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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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Nach zehn Jahren

Ideen über die Ostfragen verbreiten konnte. Ein niehrmonatlicher Aufenthalt
in Österreich mit Einschluß Galiziens bestärkte mich in dem Entschluß und als
1909, nach dem Tode von Johannes Grunow, die Grenzboten ihres lang¬
jährigen, unverdrossenen Führers beraubt waren, griff ich um so lieber zu,
als sie mir die Gewähr dafür boten, durch sie zu den damals einflußreichsten
Kreisen Deutschlands sprechen zu können.

Jetzt sind über zehn Jahre verflossen, seit ich die Grenzboten übernahm,
und ich lege den Taktstock in andere Hände, damit sie das begonnene Werk
mit frischen Kräften fortführen mögen, während ich selbst im engeren Kreise
weniger als Publizist, um so intensiver als Tagespolitiker zu wirken gedenke.

Rückschauend auf die Ergebnisse der zehnjährigen Arbeit sind es zwei
Gefühle, die mich bestürmen: Das erschütternde Bewußtwerden, wie wenig der
einzelne gegenüber den mächtigen Zeitströmungen vermag, wie wenig ein
einzelner -- er sei denn ein unterhaltsamer Dichter --.überhaupt imstande ist,
durch noch so emsiges Bemühen mit der Feder der zeitgenössischen Allgemeinheit
zu bieten, und daneben das beschämende Erkennen, wie ungeheuer viel mir
selbst in den zehn Jahren von den Mitarbeitern und Freunden der Zeitschrift
gegeben worden ist, wie viel Dankesschuld sich aufgetürmt hat, gegen alle die
Männer und Frauen, die in den Grenzboten zum Heile der Allgemeinheit mit¬
gearbeitet haben. Diesen Dank an alle Freunde der grünen Hefte mögen,
wenn auch durchaus unvollkommen, diese Zeilen aussprechen.

Das verhängnisvollste Ereignis für meine Bestrebungen in den Grenz¬
boten war der lange vorausgeahnte Ausbruch des Weltkrieges. Er hat uns
im Jahre 1914 aus einer mühsam errungenen Stellung in der politischen
Literatur herausgeworfen. Der Krieg war im Sommer 1914 zu vermeiden,
wenn die deutschen Militärs und Diplomaten die außerordentliche Bereitschaft
des russischen Heeres so hoch bewertet hätten, wie es, gestützt auf meine
eigenen Beobachtungen, in den Grenzboten geschah. Herr von Jagow hätte
andernfalls nicht gewagt, am 19. Juli 1914 an den Fürsten Lichnowski nach
London zu schreiben: ". . . im Grunde ist Nußland jetzt nicht schlagfertig" und
sich vollständig in das Wiener Schlepptau medium, zu, lassen. Als aber die
Kriegsfurie einmal losgelassen war, mußten alle Sonderbestrebungen innen-
und außenpolitischer Natur vor der einen Parole "siegen I" zurücktreten: ich
selbst ging zur Armee.

Während der Kriegsjahre lag die ganze Last der Verantwortung und
Arbeit für die Grenzboten auf den Schultern von Fräulein Dr. Mathilde
Kelchner. Wenn die Grenzboten unter den schwierigen Verhältnissen der fünf
Kriegsjahre durchhalten konnten, so war es ihr Verdienst, die mit ihrem
weiblichen Instinkt, mit dem großen Scharfsinn eines tief gebildeten Menschen
und unendlicher Geduld, Ausdauer und Güte Mitarbeiter gewann und fesselte
und Woche für Woche die wohlgelungenen Hefte herausbrachte. Fräulein
Kelchner hat sich im Interesse der Wahrung der Tradition entschlossen, der


Nach zehn Jahren

Ideen über die Ostfragen verbreiten konnte. Ein niehrmonatlicher Aufenthalt
in Österreich mit Einschluß Galiziens bestärkte mich in dem Entschluß und als
1909, nach dem Tode von Johannes Grunow, die Grenzboten ihres lang¬
jährigen, unverdrossenen Führers beraubt waren, griff ich um so lieber zu,
als sie mir die Gewähr dafür boten, durch sie zu den damals einflußreichsten
Kreisen Deutschlands sprechen zu können.

Jetzt sind über zehn Jahre verflossen, seit ich die Grenzboten übernahm,
und ich lege den Taktstock in andere Hände, damit sie das begonnene Werk
mit frischen Kräften fortführen mögen, während ich selbst im engeren Kreise
weniger als Publizist, um so intensiver als Tagespolitiker zu wirken gedenke.

Rückschauend auf die Ergebnisse der zehnjährigen Arbeit sind es zwei
Gefühle, die mich bestürmen: Das erschütternde Bewußtwerden, wie wenig der
einzelne gegenüber den mächtigen Zeitströmungen vermag, wie wenig ein
einzelner — er sei denn ein unterhaltsamer Dichter —.überhaupt imstande ist,
durch noch so emsiges Bemühen mit der Feder der zeitgenössischen Allgemeinheit
zu bieten, und daneben das beschämende Erkennen, wie ungeheuer viel mir
selbst in den zehn Jahren von den Mitarbeitern und Freunden der Zeitschrift
gegeben worden ist, wie viel Dankesschuld sich aufgetürmt hat, gegen alle die
Männer und Frauen, die in den Grenzboten zum Heile der Allgemeinheit mit¬
gearbeitet haben. Diesen Dank an alle Freunde der grünen Hefte mögen,
wenn auch durchaus unvollkommen, diese Zeilen aussprechen.

Das verhängnisvollste Ereignis für meine Bestrebungen in den Grenz¬
boten war der lange vorausgeahnte Ausbruch des Weltkrieges. Er hat uns
im Jahre 1914 aus einer mühsam errungenen Stellung in der politischen
Literatur herausgeworfen. Der Krieg war im Sommer 1914 zu vermeiden,
wenn die deutschen Militärs und Diplomaten die außerordentliche Bereitschaft
des russischen Heeres so hoch bewertet hätten, wie es, gestützt auf meine
eigenen Beobachtungen, in den Grenzboten geschah. Herr von Jagow hätte
andernfalls nicht gewagt, am 19. Juli 1914 an den Fürsten Lichnowski nach
London zu schreiben: „. . . im Grunde ist Nußland jetzt nicht schlagfertig" und
sich vollständig in das Wiener Schlepptau medium, zu, lassen. Als aber die
Kriegsfurie einmal losgelassen war, mußten alle Sonderbestrebungen innen-
und außenpolitischer Natur vor der einen Parole „siegen I" zurücktreten: ich
selbst ging zur Armee.

Während der Kriegsjahre lag die ganze Last der Verantwortung und
Arbeit für die Grenzboten auf den Schultern von Fräulein Dr. Mathilde
Kelchner. Wenn die Grenzboten unter den schwierigen Verhältnissen der fünf
Kriegsjahre durchhalten konnten, so war es ihr Verdienst, die mit ihrem
weiblichen Instinkt, mit dem großen Scharfsinn eines tief gebildeten Menschen
und unendlicher Geduld, Ausdauer und Güte Mitarbeiter gewann und fesselte
und Woche für Woche die wohlgelungenen Hefte herausbrachte. Fräulein
Kelchner hat sich im Interesse der Wahrung der Tradition entschlossen, der


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[0326] Nach zehn Jahren Ideen über die Ostfragen verbreiten konnte. Ein niehrmonatlicher Aufenthalt in Österreich mit Einschluß Galiziens bestärkte mich in dem Entschluß und als 1909, nach dem Tode von Johannes Grunow, die Grenzboten ihres lang¬ jährigen, unverdrossenen Führers beraubt waren, griff ich um so lieber zu, als sie mir die Gewähr dafür boten, durch sie zu den damals einflußreichsten Kreisen Deutschlands sprechen zu können. Jetzt sind über zehn Jahre verflossen, seit ich die Grenzboten übernahm, und ich lege den Taktstock in andere Hände, damit sie das begonnene Werk mit frischen Kräften fortführen mögen, während ich selbst im engeren Kreise weniger als Publizist, um so intensiver als Tagespolitiker zu wirken gedenke. Rückschauend auf die Ergebnisse der zehnjährigen Arbeit sind es zwei Gefühle, die mich bestürmen: Das erschütternde Bewußtwerden, wie wenig der einzelne gegenüber den mächtigen Zeitströmungen vermag, wie wenig ein einzelner — er sei denn ein unterhaltsamer Dichter —.überhaupt imstande ist, durch noch so emsiges Bemühen mit der Feder der zeitgenössischen Allgemeinheit zu bieten, und daneben das beschämende Erkennen, wie ungeheuer viel mir selbst in den zehn Jahren von den Mitarbeitern und Freunden der Zeitschrift gegeben worden ist, wie viel Dankesschuld sich aufgetürmt hat, gegen alle die Männer und Frauen, die in den Grenzboten zum Heile der Allgemeinheit mit¬ gearbeitet haben. Diesen Dank an alle Freunde der grünen Hefte mögen, wenn auch durchaus unvollkommen, diese Zeilen aussprechen. Das verhängnisvollste Ereignis für meine Bestrebungen in den Grenz¬ boten war der lange vorausgeahnte Ausbruch des Weltkrieges. Er hat uns im Jahre 1914 aus einer mühsam errungenen Stellung in der politischen Literatur herausgeworfen. Der Krieg war im Sommer 1914 zu vermeiden, wenn die deutschen Militärs und Diplomaten die außerordentliche Bereitschaft des russischen Heeres so hoch bewertet hätten, wie es, gestützt auf meine eigenen Beobachtungen, in den Grenzboten geschah. Herr von Jagow hätte andernfalls nicht gewagt, am 19. Juli 1914 an den Fürsten Lichnowski nach London zu schreiben: „. . . im Grunde ist Nußland jetzt nicht schlagfertig" und sich vollständig in das Wiener Schlepptau medium, zu, lassen. Als aber die Kriegsfurie einmal losgelassen war, mußten alle Sonderbestrebungen innen- und außenpolitischer Natur vor der einen Parole „siegen I" zurücktreten: ich selbst ging zur Armee. Während der Kriegsjahre lag die ganze Last der Verantwortung und Arbeit für die Grenzboten auf den Schultern von Fräulein Dr. Mathilde Kelchner. Wenn die Grenzboten unter den schwierigen Verhältnissen der fünf Kriegsjahre durchhalten konnten, so war es ihr Verdienst, die mit ihrem weiblichen Instinkt, mit dem großen Scharfsinn eines tief gebildeten Menschen und unendlicher Geduld, Ausdauer und Güte Mitarbeiter gewann und fesselte und Woche für Woche die wohlgelungenen Hefte herausbrachte. Fräulein Kelchner hat sich im Interesse der Wahrung der Tradition entschlossen, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/326>, abgerufen am 15.01.2025.