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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Materialien zur ostdeutschen Frage

Artikel 96 und 97 betrifft die Abstimmung in Teilen der Kreise Stuhm und
Marienburg. Im wesentlichen sind die Bestimmungen mit den vorstehenden gleich¬
lautend außer den folgenden Absätzen:

Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden in dieser Gegend
die Grenze zwischen Ostpreußen und Polen festsetzen, wobei sie Polen wenigstens
voll und ganz die Kontrolle dieses Abschnittes der Weichsel einschließlich des
östlichen Ufers überlassen, soweit dieses für die Regulierung und den Ausbau
des Flusses notwendig wäre. Deutschland verpflichtet sich, daß keinerlei
Befestigung zu irgendeiner Zeit in irgendeinem ^Teile des genannten Gebietes,
soweit es deutsch bleibt, errichtet werde.

Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden zu gleicher Zeit
Bestimmungen treffen, welche der Bevölkerung Ostpreußens zum Besten ihrer
Interessen unter villigen Bedingungen den Zutritt zur Weichsel und ihre
Benutzung für sich, ihre Waren oder ihre Schiffe sichert.

Die Festlegung der Grenze und die vorstehenden Anordnungen werden
für alle beteiligten Parteien bindend sein.

Eine nähere Betrachtung der Bedingungen zeigt, daß, wo die Volksabstimmung
vorgesehen ist, die Art der Ausführung deu Gedanken des Selvstbestimmungsrechts zu
einer lächerlichen Farce werden läßt. stimmberechtigt sind nach den Bedingungen
nur Personen, die in dem betreffenden Gebiete entweder geboren sind, oder ihren
Wohnsitz seit einem Zeitpunkt dort haben, der von einer interalliierten Kommission
festzusetzen ist. Es ist das alte Lied, das wir von den Polen kennen. Das
Deutschtum in den Ostmarken soll nur etwas aufgepfropftes sein, nnr durch
künstliche Zuwanderung, veranlaßt durch die Politik der deutschen Regierung
dorthin gekommen sein. Nun ist an dieser Stelle schon oft in unzweifelhafter
Weise dargetan worden, daß historisch gesehen diese Behauptung falsch ist. Sie
liegt aber den Friedensbedinguncen in einer Form zugrunde, die zwar der
bewußt oder unbewußt oberflächlichen Art, in der die Entente auf die Polen¬
forderungen eingegangen ist, ein klassisches Zeugnis ausstellt, die aber darum nicht
weniger gefährlich ist. Die in Frage stehenden Gebiete sind seit Menschenaltern
und Jahrhunderten in steter organischer Einheit mit dem preußischen Stuaie und
dem deutschen Reiche verwachsen. Innerhalb des prcußiichen Staates und des
deutschen Reiches findet fortgesetzt ein erheblicher Austausch zwischen der
Bevölkerung der verschiedenen Landstriche statt, wie dies bei der Ncrtnr des
modernen Staates in allen Staaten der Fall ist. Durch Handel und Verkehr,
Gewerbe und Industrie werden größere Menschenmnssen fortlaufend innerhalb
der Grenzen des Reiches hin- und dergl schoben. Würde man unter diesem
Gesichtkpuutt eine Statistik im ganzen deutschen Reiche aufnehmen und behaup-er
wollen, daß alle die Einwohner, die nicht an ihrem Wohnort geboren sind, keine
bodenständige Bevölkerung sind, dann würde man erstaunen, wie wenig boden¬
ständige Bevölkerung es im ganzen deutschen Reiche gibt. Von diesem allgemeinen
Prozeß sind natürlich auch die östlichen Gebiete des deutschen Reiches ergriffen
worden. Hier den Teilen der Bevölkerung, die vermöge der allgemeinen wirt¬
schaftlichen und soziologischen Gesetze nicht in ihrem Wvlwort geboren sind, sondern
erst im Laufe der Zeit zugewandert sind, das Recht, über die Geschicke des Landes
mitzubestimmen, absprechen, bedeutet, diesen Teil der Bevölkerung vogelfrei erklären,
das organische Wachstum einer Bevölkerung wrtenuen und somit das Selbst-
bestimmungsrecht vergewaltigen. Es ist zwar vorgesehen, daß Personen, die vor
einem gewissen Zeitpunkt zugezogen sind, abstinunungsberechtigt sind. Bei der
Unterschrift des Vertrages wird Deutschland aber nicht wisse-;, welcher Zeitpunkt
festgesetzt wird. Es ist wie an hundert anderen Stellen des Vertrages, Deutsch¬
land verpflichtet sich zu Dingen, von deren Inhalt es noch nichts weiß, und es
kann wohl keinem Zweifel unterliegen, nach welchen" Geist die Festsetzung dieses
Zeitpunktes erfolgen wird.


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Materialien zur ostdeutschen Frage

Artikel 96 und 97 betrifft die Abstimmung in Teilen der Kreise Stuhm und
Marienburg. Im wesentlichen sind die Bestimmungen mit den vorstehenden gleich¬
lautend außer den folgenden Absätzen:

Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden in dieser Gegend
die Grenze zwischen Ostpreußen und Polen festsetzen, wobei sie Polen wenigstens
voll und ganz die Kontrolle dieses Abschnittes der Weichsel einschließlich des
östlichen Ufers überlassen, soweit dieses für die Regulierung und den Ausbau
des Flusses notwendig wäre. Deutschland verpflichtet sich, daß keinerlei
Befestigung zu irgendeiner Zeit in irgendeinem ^Teile des genannten Gebietes,
soweit es deutsch bleibt, errichtet werde.

Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden zu gleicher Zeit
Bestimmungen treffen, welche der Bevölkerung Ostpreußens zum Besten ihrer
Interessen unter villigen Bedingungen den Zutritt zur Weichsel und ihre
Benutzung für sich, ihre Waren oder ihre Schiffe sichert.

Die Festlegung der Grenze und die vorstehenden Anordnungen werden
für alle beteiligten Parteien bindend sein.

Eine nähere Betrachtung der Bedingungen zeigt, daß, wo die Volksabstimmung
vorgesehen ist, die Art der Ausführung deu Gedanken des Selvstbestimmungsrechts zu
einer lächerlichen Farce werden läßt. stimmberechtigt sind nach den Bedingungen
nur Personen, die in dem betreffenden Gebiete entweder geboren sind, oder ihren
Wohnsitz seit einem Zeitpunkt dort haben, der von einer interalliierten Kommission
festzusetzen ist. Es ist das alte Lied, das wir von den Polen kennen. Das
Deutschtum in den Ostmarken soll nur etwas aufgepfropftes sein, nnr durch
künstliche Zuwanderung, veranlaßt durch die Politik der deutschen Regierung
dorthin gekommen sein. Nun ist an dieser Stelle schon oft in unzweifelhafter
Weise dargetan worden, daß historisch gesehen diese Behauptung falsch ist. Sie
liegt aber den Friedensbedinguncen in einer Form zugrunde, die zwar der
bewußt oder unbewußt oberflächlichen Art, in der die Entente auf die Polen¬
forderungen eingegangen ist, ein klassisches Zeugnis ausstellt, die aber darum nicht
weniger gefährlich ist. Die in Frage stehenden Gebiete sind seit Menschenaltern
und Jahrhunderten in steter organischer Einheit mit dem preußischen Stuaie und
dem deutschen Reiche verwachsen. Innerhalb des prcußiichen Staates und des
deutschen Reiches findet fortgesetzt ein erheblicher Austausch zwischen der
Bevölkerung der verschiedenen Landstriche statt, wie dies bei der Ncrtnr des
modernen Staates in allen Staaten der Fall ist. Durch Handel und Verkehr,
Gewerbe und Industrie werden größere Menschenmnssen fortlaufend innerhalb
der Grenzen des Reiches hin- und dergl schoben. Würde man unter diesem
Gesichtkpuutt eine Statistik im ganzen deutschen Reiche aufnehmen und behaup-er
wollen, daß alle die Einwohner, die nicht an ihrem Wohnort geboren sind, keine
bodenständige Bevölkerung sind, dann würde man erstaunen, wie wenig boden¬
ständige Bevölkerung es im ganzen deutschen Reiche gibt. Von diesem allgemeinen
Prozeß sind natürlich auch die östlichen Gebiete des deutschen Reiches ergriffen
worden. Hier den Teilen der Bevölkerung, die vermöge der allgemeinen wirt¬
schaftlichen und soziologischen Gesetze nicht in ihrem Wvlwort geboren sind, sondern
erst im Laufe der Zeit zugewandert sind, das Recht, über die Geschicke des Landes
mitzubestimmen, absprechen, bedeutet, diesen Teil der Bevölkerung vogelfrei erklären,
das organische Wachstum einer Bevölkerung wrtenuen und somit das Selbst-
bestimmungsrecht vergewaltigen. Es ist zwar vorgesehen, daß Personen, die vor
einem gewissen Zeitpunkt zugezogen sind, abstinunungsberechtigt sind. Bei der
Unterschrift des Vertrages wird Deutschland aber nicht wisse-;, welcher Zeitpunkt
festgesetzt wird. Es ist wie an hundert anderen Stellen des Vertrages, Deutsch¬
land verpflichtet sich zu Dingen, von deren Inhalt es noch nichts weiß, und es
kann wohl keinem Zweifel unterliegen, nach welchen» Geist die Festsetzung dieses
Zeitpunktes erfolgen wird.


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[0515] Materialien zur ostdeutschen Frage Artikel 96 und 97 betrifft die Abstimmung in Teilen der Kreise Stuhm und Marienburg. Im wesentlichen sind die Bestimmungen mit den vorstehenden gleich¬ lautend außer den folgenden Absätzen: Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden in dieser Gegend die Grenze zwischen Ostpreußen und Polen festsetzen, wobei sie Polen wenigstens voll und ganz die Kontrolle dieses Abschnittes der Weichsel einschließlich des östlichen Ufers überlassen, soweit dieses für die Regulierung und den Ausbau des Flusses notwendig wäre. Deutschland verpflichtet sich, daß keinerlei Befestigung zu irgendeiner Zeit in irgendeinem ^Teile des genannten Gebietes, soweit es deutsch bleibt, errichtet werde. Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden zu gleicher Zeit Bestimmungen treffen, welche der Bevölkerung Ostpreußens zum Besten ihrer Interessen unter villigen Bedingungen den Zutritt zur Weichsel und ihre Benutzung für sich, ihre Waren oder ihre Schiffe sichert. Die Festlegung der Grenze und die vorstehenden Anordnungen werden für alle beteiligten Parteien bindend sein. Eine nähere Betrachtung der Bedingungen zeigt, daß, wo die Volksabstimmung vorgesehen ist, die Art der Ausführung deu Gedanken des Selvstbestimmungsrechts zu einer lächerlichen Farce werden läßt. stimmberechtigt sind nach den Bedingungen nur Personen, die in dem betreffenden Gebiete entweder geboren sind, oder ihren Wohnsitz seit einem Zeitpunkt dort haben, der von einer interalliierten Kommission festzusetzen ist. Es ist das alte Lied, das wir von den Polen kennen. Das Deutschtum in den Ostmarken soll nur etwas aufgepfropftes sein, nnr durch künstliche Zuwanderung, veranlaßt durch die Politik der deutschen Regierung dorthin gekommen sein. Nun ist an dieser Stelle schon oft in unzweifelhafter Weise dargetan worden, daß historisch gesehen diese Behauptung falsch ist. Sie liegt aber den Friedensbedinguncen in einer Form zugrunde, die zwar der bewußt oder unbewußt oberflächlichen Art, in der die Entente auf die Polen¬ forderungen eingegangen ist, ein klassisches Zeugnis ausstellt, die aber darum nicht weniger gefährlich ist. Die in Frage stehenden Gebiete sind seit Menschenaltern und Jahrhunderten in steter organischer Einheit mit dem preußischen Stuaie und dem deutschen Reiche verwachsen. Innerhalb des prcußiichen Staates und des deutschen Reiches findet fortgesetzt ein erheblicher Austausch zwischen der Bevölkerung der verschiedenen Landstriche statt, wie dies bei der Ncrtnr des modernen Staates in allen Staaten der Fall ist. Durch Handel und Verkehr, Gewerbe und Industrie werden größere Menschenmnssen fortlaufend innerhalb der Grenzen des Reiches hin- und dergl schoben. Würde man unter diesem Gesichtkpuutt eine Statistik im ganzen deutschen Reiche aufnehmen und behaup-er wollen, daß alle die Einwohner, die nicht an ihrem Wohnort geboren sind, keine bodenständige Bevölkerung sind, dann würde man erstaunen, wie wenig boden¬ ständige Bevölkerung es im ganzen deutschen Reiche gibt. Von diesem allgemeinen Prozeß sind natürlich auch die östlichen Gebiete des deutschen Reiches ergriffen worden. Hier den Teilen der Bevölkerung, die vermöge der allgemeinen wirt¬ schaftlichen und soziologischen Gesetze nicht in ihrem Wvlwort geboren sind, sondern erst im Laufe der Zeit zugewandert sind, das Recht, über die Geschicke des Landes mitzubestimmen, absprechen, bedeutet, diesen Teil der Bevölkerung vogelfrei erklären, das organische Wachstum einer Bevölkerung wrtenuen und somit das Selbst- bestimmungsrecht vergewaltigen. Es ist zwar vorgesehen, daß Personen, die vor einem gewissen Zeitpunkt zugezogen sind, abstinunungsberechtigt sind. Bei der Unterschrift des Vertrages wird Deutschland aber nicht wisse-;, welcher Zeitpunkt festgesetzt wird. Es ist wie an hundert anderen Stellen des Vertrages, Deutsch¬ land verpflichtet sich zu Dingen, von deren Inhalt es noch nichts weiß, und es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, nach welchen» Geist die Festsetzung dieses Zeitpunktes erfolgen wird. 13«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/515>, abgerufen am 09.11.2024.