Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Neue erzählende Literatur Das Leben der niederen Wiener Großstadtbevölkerung schildert uns ehrlich Zum Schluß ein paar Bücher, von denen dies ohne alle Einschränkung gilt. Neue erzählende Literatur Das Leben der niederen Wiener Großstadtbevölkerung schildert uns ehrlich Zum Schluß ein paar Bücher, von denen dies ohne alle Einschränkung gilt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0321" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336611"/> <fw type="header" place="top"> Neue erzählende Literatur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1178"> Das Leben der niederen Wiener Großstadtbevölkerung schildert uns ehrlich<lb/> Karl Adolphs „Haus Nummer 37« (Anzengruber Verlag. Berlin-Leipzig), das bei<lb/> aller naturalistischen Breite einige Charakterbilder Zeichnet, die das Buch trotzdem<lb/> lesenswert machen. Ins Banat führt uns. ausgezeichnet durch die Charakteristik<lb/> des charakterschwachen Helden — LenauS Vater — und durch vortreffliche und sehr<lb/> anschauliche Schilderung von Land und Leuten Adam Müller-Guttenbrunns Roman<lb/> »Sein Vaterhaus" (L. Staatsmann, Leipzig). Gleichfalls nach Ungarn (und Wien)<lb/> führt uns M. E. delle Grazies „Eines Lebens Sterne« (Breitkopf und Härtel.<lb/> Leipzig l919), die sehr bemerkenswerte, stellenweise anscheinend selbsibivgraphische<lb/> Eniwicklung eines frühreifen, dichterisch begabten Mädchens. Wenn auch das<lb/> Buch eine männlich straffe Führung der Handlung vermissen läßt, mehr Bildchen<lb/> aneinanderreiht als großzügig komponiert, hier und da Klischees verwendet (was<lb/> heißt z. V. „madonnenhafte" Fülle des Haares) und gelegentlich aufdiinglich<lb/> reflektiert, statt das Geschilderte bildhaft auswirken zu lassen, so bringt es doch<lb/> so viele gute Einzelheiten, so viel anschauliche Schilderungen von Menschen und<lb/> Begebenheiten (der beichtende Bauer ist von wilder Großartigkeit, die Ankunft in<lb/> der Wohnung des Wiener Schwagers meisterhaft), daß das Buch warm empfohlen<lb/> werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1179" next="#ID_1180"> Zum Schluß ein paar Bücher, von denen dies ohne alle Einschränkung gilt.<lb/> Paul Ernst zeigt im „Nobelpreis" (Georg Müller Verlag, München), daß er die<lb/> Form der Novelle im alten Sinne vorzüglich beherrscht, sehr gut zu arbeiten,<lb/> trefflich abzurunden und auch menschlich bedeutsames zu geben weiß. Skizzierter<lb/> Fontane und echte Heimatkunst im allerbesten Sinne ist die Ehegeschichte E. von<lb/> Keyserlings „Feiertagskinder" (S. Fischer, Berlin), die mit einer Fülle glänzend<lb/> ^scheuer, scheinbar absichtslos hingesetzter Eunelh neu das Leben der baltischen<lb/> P'ovinzen meisterhaft und einige typische Charaktere mit scharfen Umrissen klar<lb/> Und sehr lebendig wiedergibt. Arthur Schnitzler fängt in einem letzten (erfundenen)<lb/> Abenteuer Casanovas („Casanovas Heimfahrt". S. Fischer, Berlin) wie in<lb/> unen Brennspiegel noch einmal allen Glanz, aber auch olle Frivolität seines viel<lb/> bewunderten und nun wie ein Feuermerk verlöschenden Helden auf, mit so sicherer<lb/> Meisterschaft arbeitend, daß man das Buch gerne neben seine menschlich bedeuten¬<lb/> deren Werke stellen wird. Die giönte Beachtung verdient ein erst während des<lb/> Krieges hervorgetretener Autor Wilhelm Vershofen (sämtliche Werke erschienen<lb/> bei Eugen Diederichs, Jena). Hier ist sowohl gegenständlich wie künstlerisch Reu¬<lb/> end. Mutig, klar und fest geformt, von kühner Phantasie, größter Anschaulichkeit<lb/> und äußerster Knappheit der Mittel. Der „Feuriowolf" schildert die finanzielle<lb/> ^ vberung norwegischer Wasserfälle urd Kraftquellen durch einen deutschen Kapita¬<lb/> lste». Man hat sich gegen die Form — eine anscheinend trockene Aneinander-<lb/> Anhung von Telegrammen. Briefen, Sitzungs- und Versammlungsbei lebten und<lb/> Zeitungsartikeln — gewandt. Mit Unrecht. Denn einmal würden buse Ein¬<lb/> wände gegen alle Romane in Tagebuch- und Briefform, die man doch längst<lb/> anerkannt hat, zutreffen und zweitens hat man verkannt, daß hier durchaus nicht<lb/> ^muasielosigkeit, sondern höchste künstleriiche Ökonomie vorliegt. Es ist nicht<lb/> nötig daß ich den Mann weiiläufig fcdildere, ich erkenne ihn an seinen Taten.<lb/> ist nicht nötig daß ich langstielig berichte: der Kommerzienrat wandte sich nun<lb/> °n seinen Geschäftsträger und .... wenn ich kürzer durch Mitteilui g des<lb/> Dokuments selber ans Ziel gelange. Hier stehen wir endlich einmal in der Aimo-<lb/> Whcire wirklich die.Mett bewegender Tatsachen, hier steht endlich einmal kein Wort<lb/> w'n der bis zum Überdruß geschoberten albernen Liebe, dafür tritt ein neuer<lb/> ^Vieler auf den Plan: die öffentliche Meinung, die in ihrer Eigentümlichkeit klar<lb/> Und nicht ohne Ironie erfaßt ist, Überraschend ist das mitreißende Dnipo. das<lb/> ^'hämmerte, durchweg Gekonnte, die Objektivität, dieBeschränkung auf Wesentliches.<lb/> Änlich in der Formgebung, in der Konzeption noch großartiger ist „Das<lb/> ^ielireich und sein Kanzler". Ein amerikanischer Kopitalist macht hier während<lb/> °er ersten Jahre des Weltkrieges den Versuch. daS gesamte europäische Wirischasts-<lb/> ^pual durch Verlängerung des Krieges nach Amerika überzuführen, um später</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0321]
Neue erzählende Literatur
Das Leben der niederen Wiener Großstadtbevölkerung schildert uns ehrlich
Karl Adolphs „Haus Nummer 37« (Anzengruber Verlag. Berlin-Leipzig), das bei
aller naturalistischen Breite einige Charakterbilder Zeichnet, die das Buch trotzdem
lesenswert machen. Ins Banat führt uns. ausgezeichnet durch die Charakteristik
des charakterschwachen Helden — LenauS Vater — und durch vortreffliche und sehr
anschauliche Schilderung von Land und Leuten Adam Müller-Guttenbrunns Roman
»Sein Vaterhaus" (L. Staatsmann, Leipzig). Gleichfalls nach Ungarn (und Wien)
führt uns M. E. delle Grazies „Eines Lebens Sterne« (Breitkopf und Härtel.
Leipzig l919), die sehr bemerkenswerte, stellenweise anscheinend selbsibivgraphische
Eniwicklung eines frühreifen, dichterisch begabten Mädchens. Wenn auch das
Buch eine männlich straffe Führung der Handlung vermissen läßt, mehr Bildchen
aneinanderreiht als großzügig komponiert, hier und da Klischees verwendet (was
heißt z. V. „madonnenhafte" Fülle des Haares) und gelegentlich aufdiinglich
reflektiert, statt das Geschilderte bildhaft auswirken zu lassen, so bringt es doch
so viele gute Einzelheiten, so viel anschauliche Schilderungen von Menschen und
Begebenheiten (der beichtende Bauer ist von wilder Großartigkeit, die Ankunft in
der Wohnung des Wiener Schwagers meisterhaft), daß das Buch warm empfohlen
werden kann.
Zum Schluß ein paar Bücher, von denen dies ohne alle Einschränkung gilt.
Paul Ernst zeigt im „Nobelpreis" (Georg Müller Verlag, München), daß er die
Form der Novelle im alten Sinne vorzüglich beherrscht, sehr gut zu arbeiten,
trefflich abzurunden und auch menschlich bedeutsames zu geben weiß. Skizzierter
Fontane und echte Heimatkunst im allerbesten Sinne ist die Ehegeschichte E. von
Keyserlings „Feiertagskinder" (S. Fischer, Berlin), die mit einer Fülle glänzend
^scheuer, scheinbar absichtslos hingesetzter Eunelh neu das Leben der baltischen
P'ovinzen meisterhaft und einige typische Charaktere mit scharfen Umrissen klar
Und sehr lebendig wiedergibt. Arthur Schnitzler fängt in einem letzten (erfundenen)
Abenteuer Casanovas („Casanovas Heimfahrt". S. Fischer, Berlin) wie in
unen Brennspiegel noch einmal allen Glanz, aber auch olle Frivolität seines viel
bewunderten und nun wie ein Feuermerk verlöschenden Helden auf, mit so sicherer
Meisterschaft arbeitend, daß man das Buch gerne neben seine menschlich bedeuten¬
deren Werke stellen wird. Die giönte Beachtung verdient ein erst während des
Krieges hervorgetretener Autor Wilhelm Vershofen (sämtliche Werke erschienen
bei Eugen Diederichs, Jena). Hier ist sowohl gegenständlich wie künstlerisch Reu¬
end. Mutig, klar und fest geformt, von kühner Phantasie, größter Anschaulichkeit
und äußerster Knappheit der Mittel. Der „Feuriowolf" schildert die finanzielle
^ vberung norwegischer Wasserfälle urd Kraftquellen durch einen deutschen Kapita¬
lste». Man hat sich gegen die Form — eine anscheinend trockene Aneinander-
Anhung von Telegrammen. Briefen, Sitzungs- und Versammlungsbei lebten und
Zeitungsartikeln — gewandt. Mit Unrecht. Denn einmal würden buse Ein¬
wände gegen alle Romane in Tagebuch- und Briefform, die man doch längst
anerkannt hat, zutreffen und zweitens hat man verkannt, daß hier durchaus nicht
^muasielosigkeit, sondern höchste künstleriiche Ökonomie vorliegt. Es ist nicht
nötig daß ich den Mann weiiläufig fcdildere, ich erkenne ihn an seinen Taten.
ist nicht nötig daß ich langstielig berichte: der Kommerzienrat wandte sich nun
°n seinen Geschäftsträger und .... wenn ich kürzer durch Mitteilui g des
Dokuments selber ans Ziel gelange. Hier stehen wir endlich einmal in der Aimo-
Whcire wirklich die.Mett bewegender Tatsachen, hier steht endlich einmal kein Wort
w'n der bis zum Überdruß geschoberten albernen Liebe, dafür tritt ein neuer
^Vieler auf den Plan: die öffentliche Meinung, die in ihrer Eigentümlichkeit klar
Und nicht ohne Ironie erfaßt ist, Überraschend ist das mitreißende Dnipo. das
^'hämmerte, durchweg Gekonnte, die Objektivität, dieBeschränkung auf Wesentliches.
Änlich in der Formgebung, in der Konzeption noch großartiger ist „Das
^ielireich und sein Kanzler". Ein amerikanischer Kopitalist macht hier während
°er ersten Jahre des Weltkrieges den Versuch. daS gesamte europäische Wirischasts-
^pual durch Verlängerung des Krieges nach Amerika überzuführen, um später
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |