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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisfe

die zweifellos der Verbreitung guter Kunst dienen kann, bringt die Gefahr mit sich,
den kaum erwachten Kunstsinn wieder zu verderben. Ja selbst eine gewisse Ver¬
rohung in unserer gegenwärtigen Malerei dürfte man auf "demokratische" Ein¬
flüsse zurückführen. Man denke etwa an Pechstein. Nicht jedem ist es wie Hans
Thoma gegeben, den Mangel ererbter Kultur durch ernstes Streben bis auf einen
Erdenrest zu überwinden. Zwar nicht wie ein huldvolles Geschenk von oben soll
Kunst und Bildung dem einfachen Manne geboten werden. Das Volk hat ein
Recht auf Bildung. Aber gerade wer das anerkennt, übernimmt die Pflicht als
Bildungsträger zugleich auch Führer und Erzieher zu werden. Die demokratische
Bewegung der letzten Jahrzehnte hat allgemein zu einer Überschätzung der Insti¬
tutionen und Organisationen, zu einer Unterschätzung der Persönlichkeiten und
einer übertriebenen Bewertung des gesunden Durchschnitts gegenüber der hervor¬
ragenden Leistung geführt. "Bildung ist nichts, was als Massenartikel erzeugt
und auf dem Wege der Organisation Vertrieben werden könnte; Bildung ist das
eigenste, das tiefste Geschäft eines jeden mit sich selbst, und es sührt kein anderer
Weg zu ihr als Arbeit und Selbstbesinnung." (Fr. Jott.) Bildungsvereine können
wohl den Zugang zur Bildung erleichtern; aber sie selbst vermögen sich gegen die
herabziehenden Triebe der Masse nur zu halten, wenn in ihnen der Einfluß und
das Beispiel wahrhaft.gebildeter Persönlichkeiten maßgebend ist. "Vor allem ist
es für jeden kulturellen Fortschritt der Gesamtheit nötig, daß Individuen sich
geistig aus dem Banne der Gesamtheit lösen, sich darüber erheben, ihrerseits vor¬
dringen, um dann vielleicht die Gesamtheit noch sich zu ziehen. . . Die Gesamt¬
heit ihrerseits droht immer, die einzelnen herabzuziehen. "Mit der Menge" darf
nicht die Losung bleiben für alle diejenigen, die sich über die Menge zu erheben
vermögen. Losung aber muß bleiben: "Für die Gemeinschaft!"" (Wilh. Münch.)
Bei allem Bildungsstreben, sofern es von sittlicher Gesinnung durchdrungen ist,
kommen sich zwei Triebe, von unten und von oben, entgegen. Denn echte Voll¬
bildung hat. wie überhaupt der geistige Besitz, in sich den Drang, andere an ihrem
Gute teilnehmen zu lassen; sie hat sozusagen eine demokratische Neigung. Das
richtige Bildungsstreben der Masse aber muß von selbst zur Entwicklung einzelner
hervorragender Persönlichkeiten führen, so daß sich hier ein aristokratisches Gefühl
des Vorranges bildet, das als "Führerrecht" auch innerhalb demokratischer Ge¬
sinnung statt des unhaltbaren Gedankens der Gleichheit mehr und mehr zur An¬
erkennung gekommen ist.

Daraus ergibt sich nun aber eine unbeweisbare Forderung an unsere Schule,
die höhere wie die Volksschule. Sie hat unter dem Einfluß der Kantischen Ethik,
die letzthin nur schlichte Pflichterfüllung, aber keine sittlich hervorragende Leistung
kennt, über den Bemühungen um einen möglichst hohen Durchschnitt die Entwicklung
außergewöhnlicher Begabungen und damit die Ausbildung führender Persönlich¬
keiten vernachlässigt. Wir wünschen beileibe keine künstliche Züchtung des Ehr¬
geizes, wie sie in den französischen Schulen vielfach üblich ist. Aber daß bei
unserem Unterrichtsverfahren den größten Gewinn die Mittelmäßigkeit hat und
wirkliche Begabung nicht hinreichend gefördert wird, ist von Schulmännern selbst
anerkannt worden. Da bedeutende Anlagen meist einseitig sind, so sieht sich der
befähigte Schüler durch seine Gesamtleistung in der Klasse oft hinter den sehr
mittelmäßigen Geist zurückgesetzt. Auch weist es auf einen schwachen Punkt in
unserem Schulerziehungssystem hin, daß außergewöhnliche Leistungen einzelner
Schüler im Urteil der Klasse nicht hoch bewertet werden, sondern der Höherstrebende
unverdienterweise leicht in den häßlichen Ruf des "Strebers" kommt. Hier
Wandel zu schaffen, bedarf es der taktvollen Einwirkung der Schulerzieher, vor
allem aber auch größerer Freiheit im Unterrichtsbeiriebe. Denn nur wenn man
der Betätigung des einzelnen Schülers weiteren Spielraum gewährt, wird sich
Eigenart und besondere Begabung entwickeln können. Die Höhe des Durchschnitts
kann doch niemals den Mangel führender Geister ersetzen. Wie oft haben wir
das in der jüngsten Vergangenheit empfundenI




Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisfe

die zweifellos der Verbreitung guter Kunst dienen kann, bringt die Gefahr mit sich,
den kaum erwachten Kunstsinn wieder zu verderben. Ja selbst eine gewisse Ver¬
rohung in unserer gegenwärtigen Malerei dürfte man auf „demokratische" Ein¬
flüsse zurückführen. Man denke etwa an Pechstein. Nicht jedem ist es wie Hans
Thoma gegeben, den Mangel ererbter Kultur durch ernstes Streben bis auf einen
Erdenrest zu überwinden. Zwar nicht wie ein huldvolles Geschenk von oben soll
Kunst und Bildung dem einfachen Manne geboten werden. Das Volk hat ein
Recht auf Bildung. Aber gerade wer das anerkennt, übernimmt die Pflicht als
Bildungsträger zugleich auch Führer und Erzieher zu werden. Die demokratische
Bewegung der letzten Jahrzehnte hat allgemein zu einer Überschätzung der Insti¬
tutionen und Organisationen, zu einer Unterschätzung der Persönlichkeiten und
einer übertriebenen Bewertung des gesunden Durchschnitts gegenüber der hervor¬
ragenden Leistung geführt. „Bildung ist nichts, was als Massenartikel erzeugt
und auf dem Wege der Organisation Vertrieben werden könnte; Bildung ist das
eigenste, das tiefste Geschäft eines jeden mit sich selbst, und es sührt kein anderer
Weg zu ihr als Arbeit und Selbstbesinnung." (Fr. Jott.) Bildungsvereine können
wohl den Zugang zur Bildung erleichtern; aber sie selbst vermögen sich gegen die
herabziehenden Triebe der Masse nur zu halten, wenn in ihnen der Einfluß und
das Beispiel wahrhaft.gebildeter Persönlichkeiten maßgebend ist. „Vor allem ist
es für jeden kulturellen Fortschritt der Gesamtheit nötig, daß Individuen sich
geistig aus dem Banne der Gesamtheit lösen, sich darüber erheben, ihrerseits vor¬
dringen, um dann vielleicht die Gesamtheit noch sich zu ziehen. . . Die Gesamt¬
heit ihrerseits droht immer, die einzelnen herabzuziehen. „Mit der Menge" darf
nicht die Losung bleiben für alle diejenigen, die sich über die Menge zu erheben
vermögen. Losung aber muß bleiben: „Für die Gemeinschaft!"" (Wilh. Münch.)
Bei allem Bildungsstreben, sofern es von sittlicher Gesinnung durchdrungen ist,
kommen sich zwei Triebe, von unten und von oben, entgegen. Denn echte Voll¬
bildung hat. wie überhaupt der geistige Besitz, in sich den Drang, andere an ihrem
Gute teilnehmen zu lassen; sie hat sozusagen eine demokratische Neigung. Das
richtige Bildungsstreben der Masse aber muß von selbst zur Entwicklung einzelner
hervorragender Persönlichkeiten führen, so daß sich hier ein aristokratisches Gefühl
des Vorranges bildet, das als „Führerrecht" auch innerhalb demokratischer Ge¬
sinnung statt des unhaltbaren Gedankens der Gleichheit mehr und mehr zur An¬
erkennung gekommen ist.

Daraus ergibt sich nun aber eine unbeweisbare Forderung an unsere Schule,
die höhere wie die Volksschule. Sie hat unter dem Einfluß der Kantischen Ethik,
die letzthin nur schlichte Pflichterfüllung, aber keine sittlich hervorragende Leistung
kennt, über den Bemühungen um einen möglichst hohen Durchschnitt die Entwicklung
außergewöhnlicher Begabungen und damit die Ausbildung führender Persönlich¬
keiten vernachlässigt. Wir wünschen beileibe keine künstliche Züchtung des Ehr¬
geizes, wie sie in den französischen Schulen vielfach üblich ist. Aber daß bei
unserem Unterrichtsverfahren den größten Gewinn die Mittelmäßigkeit hat und
wirkliche Begabung nicht hinreichend gefördert wird, ist von Schulmännern selbst
anerkannt worden. Da bedeutende Anlagen meist einseitig sind, so sieht sich der
befähigte Schüler durch seine Gesamtleistung in der Klasse oft hinter den sehr
mittelmäßigen Geist zurückgesetzt. Auch weist es auf einen schwachen Punkt in
unserem Schulerziehungssystem hin, daß außergewöhnliche Leistungen einzelner
Schüler im Urteil der Klasse nicht hoch bewertet werden, sondern der Höherstrebende
unverdienterweise leicht in den häßlichen Ruf des „Strebers" kommt. Hier
Wandel zu schaffen, bedarf es der taktvollen Einwirkung der Schulerzieher, vor
allem aber auch größerer Freiheit im Unterrichtsbeiriebe. Denn nur wenn man
der Betätigung des einzelnen Schülers weiteren Spielraum gewährt, wird sich
Eigenart und besondere Begabung entwickeln können. Die Höhe des Durchschnitts
kann doch niemals den Mangel führender Geister ersetzen. Wie oft haben wir
das in der jüngsten Vergangenheit empfundenI




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/306>, abgerufen am 01.09.2024.