Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Neupolens wirtschaftliche Kräfte Fast drei Fünftel des in Polen landwirtschaftlich genutzten Grund und Eine etwas schwierige Frage stellt die kräftige Entwicklung der Industrie Neupolens wirtschaftliche Kräfte Fast drei Fünftel des in Polen landwirtschaftlich genutzten Grund und Eine etwas schwierige Frage stellt die kräftige Entwicklung der Industrie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336562"/> <fw type="header" place="top"> Neupolens wirtschaftliche Kräfte</fw><lb/> <p xml:id="ID_997"> Fast drei Fünftel des in Polen landwirtschaftlich genutzten Grund und<lb/> Bodens befindet sich in bäuerlichen Händen, daneben steht ein großer Bestand<lb/> an Mittelgütern von 300 bis 1000 Morgen, und eine Latifundienwirtschaft ist<lb/> nur noch in verschwindenden Ausnahmen vorhanden. Der bäuerliche Grundbesitz<lb/> ist dabei in steter Zunahme begriffen, denn wenn auch die polnischen Bauern<lb/> schlechte Wirtschafter sind, so ist doch ein großer Landhunger vorhanden, der aus<lb/> dem durch die Sachsengängorei und die Beschäftigung in den deutschen Industrie-<lb/> bezirken ersparten deutschen Gelde in großem Maßstabe befriedigt werden kann.<lb/> Die neueste Entwicklung hat sogar im russischen Polen bei den ländlichen Ar¬<lb/> beitern bolschewistische Gelüste lebendig werden lassen, und immer lauter werden<lb/> die Stimmen, die eine Nationalisierung des größeren Grundbesitzes und dessen<lb/> Übergang ohne Auflauf in die Hände der Vorwerksknechte und derjenigen fordern,<lb/> die wenig oder gar kein Land besitzen. Wie bereits angedeutet, lebt die Mehrheit<lb/> der polnischen ländlichen Bevölkerung in durchaus ärmlichen Verhältnissen, es<lb/> fehlt an Betriebskapital und an einer befriedigenden Entwicklung des ländlichen<lb/> Kreditwesens, und die russische Regierung hat es sich niemals angelegen sein<lb/> lassen, hier helfend einzugreifen und der bedrohlichen Zunahme eines ländlichen<lb/> Proletariats entgegenzuwirken. Die Landwirtschaft im bisher russischen Polen<lb/> erscheint demnach nicht als eine Stütze des Volkswohlstandes, sondern als ein<lb/> Sorgenkind, das in hohem Maße auf die pflegliche Fürsorge der neuen National¬<lb/> regierung angewiesen ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_998"> Eine etwas schwierige Frage stellt die kräftige Entwicklung der Industrie<lb/> in den bisher russisch-polnischen Gebieten dar. Diese polnische Industrie, die<lb/> man doch wohl mit unrecht als eine Treibhauspflanze hat ansprechen wollen,<lb/> verdankte allerdings ihre Entstehung zunächst der hohen Zollmauer, die gegen<lb/> Westen errichtet wurde, doch hat sie, von russischen Rohstoffen versorgt, einer<lb/> überaus zahlreichen Kundschaft gegenüber deren immerhin bescheidene Bedürfnisse<lb/> in zufriedenstellender Weise befriedigen können. Die gegen westeuropäische Er¬<lb/> zeugnisse verhältnismäßig hohen Preise wurden nicht als drückend empfunden,<lb/> und den Nachteil vom Erstarken dieser Betriebe hatten nur die Ausfuhrkaufleute<lb/> in den westlichen Industriegebieten, denen die russische Kundschaft mehr und mehr<lb/> verloren ging. Nur zum Teil auf russisches Kapital sich stützend und deshalb<lb/> von den „nationalen" Unternehmern als „fremdländisch" angefeindet, hatte doch<lb/> diese polnische Industrie sich im Vergleich zu dem Moskaner und Petersburger<lb/> Bezirk, wenn man den Flächenraum in Betracht zieht, am nachhaltigsten ent¬<lb/> wickelt, während sie mit dem Wert ihrer Erzeugnisse trotz einer im Verhältnis<lb/> zu den andern geringen Arbeiterzahl die dritte Stelle einnahm. Der<lb/> Wert der Erzeugung der polnischen Fabriken wurde im Beginn des zwan¬<lb/> zigsten Jahrhunderts mit 425 Millionen Rubeln, das ist etwas mehr als ein<lb/> Siebentel der Erzeugung des gesamten Rußlands berechnet. Bis 1910 hatte sich<lb/> der Wert dieser Erzeugung aus 860 Millionen gesteigert. Unter den in Polen sich<lb/> betätigenden Industrien nimmt die Weberei weitaus die erste Stelle ein. Ihr<lb/> Hauptsitz war Lodz, wo diese im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts durch<lb/> Weber aus Deutsch-Böhmen und Sachsen zur Einführung gelangt war, und sich<lb/> bald zur Großindustrie entwickelte. Als die russische Zollpolitik am Ende der<lb/> siebziger Jahre deutsches und französisches Kapital aber auch jüdische Kaufleute<lb/> und polnische Bauern in Scharen nach dem erblühenden Mittelpunkt des Gewerbe¬<lb/> fleißes lockte, bildete doch die Tüchtigkeit der deutschen Fabrikbesitzer das Rückgrat<lb/> der Entwicklung, mit der sie dem durch Vergünstigungen der Regierung verwöhnten<lb/> Fabrikanten des Moskaner Bezirks die Wage hielten. Vor dem Kriege befand<lb/> sich ein Drittel der Lodzer Fabriken, aber unter ihnen fast alle Großbetriebe um<lb/> nahezu drei Fünfteln der gesamten Erzeugung, in deutschen Händen. Von der<lb/> verhältnismäßigen Entwicklung der deutschen und der polnischen Industrie mögen<lb/> die nachstehenden Ziffern eine Vorstellung gewähren. Es beschäftigten to<lb/> Jahre 1910:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0272]
Neupolens wirtschaftliche Kräfte
Fast drei Fünftel des in Polen landwirtschaftlich genutzten Grund und
Bodens befindet sich in bäuerlichen Händen, daneben steht ein großer Bestand
an Mittelgütern von 300 bis 1000 Morgen, und eine Latifundienwirtschaft ist
nur noch in verschwindenden Ausnahmen vorhanden. Der bäuerliche Grundbesitz
ist dabei in steter Zunahme begriffen, denn wenn auch die polnischen Bauern
schlechte Wirtschafter sind, so ist doch ein großer Landhunger vorhanden, der aus
dem durch die Sachsengängorei und die Beschäftigung in den deutschen Industrie-
bezirken ersparten deutschen Gelde in großem Maßstabe befriedigt werden kann.
Die neueste Entwicklung hat sogar im russischen Polen bei den ländlichen Ar¬
beitern bolschewistische Gelüste lebendig werden lassen, und immer lauter werden
die Stimmen, die eine Nationalisierung des größeren Grundbesitzes und dessen
Übergang ohne Auflauf in die Hände der Vorwerksknechte und derjenigen fordern,
die wenig oder gar kein Land besitzen. Wie bereits angedeutet, lebt die Mehrheit
der polnischen ländlichen Bevölkerung in durchaus ärmlichen Verhältnissen, es
fehlt an Betriebskapital und an einer befriedigenden Entwicklung des ländlichen
Kreditwesens, und die russische Regierung hat es sich niemals angelegen sein
lassen, hier helfend einzugreifen und der bedrohlichen Zunahme eines ländlichen
Proletariats entgegenzuwirken. Die Landwirtschaft im bisher russischen Polen
erscheint demnach nicht als eine Stütze des Volkswohlstandes, sondern als ein
Sorgenkind, das in hohem Maße auf die pflegliche Fürsorge der neuen National¬
regierung angewiesen ist.
Eine etwas schwierige Frage stellt die kräftige Entwicklung der Industrie
in den bisher russisch-polnischen Gebieten dar. Diese polnische Industrie, die
man doch wohl mit unrecht als eine Treibhauspflanze hat ansprechen wollen,
verdankte allerdings ihre Entstehung zunächst der hohen Zollmauer, die gegen
Westen errichtet wurde, doch hat sie, von russischen Rohstoffen versorgt, einer
überaus zahlreichen Kundschaft gegenüber deren immerhin bescheidene Bedürfnisse
in zufriedenstellender Weise befriedigen können. Die gegen westeuropäische Er¬
zeugnisse verhältnismäßig hohen Preise wurden nicht als drückend empfunden,
und den Nachteil vom Erstarken dieser Betriebe hatten nur die Ausfuhrkaufleute
in den westlichen Industriegebieten, denen die russische Kundschaft mehr und mehr
verloren ging. Nur zum Teil auf russisches Kapital sich stützend und deshalb
von den „nationalen" Unternehmern als „fremdländisch" angefeindet, hatte doch
diese polnische Industrie sich im Vergleich zu dem Moskaner und Petersburger
Bezirk, wenn man den Flächenraum in Betracht zieht, am nachhaltigsten ent¬
wickelt, während sie mit dem Wert ihrer Erzeugnisse trotz einer im Verhältnis
zu den andern geringen Arbeiterzahl die dritte Stelle einnahm. Der
Wert der Erzeugung der polnischen Fabriken wurde im Beginn des zwan¬
zigsten Jahrhunderts mit 425 Millionen Rubeln, das ist etwas mehr als ein
Siebentel der Erzeugung des gesamten Rußlands berechnet. Bis 1910 hatte sich
der Wert dieser Erzeugung aus 860 Millionen gesteigert. Unter den in Polen sich
betätigenden Industrien nimmt die Weberei weitaus die erste Stelle ein. Ihr
Hauptsitz war Lodz, wo diese im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts durch
Weber aus Deutsch-Böhmen und Sachsen zur Einführung gelangt war, und sich
bald zur Großindustrie entwickelte. Als die russische Zollpolitik am Ende der
siebziger Jahre deutsches und französisches Kapital aber auch jüdische Kaufleute
und polnische Bauern in Scharen nach dem erblühenden Mittelpunkt des Gewerbe¬
fleißes lockte, bildete doch die Tüchtigkeit der deutschen Fabrikbesitzer das Rückgrat
der Entwicklung, mit der sie dem durch Vergünstigungen der Regierung verwöhnten
Fabrikanten des Moskaner Bezirks die Wage hielten. Vor dem Kriege befand
sich ein Drittel der Lodzer Fabriken, aber unter ihnen fast alle Großbetriebe um
nahezu drei Fünfteln der gesamten Erzeugung, in deutschen Händen. Von der
verhältnismäßigen Entwicklung der deutschen und der polnischen Industrie mögen
die nachstehenden Ziffern eine Vorstellung gewähren. Es beschäftigten to
Jahre 1910:
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