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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zusammenbruch und Aufbau
Jug. Arthur A. Brandt von

me spätere Zeit' wird den Weltkrieg nicht mehr als Ursache der
heutigen Verhältnisse und Wirkungen betrachten, sondern erkennen,
^W^^WU daß der Krieg nur eines der Ergebnisse der Zeit war, in welcher wir
Ä ^W^^M"^^"' diese Zeit mil der falsch und ungesund auchcl'autem
unbedingt früher oder später zu einer gewaltsamen Lösung
bestehenden Verhältnisse führen mußte. Die lange Dauer des
Krieges hat lediglich bewirkt, daß die Umwälzung mit rasender Geschwindigkeit
und damit mit neuen Störungen, Zertrümmerungen und Schmerzen über uns
hereingebrochen ist.

Es handelt sich mithin bei den Zsitfragen wie Bolschewismus, Sozialisierung
und Machtstreben der Massen nicht um russische oder deutsche Angelegenheiten,
sondern um Weltströmungen, welche alle Länder durcheilen werden. Bei den
Siegern des Weltkrieges haben die alten Regierungen noch die Macht in Händen.
Wir sehen wohl schon das Zucken des Massenwillens, können aber noch nicht
überblicken, wann auch dort die Welle der neuen Zeit den Wall der alten Macht
durchbiechen wird. Je nach der wirtschaftlichen Lage, je nachdem ein Land mehr
oder weniger mechanisiert ist, wird auch die Stärke der Bewegung eine verschiedene
sein. Bei einem vorwiegend agrarischen Lande ist es zum Beispiel möglich, daß
die Umformung zur neuen Zeit ohne äußere Erschütterungen langsam vor
sich gehe.

Die tiefe Erschütterung, das furchtbare Beben, welche die Völker der Erde
ergriffen hat, ist also nicht durch den Krieg hervorgerufen und hat mithin kaum
Politischen Ursachen. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Lage aber, in der wir
uns befinden, noch schrecklicher und gefährlicher. Kein Völkerbund, kein von der
Entente ausgeklügelter Frieden kann hier Ruhe und Ordnung schaffen, wenn nicht
die Ursachen unseres Leides erkennt, und die Maßnahmen zur Besserung der Lage
und zur Umkehr vom falschen Wege, die Grundlagen zum Völkerbünde bilden.
Bis jetzt haben jedoch alle Regierungen -- auch die sozialistische deutsche macht
davon keine Ausnahme -- nur politische Vorschläge für den Völkerbund gemacht,
und das Feldgeschrei auf allen Seiten lautet: "Wiederaufrichtung unserer Wirt¬
schaft". Nichts ist verderblicher als dieser Ruf. Solange wir nicht erkennen,
warum das Unheil über uns hereinbrach, und solange wir, nach der Erkenntnis,
uns nicht zu dem schmerzvollen Entschluß durchringen, von der alten Wirtschaft
SU weichen, solange werden wir keine Ruhe aus der Erde haben.

Betrachtet man kühl, ohne Leidenschaft, aber auch ohne Mitleid mit sich
selbst die Lage, so muß man zu dem Ergebnis kommen: die Menschen seien in
den letzten Jahrzehnten mit BImdheit geschlagen gewesen, daß sie nicht sahen,
wohin sie trieben. Die Entwicklung erscheint einem dann so klar, so folgerichtig,


Grenzboten II ISIS 6


Zusammenbruch und Aufbau
Jug. Arthur A. Brandt von

me spätere Zeit' wird den Weltkrieg nicht mehr als Ursache der
heutigen Verhältnisse und Wirkungen betrachten, sondern erkennen,
^W^^WU daß der Krieg nur eines der Ergebnisse der Zeit war, in welcher wir
Ä ^W^^M«^^"' diese Zeit mil der falsch und ungesund auchcl'autem
unbedingt früher oder später zu einer gewaltsamen Lösung
bestehenden Verhältnisse führen mußte. Die lange Dauer des
Krieges hat lediglich bewirkt, daß die Umwälzung mit rasender Geschwindigkeit
und damit mit neuen Störungen, Zertrümmerungen und Schmerzen über uns
hereingebrochen ist.

Es handelt sich mithin bei den Zsitfragen wie Bolschewismus, Sozialisierung
und Machtstreben der Massen nicht um russische oder deutsche Angelegenheiten,
sondern um Weltströmungen, welche alle Länder durcheilen werden. Bei den
Siegern des Weltkrieges haben die alten Regierungen noch die Macht in Händen.
Wir sehen wohl schon das Zucken des Massenwillens, können aber noch nicht
überblicken, wann auch dort die Welle der neuen Zeit den Wall der alten Macht
durchbiechen wird. Je nach der wirtschaftlichen Lage, je nachdem ein Land mehr
oder weniger mechanisiert ist, wird auch die Stärke der Bewegung eine verschiedene
sein. Bei einem vorwiegend agrarischen Lande ist es zum Beispiel möglich, daß
die Umformung zur neuen Zeit ohne äußere Erschütterungen langsam vor
sich gehe.

Die tiefe Erschütterung, das furchtbare Beben, welche die Völker der Erde
ergriffen hat, ist also nicht durch den Krieg hervorgerufen und hat mithin kaum
Politischen Ursachen. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Lage aber, in der wir
uns befinden, noch schrecklicher und gefährlicher. Kein Völkerbund, kein von der
Entente ausgeklügelter Frieden kann hier Ruhe und Ordnung schaffen, wenn nicht
die Ursachen unseres Leides erkennt, und die Maßnahmen zur Besserung der Lage
und zur Umkehr vom falschen Wege, die Grundlagen zum Völkerbünde bilden.
Bis jetzt haben jedoch alle Regierungen — auch die sozialistische deutsche macht
davon keine Ausnahme — nur politische Vorschläge für den Völkerbund gemacht,
und das Feldgeschrei auf allen Seiten lautet: „Wiederaufrichtung unserer Wirt¬
schaft". Nichts ist verderblicher als dieser Ruf. Solange wir nicht erkennen,
warum das Unheil über uns hereinbrach, und solange wir, nach der Erkenntnis,
uns nicht zu dem schmerzvollen Entschluß durchringen, von der alten Wirtschaft
SU weichen, solange werden wir keine Ruhe aus der Erde haben.

Betrachtet man kühl, ohne Leidenschaft, aber auch ohne Mitleid mit sich
selbst die Lage, so muß man zu dem Ergebnis kommen: die Menschen seien in
den letzten Jahrzehnten mit BImdheit geschlagen gewesen, daß sie nicht sahen,
wohin sie trieben. Die Entwicklung erscheint einem dann so klar, so folgerichtig,


Grenzboten II ISIS 6
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[0061] [Abbildung] Zusammenbruch und Aufbau Jug. Arthur A. Brandt von me spätere Zeit' wird den Weltkrieg nicht mehr als Ursache der heutigen Verhältnisse und Wirkungen betrachten, sondern erkennen, ^W^^WU daß der Krieg nur eines der Ergebnisse der Zeit war, in welcher wir Ä ^W^^M«^^"' diese Zeit mil der falsch und ungesund auchcl'autem unbedingt früher oder später zu einer gewaltsamen Lösung bestehenden Verhältnisse führen mußte. Die lange Dauer des Krieges hat lediglich bewirkt, daß die Umwälzung mit rasender Geschwindigkeit und damit mit neuen Störungen, Zertrümmerungen und Schmerzen über uns hereingebrochen ist. Es handelt sich mithin bei den Zsitfragen wie Bolschewismus, Sozialisierung und Machtstreben der Massen nicht um russische oder deutsche Angelegenheiten, sondern um Weltströmungen, welche alle Länder durcheilen werden. Bei den Siegern des Weltkrieges haben die alten Regierungen noch die Macht in Händen. Wir sehen wohl schon das Zucken des Massenwillens, können aber noch nicht überblicken, wann auch dort die Welle der neuen Zeit den Wall der alten Macht durchbiechen wird. Je nach der wirtschaftlichen Lage, je nachdem ein Land mehr oder weniger mechanisiert ist, wird auch die Stärke der Bewegung eine verschiedene sein. Bei einem vorwiegend agrarischen Lande ist es zum Beispiel möglich, daß die Umformung zur neuen Zeit ohne äußere Erschütterungen langsam vor sich gehe. Die tiefe Erschütterung, das furchtbare Beben, welche die Völker der Erde ergriffen hat, ist also nicht durch den Krieg hervorgerufen und hat mithin kaum Politischen Ursachen. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Lage aber, in der wir uns befinden, noch schrecklicher und gefährlicher. Kein Völkerbund, kein von der Entente ausgeklügelter Frieden kann hier Ruhe und Ordnung schaffen, wenn nicht die Ursachen unseres Leides erkennt, und die Maßnahmen zur Besserung der Lage und zur Umkehr vom falschen Wege, die Grundlagen zum Völkerbünde bilden. Bis jetzt haben jedoch alle Regierungen — auch die sozialistische deutsche macht davon keine Ausnahme — nur politische Vorschläge für den Völkerbund gemacht, und das Feldgeschrei auf allen Seiten lautet: „Wiederaufrichtung unserer Wirt¬ schaft". Nichts ist verderblicher als dieser Ruf. Solange wir nicht erkennen, warum das Unheil über uns hereinbrach, und solange wir, nach der Erkenntnis, uns nicht zu dem schmerzvollen Entschluß durchringen, von der alten Wirtschaft SU weichen, solange werden wir keine Ruhe aus der Erde haben. Betrachtet man kühl, ohne Leidenschaft, aber auch ohne Mitleid mit sich selbst die Lage, so muß man zu dem Ergebnis kommen: die Menschen seien in den letzten Jahrzehnten mit BImdheit geschlagen gewesen, daß sie nicht sahen, wohin sie trieben. Die Entwicklung erscheint einem dann so klar, so folgerichtig, Grenzboten II ISIS 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/61>, abgerufen am 18.12.2024.