichkeit fühlten sich vielmehr<lb/> „die Tschechen", d. h. die Masse des tschechischen Volkes überhaupt nicht bedrückt,<lb/> denn sie hatte dazu schon seit Jahrzehnten nicht den geringsten Grund. Die<lb/> Sache liegt vielmehr tiefer und Menenius irrt, weil er die historischen<lb/> Grundlagen nicht kennt oder nicht auf sie Bezug nimmt. Es ist eine uralte Lehre<lb/> des tschechischen Nationalismus, die bis auf das fünfzehnte Jahrhundert zurückgeht<lb/> und zum erstenmal rückhaltslos von Johann Hus, der weit mehr nationaler als<lb/> religiöser Apostel gewesen ist, ausgesprochen wurde, daß die Deutschen in den<lb/> Sudetenländern fremde Eindringlinge seien, die wieder Vertrieben werden müßten.<lb/> Diese aller geschichtlichen Berechtigung entbehrende Lehre wurde sodenn von den<lb/> Führern der tschechischen Bewegung im neunzehnten Jahrhundert aufgenommen<lb/> und bildet die Hauptwaffe in der rücksichtslosen Bekämpfung des sudetenländischen<lb/> Deutschtums. Die Masse des tschechischen Volkes hat sich indessen bis in die neueste<lb/> Zeit keineswegs bedrückt gefühlt, es war vielmehr ausschließlich das Werk der<lb/> Führer, die teils aus rein nationalen, bis zu einem gewissen Grade also idea-.<lb/> listischen, teils aber aus Gründen des Brotneides, also aus nichts weniger als<lb/> idealen Beweggründen, deutschfeindliche Gesinnung künstlich ins Volk trugen. Nun<lb/> kann aber auch von einer Reaktion, wie sie Menenius annimmt, nicht' wohl die<lb/> Rede sein, denn die Bedrängung und Mißhandlung — im vollsten Sinne des<lb/> Wortes — der Deutschen ist keine neue Erscheinung, sie bestand vielmehr bereits<lb/> unter der österreichischen Herrschaft und erfreute sich der stillschweigenden und<lb/> wohlwollenden Duldung der k. k. Negierung ganz ebenso, wie heute der tschecho¬<lb/> slowakischen. Hier handelt es sich also nicht um ein Novum, sondern es läßt sich<lb/> eine strenge Kontinuität feststellen, wenn auch die Formen der Deutschenverfolgung<lb/> heute noch ungeniertere geworden sind. Was den Hinweis auf den letzten<lb/> Kabinettswechsel in Prag und die scheinbar freundlichere Haltung Masaryks und<lb/> des Ministers Benesch gegen die Deutschen betrifft, so gehört die ganze altgewohnte<lb/> Naivität des Reichsdeutschen dazu, um zu glauben, daß die Erklärungen der ge¬<lb/> nannten tschechischen Staatsmänner „auch im Grunde ehrlich gemeint sind"! Wir<lb/> Deutsch-Österreicher wissen durch jahrzehntelange schmerzliche Erfahrung, was wir<lb/> von ihnen zu halten haben. Irrig ist denn auch die Auffassung, als handele eS<lb/> sich bei der Bedrückung der Deutschen um mehr oder weniger häufige Fälle, die<lb/> aber doch nur vorübergehende Ausbrüche des augenblicklich überhitzten tschechischen<lb/> Nationalgefühles seien und keineswegs den Absichten der Regierung entsprächen.<lb/> In Wahrheit handelt es sich vielmehr um ein wohlüberlegtes System und die<lb/> Regierung ist, wenn nicht unmittelbare Veranlasserin dieser Dinge, doch deren<lb/> wohlwollende Zuschauerin. Was die Aufhebung deutscher Schulen betrifft, deren<lb/> Berichtigung „von hier aus", soll wohl heißen von Berlin aus, nicht nachgeprüft<lb/> werden kann, so vermögen wir hier in Wien diese Nachprüfung sehr wohl vor¬<lb/> zunehmen und nehmen sie ständig vor. Die in der Hauptleitung des Deutschen<lb/> Schulvereins, der Schreiber dieses selbst angehört, ständig einlaufenden Berichte<lb/> lassen mit aller nur wünschenswerten Klarheit erkennen, daß in weitaus den<lb/> meisten Fällen reine Gewaltakte ohne jede innere Berechtigung vorliegen. Wenn<lb/> z. B. Schulen, die von mehr als achtzig deutschen Kindern besucht werden, ob¬<lb/> gleich die Zahl von vierzig gesetzlich als Verpflichtung zur Errichtung einer der<lb/> Nationalität der Kinder entsprechenden Schule festgesetzt ist, gesperrt werden, so</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0338]
Tschecho-Slowakei
Wenn behauptet wird, daß zwar die Klagen der Deutschen über tschechische
Bedrückung objektiv berechtigt seien, dann aber gesagt wird: „Aber es liegt doch
auch im Wesen gewaltsamer und plötzlicher Veränderungen innerhalb eines Staats¬
wesens begründet, daß sie sich nicht in der Form anpassenden Wachstums, sondern
als über das eigentliche Ziel hinausgehende Reaktionen vollziehen. Tatsache ist
doch, daß sich die Tschechen, gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht, unterdrückt ge¬
fühlt haben; daß sie nun, da sie das Hest in der Hand haben, ihrerseits unter¬
drücken wollen, liegt in der menschlichen Natur", so fordert hier doch alles zum
Widerspruche heraus- Ich möchte dagegen folgendes einwenden: Zunächst ist es
ganz und gar nicht belanglos, ob die Tschechen sich im alten österreichischen Staate
mit Recht oder Unrecht bedrückt fühlten. In Wirklichkeit fühlten sich vielmehr
„die Tschechen", d. h. die Masse des tschechischen Volkes überhaupt nicht bedrückt,
denn sie hatte dazu schon seit Jahrzehnten nicht den geringsten Grund. Die
Sache liegt vielmehr tiefer und Menenius irrt, weil er die historischen
Grundlagen nicht kennt oder nicht auf sie Bezug nimmt. Es ist eine uralte Lehre
des tschechischen Nationalismus, die bis auf das fünfzehnte Jahrhundert zurückgeht
und zum erstenmal rückhaltslos von Johann Hus, der weit mehr nationaler als
religiöser Apostel gewesen ist, ausgesprochen wurde, daß die Deutschen in den
Sudetenländern fremde Eindringlinge seien, die wieder Vertrieben werden müßten.
Diese aller geschichtlichen Berechtigung entbehrende Lehre wurde sodenn von den
Führern der tschechischen Bewegung im neunzehnten Jahrhundert aufgenommen
und bildet die Hauptwaffe in der rücksichtslosen Bekämpfung des sudetenländischen
Deutschtums. Die Masse des tschechischen Volkes hat sich indessen bis in die neueste
Zeit keineswegs bedrückt gefühlt, es war vielmehr ausschließlich das Werk der
Führer, die teils aus rein nationalen, bis zu einem gewissen Grade also idea-.
listischen, teils aber aus Gründen des Brotneides, also aus nichts weniger als
idealen Beweggründen, deutschfeindliche Gesinnung künstlich ins Volk trugen. Nun
kann aber auch von einer Reaktion, wie sie Menenius annimmt, nicht' wohl die
Rede sein, denn die Bedrängung und Mißhandlung — im vollsten Sinne des
Wortes — der Deutschen ist keine neue Erscheinung, sie bestand vielmehr bereits
unter der österreichischen Herrschaft und erfreute sich der stillschweigenden und
wohlwollenden Duldung der k. k. Negierung ganz ebenso, wie heute der tschecho¬
slowakischen. Hier handelt es sich also nicht um ein Novum, sondern es läßt sich
eine strenge Kontinuität feststellen, wenn auch die Formen der Deutschenverfolgung
heute noch ungeniertere geworden sind. Was den Hinweis auf den letzten
Kabinettswechsel in Prag und die scheinbar freundlichere Haltung Masaryks und
des Ministers Benesch gegen die Deutschen betrifft, so gehört die ganze altgewohnte
Naivität des Reichsdeutschen dazu, um zu glauben, daß die Erklärungen der ge¬
nannten tschechischen Staatsmänner „auch im Grunde ehrlich gemeint sind"! Wir
Deutsch-Österreicher wissen durch jahrzehntelange schmerzliche Erfahrung, was wir
von ihnen zu halten haben. Irrig ist denn auch die Auffassung, als handele eS
sich bei der Bedrückung der Deutschen um mehr oder weniger häufige Fälle, die
aber doch nur vorübergehende Ausbrüche des augenblicklich überhitzten tschechischen
Nationalgefühles seien und keineswegs den Absichten der Regierung entsprächen.
In Wahrheit handelt es sich vielmehr um ein wohlüberlegtes System und die
Regierung ist, wenn nicht unmittelbare Veranlasserin dieser Dinge, doch deren
wohlwollende Zuschauerin. Was die Aufhebung deutscher Schulen betrifft, deren
Berichtigung „von hier aus", soll wohl heißen von Berlin aus, nicht nachgeprüft
werden kann, so vermögen wir hier in Wien diese Nachprüfung sehr wohl vor¬
zunehmen und nehmen sie ständig vor. Die in der Hauptleitung des Deutschen
Schulvereins, der Schreiber dieses selbst angehört, ständig einlaufenden Berichte
lassen mit aller nur wünschenswerten Klarheit erkennen, daß in weitaus den
meisten Fällen reine Gewaltakte ohne jede innere Berechtigung vorliegen. Wenn
z. B. Schulen, die von mehr als achtzig deutschen Kindern besucht werden, ob¬
gleich die Zahl von vierzig gesetzlich als Verpflichtung zur Errichtung einer der
Nationalität der Kinder entsprechenden Schule festgesetzt ist, gesperrt werden, so
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