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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Der sozialdemokratische Parteitag

Egoismus, die von ihr selber ausgeht, zersetzt werden. Diesmal hat der Parteitag
Scheidemanns auswärtige Politik, der ich, wie gesagt, den großen Grundgedanken
nicht absprechen möchte, begeistert gut geheißen. Die sogenannte "Kontinental¬
politik", die Cohen-Reuß empfiehlt, und die eine Spitze gegen die Angelsachsen
enthält, hat er abgelehnt, weil sie in der Tat jetzt ganz unmöglich in ihren
Voraussetzungen ist. Aber die Zeit wird vielleicht kommen, wo die Arbeiterklasse
selber die Partei zu einer nationalistischen Politik zwingen wird. Denn den
Egoismus der Menschennatur wird die Sozialdemokratie nicht mildern. Dazu
gehören ganz andere Kräfte.

In der inneren Politik hat sich Scheidemann erneut zu den Grundsätzen
der Demokratie bekannt und die Diktatur des Proletariats verworfen. Die sozial-
demokratische Partei soll uicht mehr eine Pendel der Lohnarbeiter in erster Linie
sein, sondern die "praktische Interessenvertretung aller körperlich und geistig
arbeitenden". Das ist ein Zeichen dafür, wie gern die Partei innerhalb der
bürgerlichen .Klassen Boden gewinnen möchte. Eine reine Lohnarbeiterpartei ist
eben für die Regierung unzulänglich. Roste hat auf dem Parteitag die geringen
Gehälter akademisch gebildeter Beamter wirkungsvoll den uuvenchämten Lohn¬
forderungen mancher Arbeiter gegenübergestellt. Wann hätte früher ein Sozial¬
demokrat so gesprochen! Sogar der Sozialismus selbst ist für Scheidemann kein
absolutes Heiligtum mehr. Er ist nickt Zweck an sich, sondern er soll ein Mittel
sein, der leidenden Me, fesselt zu helfen, erklärt er ganz im Sinne von Gustav
Steffen.') Das kann doch nur so verstanden werden: da, wo es für die lcidinde
Menschheit zuträglicher ist, nicht sozialistische Politik za treiben, soll auch von den
sozialistischen Grundsätzen einmal abgewichen werden.. Der preußische Minister
Heine hat scharfe Worte gegen jede schluderige Gesetzgebungsarbeit gesprochen, die
man macht, um radikalen Schreiern schnell den Mund zu stopfen. Aus alledem
sieht man, daß die Sozialdemokratie viel lernt, seit sie an der Negierung ist.
Auch patriotische Töne sucht man im Munde der Parteiredner nicht mehr ver¬
gebens. Der Parteivorsitzende Hermann Müller feierte Großdeutschland und die
nationale Treue der Arbeiter an der Saar, am Rhein, an der Memel und an
der Weichsel. Die schönsten patriotischen Worte fand Otto Wels: "Kein Franzose
oder Engländer hätte jemals die alleinige Schuld auf sein Land genommen.
Auch der nationale Stolz ist etwas Großes und Gewaltiges, und wir Deutschen
können ihn lernen von den Franzosen, von den Engländern und allen freien
Völkern (Stürmischer Beifall). Von ihnen müssen wir lernen, deutsch zu fühlen
auch gegenüber einem Clemenceau, diesem Manne von Blut und Eisen im
zwanzigsten Jahrhundert, gegen den Bismarck nur ein elender Stümper gewesen
ist." Wels beginnt sogar, am dem sonst immer verdammten Kriege gute Seiten
zu finden. Er stelle die Nationen auf die Probe und lasse bei ihnen zerfallen,
was nicht lebenskräftig sei. Man könnte danach beinahe hoffen, daß auch die
Sozialdemokratie noch einmal die Bedeutung des Krieges für die menschlichen
Ordnungen begreifen lernen wird, und auch sie vielleicht dem Wort des alten
Heraklit, daß der Krieg aller Dinge Vater sei, mehr Verständnis entgegenbringen wird.

Was die Wirtschaftspolitik anlangt, so hat der Parteitag gezeigt, daß die
jetzt viel besprochenen Vorschläge des Reichsministers Wisfell über eine "geordnete
Planwirtschaft": Einrichtung von Zwangssyndikaten in den einzelnen Erwerbs¬
zweigen, Aufbau einer Pyramide von Uniernehmerkammern und Arbeiterräten bis
hinauf zu einem Rcichswirtschaftsrat, Überleitung eines großen Teils des Aktien¬
kapitals in Neichsvesitz in der Form der Besteuerung, durchaus uicht bloß bei
bürgerlichen Mitgliedern der Negierung Bedenken erregen. Denn die Reichs¬
minister Dr. David und Robert Schmidt sind den Ausführungen Wissells auf dem
Parteitag zum Teil scharf entgegengetreten. Die Sozia lisierungsfrage bleibt weiter
in der Schwebe und ist eine der schlimmsten Klippen, die die Sozialdemokratie
zu umsegeln haben wird.



') Vergl. meinen Aufsatz "Voraussetzungen der Demokratie" Grenzboten 1S19 Ur. 14.
Der sozialdemokratische Parteitag

Egoismus, die von ihr selber ausgeht, zersetzt werden. Diesmal hat der Parteitag
Scheidemanns auswärtige Politik, der ich, wie gesagt, den großen Grundgedanken
nicht absprechen möchte, begeistert gut geheißen. Die sogenannte „Kontinental¬
politik", die Cohen-Reuß empfiehlt, und die eine Spitze gegen die Angelsachsen
enthält, hat er abgelehnt, weil sie in der Tat jetzt ganz unmöglich in ihren
Voraussetzungen ist. Aber die Zeit wird vielleicht kommen, wo die Arbeiterklasse
selber die Partei zu einer nationalistischen Politik zwingen wird. Denn den
Egoismus der Menschennatur wird die Sozialdemokratie nicht mildern. Dazu
gehören ganz andere Kräfte.

In der inneren Politik hat sich Scheidemann erneut zu den Grundsätzen
der Demokratie bekannt und die Diktatur des Proletariats verworfen. Die sozial-
demokratische Partei soll uicht mehr eine Pendel der Lohnarbeiter in erster Linie
sein, sondern die „praktische Interessenvertretung aller körperlich und geistig
arbeitenden". Das ist ein Zeichen dafür, wie gern die Partei innerhalb der
bürgerlichen .Klassen Boden gewinnen möchte. Eine reine Lohnarbeiterpartei ist
eben für die Regierung unzulänglich. Roste hat auf dem Parteitag die geringen
Gehälter akademisch gebildeter Beamter wirkungsvoll den uuvenchämten Lohn¬
forderungen mancher Arbeiter gegenübergestellt. Wann hätte früher ein Sozial¬
demokrat so gesprochen! Sogar der Sozialismus selbst ist für Scheidemann kein
absolutes Heiligtum mehr. Er ist nickt Zweck an sich, sondern er soll ein Mittel
sein, der leidenden Me, fesselt zu helfen, erklärt er ganz im Sinne von Gustav
Steffen.') Das kann doch nur so verstanden werden: da, wo es für die lcidinde
Menschheit zuträglicher ist, nicht sozialistische Politik za treiben, soll auch von den
sozialistischen Grundsätzen einmal abgewichen werden.. Der preußische Minister
Heine hat scharfe Worte gegen jede schluderige Gesetzgebungsarbeit gesprochen, die
man macht, um radikalen Schreiern schnell den Mund zu stopfen. Aus alledem
sieht man, daß die Sozialdemokratie viel lernt, seit sie an der Negierung ist.
Auch patriotische Töne sucht man im Munde der Parteiredner nicht mehr ver¬
gebens. Der Parteivorsitzende Hermann Müller feierte Großdeutschland und die
nationale Treue der Arbeiter an der Saar, am Rhein, an der Memel und an
der Weichsel. Die schönsten patriotischen Worte fand Otto Wels: „Kein Franzose
oder Engländer hätte jemals die alleinige Schuld auf sein Land genommen.
Auch der nationale Stolz ist etwas Großes und Gewaltiges, und wir Deutschen
können ihn lernen von den Franzosen, von den Engländern und allen freien
Völkern (Stürmischer Beifall). Von ihnen müssen wir lernen, deutsch zu fühlen
auch gegenüber einem Clemenceau, diesem Manne von Blut und Eisen im
zwanzigsten Jahrhundert, gegen den Bismarck nur ein elender Stümper gewesen
ist." Wels beginnt sogar, am dem sonst immer verdammten Kriege gute Seiten
zu finden. Er stelle die Nationen auf die Probe und lasse bei ihnen zerfallen,
was nicht lebenskräftig sei. Man könnte danach beinahe hoffen, daß auch die
Sozialdemokratie noch einmal die Bedeutung des Krieges für die menschlichen
Ordnungen begreifen lernen wird, und auch sie vielleicht dem Wort des alten
Heraklit, daß der Krieg aller Dinge Vater sei, mehr Verständnis entgegenbringen wird.

Was die Wirtschaftspolitik anlangt, so hat der Parteitag gezeigt, daß die
jetzt viel besprochenen Vorschläge des Reichsministers Wisfell über eine „geordnete
Planwirtschaft": Einrichtung von Zwangssyndikaten in den einzelnen Erwerbs¬
zweigen, Aufbau einer Pyramide von Uniernehmerkammern und Arbeiterräten bis
hinauf zu einem Rcichswirtschaftsrat, Überleitung eines großen Teils des Aktien¬
kapitals in Neichsvesitz in der Form der Besteuerung, durchaus uicht bloß bei
bürgerlichen Mitgliedern der Negierung Bedenken erregen. Denn die Reichs¬
minister Dr. David und Robert Schmidt sind den Ausführungen Wissells auf dem
Parteitag zum Teil scharf entgegengetreten. Die Sozia lisierungsfrage bleibt weiter
in der Schwebe und ist eine der schlimmsten Klippen, die die Sozialdemokratie
zu umsegeln haben wird.



') Vergl. meinen Aufsatz „Voraussetzungen der Demokratie" Grenzboten 1S19 Ur. 14.
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[0320] Der sozialdemokratische Parteitag Egoismus, die von ihr selber ausgeht, zersetzt werden. Diesmal hat der Parteitag Scheidemanns auswärtige Politik, der ich, wie gesagt, den großen Grundgedanken nicht absprechen möchte, begeistert gut geheißen. Die sogenannte „Kontinental¬ politik", die Cohen-Reuß empfiehlt, und die eine Spitze gegen die Angelsachsen enthält, hat er abgelehnt, weil sie in der Tat jetzt ganz unmöglich in ihren Voraussetzungen ist. Aber die Zeit wird vielleicht kommen, wo die Arbeiterklasse selber die Partei zu einer nationalistischen Politik zwingen wird. Denn den Egoismus der Menschennatur wird die Sozialdemokratie nicht mildern. Dazu gehören ganz andere Kräfte. In der inneren Politik hat sich Scheidemann erneut zu den Grundsätzen der Demokratie bekannt und die Diktatur des Proletariats verworfen. Die sozial- demokratische Partei soll uicht mehr eine Pendel der Lohnarbeiter in erster Linie sein, sondern die „praktische Interessenvertretung aller körperlich und geistig arbeitenden". Das ist ein Zeichen dafür, wie gern die Partei innerhalb der bürgerlichen .Klassen Boden gewinnen möchte. Eine reine Lohnarbeiterpartei ist eben für die Regierung unzulänglich. Roste hat auf dem Parteitag die geringen Gehälter akademisch gebildeter Beamter wirkungsvoll den uuvenchämten Lohn¬ forderungen mancher Arbeiter gegenübergestellt. Wann hätte früher ein Sozial¬ demokrat so gesprochen! Sogar der Sozialismus selbst ist für Scheidemann kein absolutes Heiligtum mehr. Er ist nickt Zweck an sich, sondern er soll ein Mittel sein, der leidenden Me, fesselt zu helfen, erklärt er ganz im Sinne von Gustav Steffen.') Das kann doch nur so verstanden werden: da, wo es für die lcidinde Menschheit zuträglicher ist, nicht sozialistische Politik za treiben, soll auch von den sozialistischen Grundsätzen einmal abgewichen werden.. Der preußische Minister Heine hat scharfe Worte gegen jede schluderige Gesetzgebungsarbeit gesprochen, die man macht, um radikalen Schreiern schnell den Mund zu stopfen. Aus alledem sieht man, daß die Sozialdemokratie viel lernt, seit sie an der Negierung ist. Auch patriotische Töne sucht man im Munde der Parteiredner nicht mehr ver¬ gebens. Der Parteivorsitzende Hermann Müller feierte Großdeutschland und die nationale Treue der Arbeiter an der Saar, am Rhein, an der Memel und an der Weichsel. Die schönsten patriotischen Worte fand Otto Wels: „Kein Franzose oder Engländer hätte jemals die alleinige Schuld auf sein Land genommen. Auch der nationale Stolz ist etwas Großes und Gewaltiges, und wir Deutschen können ihn lernen von den Franzosen, von den Engländern und allen freien Völkern (Stürmischer Beifall). Von ihnen müssen wir lernen, deutsch zu fühlen auch gegenüber einem Clemenceau, diesem Manne von Blut und Eisen im zwanzigsten Jahrhundert, gegen den Bismarck nur ein elender Stümper gewesen ist." Wels beginnt sogar, am dem sonst immer verdammten Kriege gute Seiten zu finden. Er stelle die Nationen auf die Probe und lasse bei ihnen zerfallen, was nicht lebenskräftig sei. Man könnte danach beinahe hoffen, daß auch die Sozialdemokratie noch einmal die Bedeutung des Krieges für die menschlichen Ordnungen begreifen lernen wird, und auch sie vielleicht dem Wort des alten Heraklit, daß der Krieg aller Dinge Vater sei, mehr Verständnis entgegenbringen wird. Was die Wirtschaftspolitik anlangt, so hat der Parteitag gezeigt, daß die jetzt viel besprochenen Vorschläge des Reichsministers Wisfell über eine „geordnete Planwirtschaft": Einrichtung von Zwangssyndikaten in den einzelnen Erwerbs¬ zweigen, Aufbau einer Pyramide von Uniernehmerkammern und Arbeiterräten bis hinauf zu einem Rcichswirtschaftsrat, Überleitung eines großen Teils des Aktien¬ kapitals in Neichsvesitz in der Form der Besteuerung, durchaus uicht bloß bei bürgerlichen Mitgliedern der Negierung Bedenken erregen. Denn die Reichs¬ minister Dr. David und Robert Schmidt sind den Ausführungen Wissells auf dem Parteitag zum Teil scharf entgegengetreten. Die Sozia lisierungsfrage bleibt weiter in der Schwebe und ist eine der schlimmsten Klippen, die die Sozialdemokratie zu umsegeln haben wird. ') Vergl. meinen Aufsatz „Voraussetzungen der Demokratie" Grenzboten 1S19 Ur. 14.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/320>, abgerufen am 18.12.2024.