Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.England Atmosphäre, für den starken, wenn auch nicht nachhaltigen Einfluß der Extremisten, Grenzboten IV 1919 20
England Atmosphäre, für den starken, wenn auch nicht nachhaltigen Einfluß der Extremisten, Grenzboten IV 1919 20
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336539"/> <fw type="header" place="top"> England</fw><lb/> <p xml:id="ID_926" prev="#ID_925" next="#ID_927"> Atmosphäre, für den starken, wenn auch nicht nachhaltigen Einfluß der Extremisten,<lb/> die wohl Kraft genug zu starken Vorstoßen haben, aber wie auch bei ihren<lb/> Forderungen nach „direkter Aktion" und anläßlich der Generalstreikdrohung zur<lb/> Erzwingung der Einstellung einer Autibolschewistenpolitik deutlich geworden ist,<lb/> das Land sofort gegen sich haben, wenn sie Miene machen, die öffentliche Meinung<lb/> zu vergewaltigen, für den vorläufig noch schwebenden Charakter der Arbeiterfragen,<lb/> für die Nervosität der Arbeiterführer, die Entschlossenheit der Regierung, sich nicht<lb/> überrumpeln zu lassen, sowie endlich für die wahrhaft bewundernswerte zivilisierte<lb/> Disziplin, die sowohl die Arbeitermassen wie das Publikum bewiesen haben. Da<lb/> der Eisenbahnerstreik die Schwierigkeiten, denen sich die Regierung gegenüber be¬<lb/> findet, deutlich zutage treten läßt, ist es gut, etwas näher auf ihn einzugehen.<lb/> Schon vor dem Kriege waren die Löhne der Eisenbahner verbesserungsbedürftig<lb/> erschienen. Der festus amo sollte bis zum November 1914 laufen und dann<lb/> irgendwie geändert werden. Als der Krieg ausbrach, erklärten die Arbeiter im<lb/> Interesse der inneren Ruhe und Festigkeit des Landes auf die Regelung vorder¬<lb/> hand verzichten zu wollen. Damals betrug der Lohn im Gesamtdurchschnitt für<lb/> alle Arbeiterkategorien 25 Schilling wöchentlich. Bis 1918 stiegen die Zulagen,<lb/> wiederum gleichmäßig für alle Kategorien, auf 33 Schilling wöchentlich. Im<lb/> November 1918 wurde dann vereinbart, daß für jede fünf Prozent Senkung für<lb/> die Kosten des Lebensunterhalts ein Schilling wöchentlich wegfallen sollte. Da<lb/> aber durch diese gleichmäßigen Zulagen die vor dem Kriege weniger gut<lb/> entlohnten Arbeiter gegenüber den höher bezahlten begünstigt waren, drängte man<lb/> auf baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen, die sich jedoch bei der ganzen<lb/> Lage als so schwer übersehbar erwiesen, daß man sich, bevor man weiterging,<lb/> um entstandene Befürchtungen der Arbeiterschaft zu beruhigen, im März daraus<lb/> einigte, die gegenwärtigen Löhne auf alle Fälle, also auch bei etwaiger Senkung<lb/> der Preise, bis 31. Dezember 1919 beizubehalten. Die Unterhandlungen wurden<lb/> fortgesetzt, erwiesen sich aber als sehr schwierig, da man danach strebte, die Löhne<lb/> der Eisenbahner im ganzen Reich zu vereinheitlichen, sowie denen der übrigen<lb/> Arbeiter möglichst gleichzustellen. Endlich traten im August die Arbeiter mit neuen<lb/> Vorschlägen hervor, die zunächst von der Regierung abgewiesen, dann, von den<lb/> Arbeitern revidiert, aufs neue vorgebracht wurden. Die Regierung, die unter<lb/> allen Umständen die Löhne abhauen will, erklärte nun, sie stände grundsätzlich<lb/> auf dem Standpunkt, daß jeder neue Normallohn geringer sein müßte, als die<lb/> Summe des alten plus Kriegszulage, und die Differenz, die zwischen dem neuen<lb/> Lohn und dem gegenwärtig gezählten bestände, als eine Art Kriegsgewinn zu be¬<lb/> trachten sei, der mit dem Sinken der Preise verschwinden müsse. Die Arbeiter¬<lb/> vertreter wandten dagegen ein, daß diese Anschauung keineswegs grundsätzlich auf<lb/> alle Arbeiterkategorien gleichmäßig anwendbar sei, indem z. B. für Lokomotiv¬<lb/> führer sich heute angesichts der Preise der alte Lohn plus Kriegszulage im Ver¬<lb/> gleich mit dem Lohn von 1914, der doch schon seit 1889 bestand, um 32,5 Prozent<lb/> niedriger stelle. Ein Vertreter der Eisenbahngesellschaften erklärte, die von den<lb/> Eisenbahnern geforderten Löhne würden nach seiner Berechnung eine Erhöhung<lb/> der Eisenbahneinkünfte um 120 Millionen Pfund nötig machen, die Arbeiter<lb/> fochten die Richtigkeit der Ziffern an und wandten ein, daß die Höhe der augen¬<lb/> blicklichen Lasten nicht als normal anzusehen sei und daß die während des Krieges<lb/> bestandene Vereinheitlichung der verschiedenen Systeme bewiesen Hütte, daß bei der<lb/> Verwaltung Ersparnisse zu machen seien. Damit war man hart an die Frage<lb/> der Nationalisierung herangekommen und die Regierung zog es vor, nun ihrerseits<lb/> nu't Vorschlägen hervorzutreten. Sie tat das in einer Form, die später zwar als<lb/> 6olge eines Mißverständnisses hingestellt wurde, die aber doch wohl die Absicht<lb/> verriet, die Angelegenheit zu beschleunigen oder das Land gegen die Extremisten<lb/> Anzunehmen und den Streik als politisches Kampfmittel zu diskreditieren. Der<lb/> ^tegierungsvertreter nämlich stellte die neuen Vorschläge nicht als Grundlage<lb/> weiterer Verhandlungen, sondern als letztes Wort der Regierung hin. Das konnten<lb/> Reh die Führer, die fürchten mußten, die Gewalt über die radikalen Elemente zu</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1919 20</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0249]
England
Atmosphäre, für den starken, wenn auch nicht nachhaltigen Einfluß der Extremisten,
die wohl Kraft genug zu starken Vorstoßen haben, aber wie auch bei ihren
Forderungen nach „direkter Aktion" und anläßlich der Generalstreikdrohung zur
Erzwingung der Einstellung einer Autibolschewistenpolitik deutlich geworden ist,
das Land sofort gegen sich haben, wenn sie Miene machen, die öffentliche Meinung
zu vergewaltigen, für den vorläufig noch schwebenden Charakter der Arbeiterfragen,
für die Nervosität der Arbeiterführer, die Entschlossenheit der Regierung, sich nicht
überrumpeln zu lassen, sowie endlich für die wahrhaft bewundernswerte zivilisierte
Disziplin, die sowohl die Arbeitermassen wie das Publikum bewiesen haben. Da
der Eisenbahnerstreik die Schwierigkeiten, denen sich die Regierung gegenüber be¬
findet, deutlich zutage treten läßt, ist es gut, etwas näher auf ihn einzugehen.
Schon vor dem Kriege waren die Löhne der Eisenbahner verbesserungsbedürftig
erschienen. Der festus amo sollte bis zum November 1914 laufen und dann
irgendwie geändert werden. Als der Krieg ausbrach, erklärten die Arbeiter im
Interesse der inneren Ruhe und Festigkeit des Landes auf die Regelung vorder¬
hand verzichten zu wollen. Damals betrug der Lohn im Gesamtdurchschnitt für
alle Arbeiterkategorien 25 Schilling wöchentlich. Bis 1918 stiegen die Zulagen,
wiederum gleichmäßig für alle Kategorien, auf 33 Schilling wöchentlich. Im
November 1918 wurde dann vereinbart, daß für jede fünf Prozent Senkung für
die Kosten des Lebensunterhalts ein Schilling wöchentlich wegfallen sollte. Da
aber durch diese gleichmäßigen Zulagen die vor dem Kriege weniger gut
entlohnten Arbeiter gegenüber den höher bezahlten begünstigt waren, drängte man
auf baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen, die sich jedoch bei der ganzen
Lage als so schwer übersehbar erwiesen, daß man sich, bevor man weiterging,
um entstandene Befürchtungen der Arbeiterschaft zu beruhigen, im März daraus
einigte, die gegenwärtigen Löhne auf alle Fälle, also auch bei etwaiger Senkung
der Preise, bis 31. Dezember 1919 beizubehalten. Die Unterhandlungen wurden
fortgesetzt, erwiesen sich aber als sehr schwierig, da man danach strebte, die Löhne
der Eisenbahner im ganzen Reich zu vereinheitlichen, sowie denen der übrigen
Arbeiter möglichst gleichzustellen. Endlich traten im August die Arbeiter mit neuen
Vorschlägen hervor, die zunächst von der Regierung abgewiesen, dann, von den
Arbeitern revidiert, aufs neue vorgebracht wurden. Die Regierung, die unter
allen Umständen die Löhne abhauen will, erklärte nun, sie stände grundsätzlich
auf dem Standpunkt, daß jeder neue Normallohn geringer sein müßte, als die
Summe des alten plus Kriegszulage, und die Differenz, die zwischen dem neuen
Lohn und dem gegenwärtig gezählten bestände, als eine Art Kriegsgewinn zu be¬
trachten sei, der mit dem Sinken der Preise verschwinden müsse. Die Arbeiter¬
vertreter wandten dagegen ein, daß diese Anschauung keineswegs grundsätzlich auf
alle Arbeiterkategorien gleichmäßig anwendbar sei, indem z. B. für Lokomotiv¬
führer sich heute angesichts der Preise der alte Lohn plus Kriegszulage im Ver¬
gleich mit dem Lohn von 1914, der doch schon seit 1889 bestand, um 32,5 Prozent
niedriger stelle. Ein Vertreter der Eisenbahngesellschaften erklärte, die von den
Eisenbahnern geforderten Löhne würden nach seiner Berechnung eine Erhöhung
der Eisenbahneinkünfte um 120 Millionen Pfund nötig machen, die Arbeiter
fochten die Richtigkeit der Ziffern an und wandten ein, daß die Höhe der augen¬
blicklichen Lasten nicht als normal anzusehen sei und daß die während des Krieges
bestandene Vereinheitlichung der verschiedenen Systeme bewiesen Hütte, daß bei der
Verwaltung Ersparnisse zu machen seien. Damit war man hart an die Frage
der Nationalisierung herangekommen und die Regierung zog es vor, nun ihrerseits
nu't Vorschlägen hervorzutreten. Sie tat das in einer Form, die später zwar als
6olge eines Mißverständnisses hingestellt wurde, die aber doch wohl die Absicht
verriet, die Angelegenheit zu beschleunigen oder das Land gegen die Extremisten
Anzunehmen und den Streik als politisches Kampfmittel zu diskreditieren. Der
^tegierungsvertreter nämlich stellte die neuen Vorschläge nicht als Grundlage
weiterer Verhandlungen, sondern als letztes Wort der Regierung hin. Das konnten
Reh die Führer, die fürchten mußten, die Gewalt über die radikalen Elemente zu
Grenzboten IV 1919 20
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