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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Lrispi und der Gedanke des Größeren Italien

Das amtliche Italien und besonders sein markantester Vertreter seit Cavour,
Francesco Crispi, hat denn auch in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten und
dem folgenden Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts dem neuen italienischen
Imperialismus gegenüber in kühler, abwartender Reserve gestanden Crispi war
Poliiiker genug, um zu erkennen, daß seine ursprünglichen, auf dem Voden der
revolmioi arm Jrredenta entstandenen Pinne gegen Österreich-Ungarn unzulänglich
waren, weil ihm nicht ein Mittel, das zu ihrer Durchführung notwendig gewesen
wäre, zur Disposition stand. In der berühmt gewordenen Unterredung mit
Bismarck in Gastein (17. September 1877) hatte Crispi, die Cauoursche Taktik
befolgend, nochmals den ernstlichen Versvch, gemacht, mit ausländischer Rücken-,
deckung Italien aus Kosen: des südtirvliichen Besitzes der Habsburgischen Monarchie
zu vergrößern. Nach seinen eigenen Memoiren hatte der russisch türkische Krieg
von 1877/78, der Österreich eine Erweiterung seines Mittelmeerbesitzes zu bringen
schien, eine Situation geschaffen, an der Italien nicht uninteressiert bleiben konnte.
"Wir Italiener können auf alle Fälle an der Lösung der Orientfrage kein so
geringes Interesse nehmen wie Sie. . . . Geschieht es aber, daß Rußland, um sich
der Freundschaft Österreichs zu versichern, diesem Bosnien und die Herzegowina
anbietet, so kann Italien nicht erlauben, daß Österreich diese Länder besetzt. Sie
wissen, im Jahre 1L66 blieb Italien ohne Grenzen nach den Ostalpen, und wenn
Osterreich neue Provinzen erhielte, die es im Adriatiscken Meere verstärkNn, bliebe
unser Land wie in eine Zwangsjacke eingeengt, und so oft es dem Nachbarreiche
gefiele, einer Invasion ausgesetzt." Crispi wollte von einer ihm durch Berlin
und London garantierten Kompensation in Albanien oder Tunis nichts wissen,
er hatte damals lediglich das eine Ziel im Auge, den italienischen Nationalstaat
durch die Sicherung seiner Ostgrenzen gegen Osterreich auszubauen. Er war in
jenen Tagen noch zu sehr Irredentist und als solcher von einer Doktrin beherrscht,
die ihm verwehrte, aus den europäischen Ereignissen realpolitischen Gewinn
zu ernten.

Crispi hatte vor allem erkannt, daß ein deutsch-italienisches Freundschafts¬
verhältnis im Interesse der italienischen Nation liege. Er hatte nun erfahren,
daß Bismarck nie einem deuisch-italienischen Bundesverhältnis zustimme, das die
Spitze gegen Osterreich nehme, indem es die Politik der italienischen Jrredenta
decke. Aus dieser Sachlage hat Crispi die Konsequenz gezogen. Sein ganzes
politisches Kämpfen läuft seit dem Jahre 1877 darauf hinaus, den Weg noch
Berlin über Wien zu nehmen, mit anderen Worten: um die deutsche Freu, dschast
zu gewinnen, das irrcdentistische Ziel der Erlösung des Trentinos und Triests
preiszugeben. Das war eine große politische Tat, die erfolgt war auf Grund
der restlosen Erkenntnis der Realitäten im politischen Geschehen. Das unterscheidet
Criepi von'den späteren italienischen Imperialisten, die niemals weder auf das
Trentino noch auf Albanien, weder auf die Henschaft in der Adria noch auf die
Festsetzung in Nordafrika Verzicht leisteten. Bis freilich dieser Entschluß Cnspis
in die Tat umgesetzt werden konnte, bedürfte es noch harter Kämpfe geaen den
politischen Doktrinarismus der Jrredentisten, die eher noch einige ihrer Provinzen
an Frankreich abgetreten hätten, als daß sie sich mit dem österreichischen Erzfeind
verbündeten. Dieses italienische Beispiel liefert einen schlagenden Beweis für die
maßlose Gefährlichkeit jener politischen Theoretiker, die durch die Anerkennung
eines Dogmas die Politik eines Staates auf irgendeine vorgefaßte Richtung fest¬
legen wollen, und die durch die grenzenlose Verfänglichkeit ihrer primitiven Be¬
weisführungen, wie der bei den jüngsten Theoretikern des italienischen Nationalismus
stets wiederkehrenden: daß die Ehre der Nation die Zerstückelung einer
anderen erfordere und daß der Krieg eine Lebensnotmendigkeit für
die Volksgemeinschaft sei, den gewichtigsten Anteil an der Verhetzung
der Völker und an der ungeheuren Blutschuld der Gegenwart für sich
in Anspruch nehmen können. Cavour und Crispi haben wie Bismarck
diese Demagogen des Nationalismus völlig abgelehnt, weil sie nicht eine krank¬
hafte Verengung, sondern eine ethische Vertiefung des Nationalgeistes erstrebten.


Lrispi und der Gedanke des Größeren Italien

Das amtliche Italien und besonders sein markantester Vertreter seit Cavour,
Francesco Crispi, hat denn auch in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten und
dem folgenden Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts dem neuen italienischen
Imperialismus gegenüber in kühler, abwartender Reserve gestanden Crispi war
Poliiiker genug, um zu erkennen, daß seine ursprünglichen, auf dem Voden der
revolmioi arm Jrredenta entstandenen Pinne gegen Österreich-Ungarn unzulänglich
waren, weil ihm nicht ein Mittel, das zu ihrer Durchführung notwendig gewesen
wäre, zur Disposition stand. In der berühmt gewordenen Unterredung mit
Bismarck in Gastein (17. September 1877) hatte Crispi, die Cauoursche Taktik
befolgend, nochmals den ernstlichen Versvch, gemacht, mit ausländischer Rücken-,
deckung Italien aus Kosen: des südtirvliichen Besitzes der Habsburgischen Monarchie
zu vergrößern. Nach seinen eigenen Memoiren hatte der russisch türkische Krieg
von 1877/78, der Österreich eine Erweiterung seines Mittelmeerbesitzes zu bringen
schien, eine Situation geschaffen, an der Italien nicht uninteressiert bleiben konnte.
„Wir Italiener können auf alle Fälle an der Lösung der Orientfrage kein so
geringes Interesse nehmen wie Sie. . . . Geschieht es aber, daß Rußland, um sich
der Freundschaft Österreichs zu versichern, diesem Bosnien und die Herzegowina
anbietet, so kann Italien nicht erlauben, daß Österreich diese Länder besetzt. Sie
wissen, im Jahre 1L66 blieb Italien ohne Grenzen nach den Ostalpen, und wenn
Osterreich neue Provinzen erhielte, die es im Adriatiscken Meere verstärkNn, bliebe
unser Land wie in eine Zwangsjacke eingeengt, und so oft es dem Nachbarreiche
gefiele, einer Invasion ausgesetzt." Crispi wollte von einer ihm durch Berlin
und London garantierten Kompensation in Albanien oder Tunis nichts wissen,
er hatte damals lediglich das eine Ziel im Auge, den italienischen Nationalstaat
durch die Sicherung seiner Ostgrenzen gegen Osterreich auszubauen. Er war in
jenen Tagen noch zu sehr Irredentist und als solcher von einer Doktrin beherrscht,
die ihm verwehrte, aus den europäischen Ereignissen realpolitischen Gewinn
zu ernten.

Crispi hatte vor allem erkannt, daß ein deutsch-italienisches Freundschafts¬
verhältnis im Interesse der italienischen Nation liege. Er hatte nun erfahren,
daß Bismarck nie einem deuisch-italienischen Bundesverhältnis zustimme, das die
Spitze gegen Osterreich nehme, indem es die Politik der italienischen Jrredenta
decke. Aus dieser Sachlage hat Crispi die Konsequenz gezogen. Sein ganzes
politisches Kämpfen läuft seit dem Jahre 1877 darauf hinaus, den Weg noch
Berlin über Wien zu nehmen, mit anderen Worten: um die deutsche Freu, dschast
zu gewinnen, das irrcdentistische Ziel der Erlösung des Trentinos und Triests
preiszugeben. Das war eine große politische Tat, die erfolgt war auf Grund
der restlosen Erkenntnis der Realitäten im politischen Geschehen. Das unterscheidet
Criepi von'den späteren italienischen Imperialisten, die niemals weder auf das
Trentino noch auf Albanien, weder auf die Henschaft in der Adria noch auf die
Festsetzung in Nordafrika Verzicht leisteten. Bis freilich dieser Entschluß Cnspis
in die Tat umgesetzt werden konnte, bedürfte es noch harter Kämpfe geaen den
politischen Doktrinarismus der Jrredentisten, die eher noch einige ihrer Provinzen
an Frankreich abgetreten hätten, als daß sie sich mit dem österreichischen Erzfeind
verbündeten. Dieses italienische Beispiel liefert einen schlagenden Beweis für die
maßlose Gefährlichkeit jener politischen Theoretiker, die durch die Anerkennung
eines Dogmas die Politik eines Staates auf irgendeine vorgefaßte Richtung fest¬
legen wollen, und die durch die grenzenlose Verfänglichkeit ihrer primitiven Be¬
weisführungen, wie der bei den jüngsten Theoretikern des italienischen Nationalismus
stets wiederkehrenden: daß die Ehre der Nation die Zerstückelung einer
anderen erfordere und daß der Krieg eine Lebensnotmendigkeit für
die Volksgemeinschaft sei, den gewichtigsten Anteil an der Verhetzung
der Völker und an der ungeheuren Blutschuld der Gegenwart für sich
in Anspruch nehmen können. Cavour und Crispi haben wie Bismarck
diese Demagogen des Nationalismus völlig abgelehnt, weil sie nicht eine krank¬
hafte Verengung, sondern eine ethische Vertiefung des Nationalgeistes erstrebten.


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[0076] Lrispi und der Gedanke des Größeren Italien Das amtliche Italien und besonders sein markantester Vertreter seit Cavour, Francesco Crispi, hat denn auch in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten und dem folgenden Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts dem neuen italienischen Imperialismus gegenüber in kühler, abwartender Reserve gestanden Crispi war Poliiiker genug, um zu erkennen, daß seine ursprünglichen, auf dem Voden der revolmioi arm Jrredenta entstandenen Pinne gegen Österreich-Ungarn unzulänglich waren, weil ihm nicht ein Mittel, das zu ihrer Durchführung notwendig gewesen wäre, zur Disposition stand. In der berühmt gewordenen Unterredung mit Bismarck in Gastein (17. September 1877) hatte Crispi, die Cauoursche Taktik befolgend, nochmals den ernstlichen Versvch, gemacht, mit ausländischer Rücken-, deckung Italien aus Kosen: des südtirvliichen Besitzes der Habsburgischen Monarchie zu vergrößern. Nach seinen eigenen Memoiren hatte der russisch türkische Krieg von 1877/78, der Österreich eine Erweiterung seines Mittelmeerbesitzes zu bringen schien, eine Situation geschaffen, an der Italien nicht uninteressiert bleiben konnte. „Wir Italiener können auf alle Fälle an der Lösung der Orientfrage kein so geringes Interesse nehmen wie Sie. . . . Geschieht es aber, daß Rußland, um sich der Freundschaft Österreichs zu versichern, diesem Bosnien und die Herzegowina anbietet, so kann Italien nicht erlauben, daß Österreich diese Länder besetzt. Sie wissen, im Jahre 1L66 blieb Italien ohne Grenzen nach den Ostalpen, und wenn Osterreich neue Provinzen erhielte, die es im Adriatiscken Meere verstärkNn, bliebe unser Land wie in eine Zwangsjacke eingeengt, und so oft es dem Nachbarreiche gefiele, einer Invasion ausgesetzt." Crispi wollte von einer ihm durch Berlin und London garantierten Kompensation in Albanien oder Tunis nichts wissen, er hatte damals lediglich das eine Ziel im Auge, den italienischen Nationalstaat durch die Sicherung seiner Ostgrenzen gegen Osterreich auszubauen. Er war in jenen Tagen noch zu sehr Irredentist und als solcher von einer Doktrin beherrscht, die ihm verwehrte, aus den europäischen Ereignissen realpolitischen Gewinn zu ernten. Crispi hatte vor allem erkannt, daß ein deutsch-italienisches Freundschafts¬ verhältnis im Interesse der italienischen Nation liege. Er hatte nun erfahren, daß Bismarck nie einem deuisch-italienischen Bundesverhältnis zustimme, das die Spitze gegen Osterreich nehme, indem es die Politik der italienischen Jrredenta decke. Aus dieser Sachlage hat Crispi die Konsequenz gezogen. Sein ganzes politisches Kämpfen läuft seit dem Jahre 1877 darauf hinaus, den Weg noch Berlin über Wien zu nehmen, mit anderen Worten: um die deutsche Freu, dschast zu gewinnen, das irrcdentistische Ziel der Erlösung des Trentinos und Triests preiszugeben. Das war eine große politische Tat, die erfolgt war auf Grund der restlosen Erkenntnis der Realitäten im politischen Geschehen. Das unterscheidet Criepi von'den späteren italienischen Imperialisten, die niemals weder auf das Trentino noch auf Albanien, weder auf die Henschaft in der Adria noch auf die Festsetzung in Nordafrika Verzicht leisteten. Bis freilich dieser Entschluß Cnspis in die Tat umgesetzt werden konnte, bedürfte es noch harter Kämpfe geaen den politischen Doktrinarismus der Jrredentisten, die eher noch einige ihrer Provinzen an Frankreich abgetreten hätten, als daß sie sich mit dem österreichischen Erzfeind verbündeten. Dieses italienische Beispiel liefert einen schlagenden Beweis für die maßlose Gefährlichkeit jener politischen Theoretiker, die durch die Anerkennung eines Dogmas die Politik eines Staates auf irgendeine vorgefaßte Richtung fest¬ legen wollen, und die durch die grenzenlose Verfänglichkeit ihrer primitiven Be¬ weisführungen, wie der bei den jüngsten Theoretikern des italienischen Nationalismus stets wiederkehrenden: daß die Ehre der Nation die Zerstückelung einer anderen erfordere und daß der Krieg eine Lebensnotmendigkeit für die Volksgemeinschaft sei, den gewichtigsten Anteil an der Verhetzung der Völker und an der ungeheuren Blutschuld der Gegenwart für sich in Anspruch nehmen können. Cavour und Crispi haben wie Bismarck diese Demagogen des Nationalismus völlig abgelehnt, weil sie nicht eine krank¬ hafte Verengung, sondern eine ethische Vertiefung des Nationalgeistes erstrebten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/76>, abgerufen am 18.12.2024.