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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Nnmaßaebliches

[Beginn Spaltensatz]

er die Praxis dem übergeben, der an seiner
Stelle den "Dienst" übernimmt. Das per¬
sönliche Interesse, das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient wird auf diese
Weise gewaltsam ertötet, das menschliche im
ärztlichen Beruf untergraben werden. Weiter:
der Staat ist genötigt sparsam, zum mindesten
in Anlehnung an einen bestimmten Etat zu
wirtschaften. Die strenge Ökonomie der jetzigen
Kassenrezeptur, die Kontrolle aller teuren
Medikamente, kostspieligen Methoden würde
von der Kassenpraxis auf die gesamte Praxis
übertragen werden. Dies kann aber keines¬
wegs ini Interesse der Volksgesundheit sein.
Im Gegenteil ist es doch wünschenswert, die
weitherzigste, ja schrankenlose Auffassung in
der Aufbringung von Heilmitteln zu fördern.
Wenn wir überhaupt die ärztliche Praxis
verstaatlichen, müssen wir auch die Wohl¬
habenden, die es ja vorläufig auch im weit¬
gehend sozialisierten Staat geben wird, in
diese Verstaatlichung hineinbeziehen; denn,
beschränkten wir uns nur auf die ärmeren
und mittleren Kreise, so würden wir dazu
beitragen, die sozialen Gegensätze, die zu mil¬
dern unsere vornehmste Aufgabe ist, zu ver¬
schärfen. Es würde dann Arzte einerseits
für Wohlhabende, andererseits solche (beam¬
tete) für die übrige Bevölkerung geben. Wie
kommt auch die Gesamiheit dazu, den Wohl¬
habenden Arzt und Krankenhaus ohne Ent¬
gelt zu verschaffen? Die Bedenken türmen
sich aber haushoch, wenn wir die Landpraxis
betrachten. Der beschäftigte Landarzt, der
Tag und Nacht für seine Kranken unterwegs
ist, wird als Beamter zweifellos eine bequemere
Berufsauffassung haben, wenn er sich mit
seinem gleich oder höher bezahlten Kollegen
in der Schreibstube mit streng begrenzter
Arbeitszeit vergleicht.

Überhaupt ist das vollkommen regellose
der ärztlichen Tätigkeit etwas, das sich schwer
in ein Beamtentum einfügen läßt. Wir haben
jetzt erst im Kriege gesehen, wie tausende von

[Spaltenumbruch]

Ärzten Wochen- und monatelang müßig da¬
saßen, während andere an anderen Stellen
sich überarbeiteten. Im Frieden sind ja nun
allerdings die Verhältnisse nicht so unregel¬
mäßig, wie im Kriege, immerhin aber doch
so veränderlich, daß eine sehr große Anzahl
von Ärzten vom Staat besoldet werden müßte,
die in der Regel nichts oder wenig zu tun
haben, aber für den Fall der Not (Epidemien,
Krieg) vorhanden sein müßte. An die Kosten
auch nur zu denken, müßte jedem Finanz-
Politiker Schwlndelgefühle erregen. --

Eine Verstaatlichung wäre eine Prämie
auf die Mittelmäßigkeit, eine Lahmlegung
aller treibenden Kräfte für den Fortschritt
der Wissenschaft. Der materielle Erfolg einer
großen Praxis wird nun einmal einen An¬
reiz zu erhöhter Tätigkeit für viele geben;
das zu leugnen bedeutet nicht Idealismus,
sondern weltfremde Theorie.

Die sozialistische Idee ist in ein entschei¬
dendes Stadium getreten. Wenige Wochen
haben genügt, um uns das Versagen des
ganzen Prinzips darzutun, uns die Vorzüge
des Individualismus wieder in helleres Licht
zu rücken.

Möglich, daß man jetzt versuchen wird,
damit doch wenigstens etwas geschieht, auf
dem im Verhältnis zur wirtschaftlichen Ge¬
samtheit relativ kleinem Gebiet der Kranken¬
hilfe Experimente anzustellen.

Diejenigen, die Verständnis für den Wert
freier Berufe, freier Menschen überhaupt
haben, werden versuchen, es zu verhindern.
Vielleicht aber müssen die Menschen erst aus
dem Mißerfolg, dem Versagen der Idee ler¬
nen; vielleicht müssen wir auch hier durch
ein Stadium offensichtlichen Bankerotts hin¬
durch, um zu vervollkoinmneteren, sozialeren
Formen des Individualismus zu gelangen.

Die leidende Menschheit dürfte aber in
unserem Falle die Kosten des Experiments
Dr. Artur Schlcsingcr bezahlen.

[Ende Spaltensatz]


Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.




Nachdruck sämtlicher Aufsähe nur mit auSXrücklickier Erlaubnis des Verlags aestattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Eleinow in Berlin-Lichterseloe West. -- MnnusMptjendunge" und
Brieie werden erbeten unter der Adresse:
An die Schristleitmlg der Grcnzbuten in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 3S".
Aernsprechür d"S Herausgebers: Amt Ltchtertelde 4W, deK Verlag" und der SchriNleitung: Amt üützow >K10.
Verlag: Verlag der Grenzboten Ä. in. b. H. in Berlin SW l l, Tempethojer Ufer Ws.
Druck: ,Ber Retchöbote" G. in. b. H. in Berlin SW 11. Dessau-r Strahl M/L7.
Maßgebliches und Nnmaßaebliches

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er die Praxis dem übergeben, der an seiner
Stelle den „Dienst" übernimmt. Das per¬
sönliche Interesse, das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient wird auf diese
Weise gewaltsam ertötet, das menschliche im
ärztlichen Beruf untergraben werden. Weiter:
der Staat ist genötigt sparsam, zum mindesten
in Anlehnung an einen bestimmten Etat zu
wirtschaften. Die strenge Ökonomie der jetzigen
Kassenrezeptur, die Kontrolle aller teuren
Medikamente, kostspieligen Methoden würde
von der Kassenpraxis auf die gesamte Praxis
übertragen werden. Dies kann aber keines¬
wegs ini Interesse der Volksgesundheit sein.
Im Gegenteil ist es doch wünschenswert, die
weitherzigste, ja schrankenlose Auffassung in
der Aufbringung von Heilmitteln zu fördern.
Wenn wir überhaupt die ärztliche Praxis
verstaatlichen, müssen wir auch die Wohl¬
habenden, die es ja vorläufig auch im weit¬
gehend sozialisierten Staat geben wird, in
diese Verstaatlichung hineinbeziehen; denn,
beschränkten wir uns nur auf die ärmeren
und mittleren Kreise, so würden wir dazu
beitragen, die sozialen Gegensätze, die zu mil¬
dern unsere vornehmste Aufgabe ist, zu ver¬
schärfen. Es würde dann Arzte einerseits
für Wohlhabende, andererseits solche (beam¬
tete) für die übrige Bevölkerung geben. Wie
kommt auch die Gesamiheit dazu, den Wohl¬
habenden Arzt und Krankenhaus ohne Ent¬
gelt zu verschaffen? Die Bedenken türmen
sich aber haushoch, wenn wir die Landpraxis
betrachten. Der beschäftigte Landarzt, der
Tag und Nacht für seine Kranken unterwegs
ist, wird als Beamter zweifellos eine bequemere
Berufsauffassung haben, wenn er sich mit
seinem gleich oder höher bezahlten Kollegen
in der Schreibstube mit streng begrenzter
Arbeitszeit vergleicht.

Überhaupt ist das vollkommen regellose
der ärztlichen Tätigkeit etwas, das sich schwer
in ein Beamtentum einfügen läßt. Wir haben
jetzt erst im Kriege gesehen, wie tausende von

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Ärzten Wochen- und monatelang müßig da¬
saßen, während andere an anderen Stellen
sich überarbeiteten. Im Frieden sind ja nun
allerdings die Verhältnisse nicht so unregel¬
mäßig, wie im Kriege, immerhin aber doch
so veränderlich, daß eine sehr große Anzahl
von Ärzten vom Staat besoldet werden müßte,
die in der Regel nichts oder wenig zu tun
haben, aber für den Fall der Not (Epidemien,
Krieg) vorhanden sein müßte. An die Kosten
auch nur zu denken, müßte jedem Finanz-
Politiker Schwlndelgefühle erregen. —

Eine Verstaatlichung wäre eine Prämie
auf die Mittelmäßigkeit, eine Lahmlegung
aller treibenden Kräfte für den Fortschritt
der Wissenschaft. Der materielle Erfolg einer
großen Praxis wird nun einmal einen An¬
reiz zu erhöhter Tätigkeit für viele geben;
das zu leugnen bedeutet nicht Idealismus,
sondern weltfremde Theorie.

Die sozialistische Idee ist in ein entschei¬
dendes Stadium getreten. Wenige Wochen
haben genügt, um uns das Versagen des
ganzen Prinzips darzutun, uns die Vorzüge
des Individualismus wieder in helleres Licht
zu rücken.

Möglich, daß man jetzt versuchen wird,
damit doch wenigstens etwas geschieht, auf
dem im Verhältnis zur wirtschaftlichen Ge¬
samtheit relativ kleinem Gebiet der Kranken¬
hilfe Experimente anzustellen.

Diejenigen, die Verständnis für den Wert
freier Berufe, freier Menschen überhaupt
haben, werden versuchen, es zu verhindern.
Vielleicht aber müssen die Menschen erst aus
dem Mißerfolg, dem Versagen der Idee ler¬
nen; vielleicht müssen wir auch hier durch
ein Stadium offensichtlichen Bankerotts hin¬
durch, um zu vervollkoinmneteren, sozialeren
Formen des Individualismus zu gelangen.

Die leidende Menschheit dürfte aber in
unserem Falle die Kosten des Experiments
Dr. Artur Schlcsingcr bezahlen.

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nicht verbürgt werden kann.




Nachdruck sämtlicher Aufsähe nur mit auSXrücklickier Erlaubnis des Verlags aestattet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/36>, abgerufen am 18.12.2024.