Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.England verlieren und durch eintretende Schwächung der Gewerkschastsautorität die ganze England verlieren und durch eintretende Schwächung der Gewerkschastsautorität die ganze <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336540"/> <fw type="header" place="top"> England</fw><lb/> <p xml:id="ID_927" prev="#ID_926" next="#ID_928"> verlieren und durch eintretende Schwächung der Gewerkschastsautorität die ganze<lb/> Arbeiterbewegung zu spalten, nicht bieten lassen und forderten in der Form eines<lb/> Ultimatums neue Vorschlage der Negierung. Diese aber ließ das ganze Land<lb/> wissen, daß ihre letzten Vorschläge zu den siebenundvierzig Millionen Vorkriegs¬<lb/> löhnen einschließlich der durch Einführung des Stundentages, der Erhöhung der<lb/> Nachtschichten usw. erforderten Vermehrung eine Gesamtlohnerhöhung von<lb/> fünfundsechzig Millionen Pfund bedeuteten und blieb fest. Der Streik brach aus<lb/> und hatte, während das Publikum sich heroisch benahm und wie immer, wenn<lb/> in England wirklich Nut am Mann ist, die Regierung rückhaltlos und tätig<lb/> stützte, sofort die gesamte öffentliche Meinung gegen sich. Eine Kampfesmethode,<lb/> die das gesamte Leben des Landes lahmlegte, erschien als allem parlamentarischen<lb/> Usus widersprechend und unfair und man fragte sich, was aus England werden<lb/> würde, wenn solche Methoden einrissen und beispielsweise bei Wahlniederlagen<lb/> etwa alle Liberalen oder alle Konservativen auf einmal nicht mehr mittun wollten.<lb/> Die Arbeiter fühlten das recht wohl und gaben sich bereits nach wenigen Tagen<lb/> mit einem Kompromiß zufrieden: die Verhandlungen sollten fortgesetzt werden,<lb/> während die gegenwärtigen Löhne bis September 1920 beibehalten werden<lb/> und dann erst abgebaut werden sollen, wenn inzwischen die Preise für die Lebens¬<lb/> haltung gesunken sind. Praktisch ist damit für die Regierung allerdings nichts<lb/> erreicht: Ob die Preise sich tatsächlich beträchtlich senken werden, erscheint bei<lb/> der schlechter werdenden englischen Valuta und der immer noch in wichtigen<lb/> Wirtschaftszweigen, zum Beispiel in der Bergwerksindustrie herrschenden Unruhe<lb/> zweifelhaft, und im übrigen ist die ganze Angelegenheit ja nach wie vor in<lb/> der Schwebe, aber politisch zeigt sich der Erfolg nicht nur in dem Koalitions¬<lb/> sieg bei der letzten unmittelbar unter dem Eindruck des Eisenbahnerstreiks<lb/> stehenden Ersatzwahl in Rusholme, sondern auch in den inzwischen bekannt ge¬<lb/> wordenen Äußerungen Lloyd Georges zur Bergwerksnationalisierung. Über die<lb/> Grundzüge des Problems ist an dieser Stelle, Grenzboten Heft 32, gehandelt<lb/> worden. Auf dem Gewerkschaftskongreß im Oktober nun, der sich mit über¬<lb/> wältigender Mehrheit für die Ergebnisse Sanheys ausgesprochen hat, ist Lloyd<lb/> George nicht nur von diesem, sondern sogar von dem weit gemäßigteren<lb/> Duckhani'Schema, das an Stelle der Nationalisierung der Bergwerke nur eine<lb/> staatliche Kontrolle einführen wollte, abgerückt und der Eisenbahnerstreik gab ihm<lb/> eine willkommene Gelegenheit, darauf hinzuweisen, ein wie gefährliches Experiment<lb/> eine Verstaatlichung sein würde. Daß trotz des Abstimmungsergebnisses die<lb/> extremistischen Vertreter der direkten Aktion auch sonst an Einfluß verloren haben,<lb/> beweist die ebenfalls auf dem Kongreß gehaltene Rede des Jahrespräsidenten<lb/> Stuart Bunning, der die direkte Aktion mit Recht als Verneinung des parla¬<lb/> mentarischen Negierungssystems kennzeichnete. „Ein berühmter Mann", hieß es<lb/> weiter, „hat die Fähigkeit, rechtzeitig anzuhalten, als das Geheimnis des Er¬<lb/> folgs der parlamentarischen Institutionen Englands in der Vergangenheit erklärt.<lb/> Hoffen wir, daß die organisierte Arbeiterschaft zur rechten Zeit anhalten wird.<lb/> Die Politik der Herren Smillie, Hodges und Williams ist so unzweideutig<lb/> staatsfeindlich, daß wir nicht verstehen, warum man sie nicht auf Grund des<lb/> Landcsverteidigungsgesetzes, solange es noch in Kraft ist, fistnimmt. Die<lb/> Naturalisierungspolitik ist überraschend einfach. Das Vereinigte Königreich zählt<lb/> jetzt einige zwanzig Millionen Wahlberechtigte. Die Gewerkschaften haben sicher<lb/> fünf Millionen Mitglieder, vielleicht noch mehr. Nun sind 2ö Prozent der Ge-<lb/> samtstimmen völlig hinreichend, um jede Regierung zu stürzen und jede Regierung<lb/> zur Herrschaft zu bringen. Smillie und Genossen wollen in der britischen Politik<lb/> die Rolle spielen, die Parnell und die irischen Nationalisten so lange und so<lb/> wirksam gespielt haben: im Spiel der Kräfte den Ausschlag zu geben und ihre<lb/> Stimme in die Wagschale derjenigen Partei zu werfen, die ihnen das meiste<lb/> verspricht und gibt." Daß dies System zum Bankerott führen muß, ist selbst<lb/> den oppositionell gesinnten Liberalen klar, und da die Arbeiterpartei selber ihnen<lb/> im September das Wahlbündnis verweigert hat, werden sie, um nicht noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0250]
England
verlieren und durch eintretende Schwächung der Gewerkschastsautorität die ganze
Arbeiterbewegung zu spalten, nicht bieten lassen und forderten in der Form eines
Ultimatums neue Vorschlage der Negierung. Diese aber ließ das ganze Land
wissen, daß ihre letzten Vorschläge zu den siebenundvierzig Millionen Vorkriegs¬
löhnen einschließlich der durch Einführung des Stundentages, der Erhöhung der
Nachtschichten usw. erforderten Vermehrung eine Gesamtlohnerhöhung von
fünfundsechzig Millionen Pfund bedeuteten und blieb fest. Der Streik brach aus
und hatte, während das Publikum sich heroisch benahm und wie immer, wenn
in England wirklich Nut am Mann ist, die Regierung rückhaltlos und tätig
stützte, sofort die gesamte öffentliche Meinung gegen sich. Eine Kampfesmethode,
die das gesamte Leben des Landes lahmlegte, erschien als allem parlamentarischen
Usus widersprechend und unfair und man fragte sich, was aus England werden
würde, wenn solche Methoden einrissen und beispielsweise bei Wahlniederlagen
etwa alle Liberalen oder alle Konservativen auf einmal nicht mehr mittun wollten.
Die Arbeiter fühlten das recht wohl und gaben sich bereits nach wenigen Tagen
mit einem Kompromiß zufrieden: die Verhandlungen sollten fortgesetzt werden,
während die gegenwärtigen Löhne bis September 1920 beibehalten werden
und dann erst abgebaut werden sollen, wenn inzwischen die Preise für die Lebens¬
haltung gesunken sind. Praktisch ist damit für die Regierung allerdings nichts
erreicht: Ob die Preise sich tatsächlich beträchtlich senken werden, erscheint bei
der schlechter werdenden englischen Valuta und der immer noch in wichtigen
Wirtschaftszweigen, zum Beispiel in der Bergwerksindustrie herrschenden Unruhe
zweifelhaft, und im übrigen ist die ganze Angelegenheit ja nach wie vor in
der Schwebe, aber politisch zeigt sich der Erfolg nicht nur in dem Koalitions¬
sieg bei der letzten unmittelbar unter dem Eindruck des Eisenbahnerstreiks
stehenden Ersatzwahl in Rusholme, sondern auch in den inzwischen bekannt ge¬
wordenen Äußerungen Lloyd Georges zur Bergwerksnationalisierung. Über die
Grundzüge des Problems ist an dieser Stelle, Grenzboten Heft 32, gehandelt
worden. Auf dem Gewerkschaftskongreß im Oktober nun, der sich mit über¬
wältigender Mehrheit für die Ergebnisse Sanheys ausgesprochen hat, ist Lloyd
George nicht nur von diesem, sondern sogar von dem weit gemäßigteren
Duckhani'Schema, das an Stelle der Nationalisierung der Bergwerke nur eine
staatliche Kontrolle einführen wollte, abgerückt und der Eisenbahnerstreik gab ihm
eine willkommene Gelegenheit, darauf hinzuweisen, ein wie gefährliches Experiment
eine Verstaatlichung sein würde. Daß trotz des Abstimmungsergebnisses die
extremistischen Vertreter der direkten Aktion auch sonst an Einfluß verloren haben,
beweist die ebenfalls auf dem Kongreß gehaltene Rede des Jahrespräsidenten
Stuart Bunning, der die direkte Aktion mit Recht als Verneinung des parla¬
mentarischen Negierungssystems kennzeichnete. „Ein berühmter Mann", hieß es
weiter, „hat die Fähigkeit, rechtzeitig anzuhalten, als das Geheimnis des Er¬
folgs der parlamentarischen Institutionen Englands in der Vergangenheit erklärt.
Hoffen wir, daß die organisierte Arbeiterschaft zur rechten Zeit anhalten wird.
Die Politik der Herren Smillie, Hodges und Williams ist so unzweideutig
staatsfeindlich, daß wir nicht verstehen, warum man sie nicht auf Grund des
Landcsverteidigungsgesetzes, solange es noch in Kraft ist, fistnimmt. Die
Naturalisierungspolitik ist überraschend einfach. Das Vereinigte Königreich zählt
jetzt einige zwanzig Millionen Wahlberechtigte. Die Gewerkschaften haben sicher
fünf Millionen Mitglieder, vielleicht noch mehr. Nun sind 2ö Prozent der Ge-
samtstimmen völlig hinreichend, um jede Regierung zu stürzen und jede Regierung
zur Herrschaft zu bringen. Smillie und Genossen wollen in der britischen Politik
die Rolle spielen, die Parnell und die irischen Nationalisten so lange und so
wirksam gespielt haben: im Spiel der Kräfte den Ausschlag zu geben und ihre
Stimme in die Wagschale derjenigen Partei zu werfen, die ihnen das meiste
verspricht und gibt." Daß dies System zum Bankerott führen muß, ist selbst
den oppositionell gesinnten Liberalen klar, und da die Arbeiterpartei selber ihnen
im September das Wahlbündnis verweigert hat, werden sie, um nicht noch
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