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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

Und nun Warten diese Leute auf das Unerhörte, auf das Wunder, das sie
retten kann. Das Wunder aber kommt nicht. Keine Hand rührt sich. Die
Nationalversammlung tut sich -groß in Parteigezänk, in Anklagen herüber und
hinüber, die nichts mehr ändern, in Hu-Rufen und ostentativem Lachen, die Ne¬
gierung fleht, verantwortet sich, proklamiert, theoretisiert, nur keine Tat. Keine
Sozialisierung, keine Heimstätten, keine Wuchergesetze. Statt dessen Verfassungs¬
entwürfe, Debatten über Heeresreformen und Landesfarben. Keine Idee, kein
Ideal, nichts, kein Ausweg. Es ist dem Arbeiter völlig gleichgültig, ob sein
Staat Preußen oder Hannover heißt, -schließlich gleichgültig, ob andere schwere
Steuern zahlen müssen, er selbst will leben können, gut leben können, würdig
leben können, der Krieg soll sich gelohnt haben. Aber was da in der National¬
versammlung vor sich geht, das ist Herrengezänk.

Und in dies Chaos der Verzweiflung, des gänzlichen Verratenseins fallen
ein paar Schlagworte wie Sozialisierung, Kommunismus und -- Bolschewis¬
mus. In jeder Zeit-ungsspalte ist davon die Rede. Vom Bolschewismus reden
immer zwei von drei Plataeer. Hier ist das Unerhörte Bild geworden, das
Grausige, Gewalttätige, Zerstörende, Sinnlose, Berauschende, Unerhörte, das
straflose Wüten, Mord, Brand, Blut, Rauch, Weltuntergang. Dazu die
Atmosphäre, die die Tagespresse schafft. Sechs Getötete auf der Chausseestraße
(was waren sechs Tote im Kriege!) nennt man um der Sensation willen ein
"Blutbad", jeder neue Streik geschäftstüchtig mit fetter Überschrift aufgemacht
wie eine Heldentat, Straßenschlächten geschildert wie homerische Kämpfe, und die
durch die Niederlage benommenen, unterernährten Hirne über demoralisierten
Mägen sollten nicht in einen Taumel des Wahnsinns geraten?

Endlich die Erwerbsgier besonders der Reklamierten. Es war gewiß ein
Unglück, daß die Durchführung des Hindenburg-Programms nur bei unerhörten
Löhnen gewährleistet werden konnte, gewiß ein Unglück, daß diese Löhne nicht
wenigstens in Naturalien oder Material oder Möglichkeit von Landerwerb oder
dergleichen ausgezahlt werden konnten^ es widersprach doch aber der Erfahrung des
alltäglichen Lebens, daß einmal angenommene Lebenshaltung sich ohne Schwierig¬
keiten wieder zurückschrauben lassen würde. Niemand läßt sich seine Lebens-
gewohnheiten ohne Kampf nehmen, und die Begehrlichkeit der Massen, die man
rief, wird man sobald nicht wieder los werden. Die Arbeiter haben recht Wohl
gemerkt, daß es im Kriege nicht auf eine Handvoll Intellektueller ankam, Wohl
aber auf jeden Handgriff mehr eines Arbeiters, und sie tun das, was jeder Kauf-
mann vor und -- im Kriege tat, sie nutzen die Konjunktur aus. Gewiß sehr ver¬
werflich. Aber ein Volk, das so viele Kriegsgewinnler gesehen hat, daß deren
Besteuerung fast als die einzig mögliche Rettung vom Staatsbankerott erscheint,
sollte das Verwundern über solche Verwerflichkeiten allmählich verlernt haben.

Wo ist die Rettung aus dieser unheilbar scheinenden Lage? Die Losung
muß heißen: Arbeiten und nicht politisieren. Ringe nicht die Hände über die
Schlechtigkeiten der Spartakisten, fondern gebt der Masse, statt Moraltraktätchen
führende Ideen. Begeisternde Ideen. Verstand ist etwas Individuelles, Ver¬
nunft etwas für Philosophen, Massen haben Gefühle. Schafft Taten, die aufs
Gefühl wirken, streitet nicht um Vorrechte, fondern schafft Beispiele, die mit¬
reißen, zirkelt nicht Kompetenzen ab und erwägt Verd>:enstmöglichkeiten, sondern
handelt um der Sache willen. Millionen haben sich ins Unvermeidliche fügen
müssen, warum sollen nicht auch einmal Hunderttausende sich fügen müssen, auch
wo's ohne grobe Ungerechtigkeiten nicht abgeht? Pocht nicht auf Rechte, wo alle
nur gleiches Unglück zu tragen haben. Kam die Negierung bereits im Dezember
mit den Zugeständnissen heraus, die sie sich jetzt hat abringen lassen, viel Unheil
wäre vermieden worden. Es mag durchaus sein, daß dem schwere und gewichtige
Bedenken gegenüberstanden (und ganz -gewiß auch noch gegenüber stehen!), aber
es hätte Begeisterung geschaffen, und die haben wir jetzt nötiger als alles, nötiger
noch als Lebensmittel. Schafft so viel Begeisterung, daß keine Agitation mehr
dagegen auf kann. Aber vertrödelt nicht die Zeit mit Prinzipienerwägung.

Wie man mit gutem Willen leicht ersehen kann, ist das Vorstehende nicht
geschrieben, um den Bolschewismus zu rechtfertigen oder zu entschuldigen,


Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

Und nun Warten diese Leute auf das Unerhörte, auf das Wunder, das sie
retten kann. Das Wunder aber kommt nicht. Keine Hand rührt sich. Die
Nationalversammlung tut sich -groß in Parteigezänk, in Anklagen herüber und
hinüber, die nichts mehr ändern, in Hu-Rufen und ostentativem Lachen, die Ne¬
gierung fleht, verantwortet sich, proklamiert, theoretisiert, nur keine Tat. Keine
Sozialisierung, keine Heimstätten, keine Wuchergesetze. Statt dessen Verfassungs¬
entwürfe, Debatten über Heeresreformen und Landesfarben. Keine Idee, kein
Ideal, nichts, kein Ausweg. Es ist dem Arbeiter völlig gleichgültig, ob sein
Staat Preußen oder Hannover heißt, -schließlich gleichgültig, ob andere schwere
Steuern zahlen müssen, er selbst will leben können, gut leben können, würdig
leben können, der Krieg soll sich gelohnt haben. Aber was da in der National¬
versammlung vor sich geht, das ist Herrengezänk.

Und in dies Chaos der Verzweiflung, des gänzlichen Verratenseins fallen
ein paar Schlagworte wie Sozialisierung, Kommunismus und — Bolschewis¬
mus. In jeder Zeit-ungsspalte ist davon die Rede. Vom Bolschewismus reden
immer zwei von drei Plataeer. Hier ist das Unerhörte Bild geworden, das
Grausige, Gewalttätige, Zerstörende, Sinnlose, Berauschende, Unerhörte, das
straflose Wüten, Mord, Brand, Blut, Rauch, Weltuntergang. Dazu die
Atmosphäre, die die Tagespresse schafft. Sechs Getötete auf der Chausseestraße
(was waren sechs Tote im Kriege!) nennt man um der Sensation willen ein
„Blutbad", jeder neue Streik geschäftstüchtig mit fetter Überschrift aufgemacht
wie eine Heldentat, Straßenschlächten geschildert wie homerische Kämpfe, und die
durch die Niederlage benommenen, unterernährten Hirne über demoralisierten
Mägen sollten nicht in einen Taumel des Wahnsinns geraten?

Endlich die Erwerbsgier besonders der Reklamierten. Es war gewiß ein
Unglück, daß die Durchführung des Hindenburg-Programms nur bei unerhörten
Löhnen gewährleistet werden konnte, gewiß ein Unglück, daß diese Löhne nicht
wenigstens in Naturalien oder Material oder Möglichkeit von Landerwerb oder
dergleichen ausgezahlt werden konnten^ es widersprach doch aber der Erfahrung des
alltäglichen Lebens, daß einmal angenommene Lebenshaltung sich ohne Schwierig¬
keiten wieder zurückschrauben lassen würde. Niemand läßt sich seine Lebens-
gewohnheiten ohne Kampf nehmen, und die Begehrlichkeit der Massen, die man
rief, wird man sobald nicht wieder los werden. Die Arbeiter haben recht Wohl
gemerkt, daß es im Kriege nicht auf eine Handvoll Intellektueller ankam, Wohl
aber auf jeden Handgriff mehr eines Arbeiters, und sie tun das, was jeder Kauf-
mann vor und — im Kriege tat, sie nutzen die Konjunktur aus. Gewiß sehr ver¬
werflich. Aber ein Volk, das so viele Kriegsgewinnler gesehen hat, daß deren
Besteuerung fast als die einzig mögliche Rettung vom Staatsbankerott erscheint,
sollte das Verwundern über solche Verwerflichkeiten allmählich verlernt haben.

Wo ist die Rettung aus dieser unheilbar scheinenden Lage? Die Losung
muß heißen: Arbeiten und nicht politisieren. Ringe nicht die Hände über die
Schlechtigkeiten der Spartakisten, fondern gebt der Masse, statt Moraltraktätchen
führende Ideen. Begeisternde Ideen. Verstand ist etwas Individuelles, Ver¬
nunft etwas für Philosophen, Massen haben Gefühle. Schafft Taten, die aufs
Gefühl wirken, streitet nicht um Vorrechte, fondern schafft Beispiele, die mit¬
reißen, zirkelt nicht Kompetenzen ab und erwägt Verd>:enstmöglichkeiten, sondern
handelt um der Sache willen. Millionen haben sich ins Unvermeidliche fügen
müssen, warum sollen nicht auch einmal Hunderttausende sich fügen müssen, auch
wo's ohne grobe Ungerechtigkeiten nicht abgeht? Pocht nicht auf Rechte, wo alle
nur gleiches Unglück zu tragen haben. Kam die Negierung bereits im Dezember
mit den Zugeständnissen heraus, die sie sich jetzt hat abringen lassen, viel Unheil
wäre vermieden worden. Es mag durchaus sein, daß dem schwere und gewichtige
Bedenken gegenüberstanden (und ganz -gewiß auch noch gegenüber stehen!), aber
es hätte Begeisterung geschaffen, und die haben wir jetzt nötiger als alles, nötiger
noch als Lebensmittel. Schafft so viel Begeisterung, daß keine Agitation mehr
dagegen auf kann. Aber vertrödelt nicht die Zeit mit Prinzipienerwägung.

Wie man mit gutem Willen leicht ersehen kann, ist das Vorstehende nicht
geschrieben, um den Bolschewismus zu rechtfertigen oder zu entschuldigen,


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[0030] Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus Und nun Warten diese Leute auf das Unerhörte, auf das Wunder, das sie retten kann. Das Wunder aber kommt nicht. Keine Hand rührt sich. Die Nationalversammlung tut sich -groß in Parteigezänk, in Anklagen herüber und hinüber, die nichts mehr ändern, in Hu-Rufen und ostentativem Lachen, die Ne¬ gierung fleht, verantwortet sich, proklamiert, theoretisiert, nur keine Tat. Keine Sozialisierung, keine Heimstätten, keine Wuchergesetze. Statt dessen Verfassungs¬ entwürfe, Debatten über Heeresreformen und Landesfarben. Keine Idee, kein Ideal, nichts, kein Ausweg. Es ist dem Arbeiter völlig gleichgültig, ob sein Staat Preußen oder Hannover heißt, -schließlich gleichgültig, ob andere schwere Steuern zahlen müssen, er selbst will leben können, gut leben können, würdig leben können, der Krieg soll sich gelohnt haben. Aber was da in der National¬ versammlung vor sich geht, das ist Herrengezänk. Und in dies Chaos der Verzweiflung, des gänzlichen Verratenseins fallen ein paar Schlagworte wie Sozialisierung, Kommunismus und — Bolschewis¬ mus. In jeder Zeit-ungsspalte ist davon die Rede. Vom Bolschewismus reden immer zwei von drei Plataeer. Hier ist das Unerhörte Bild geworden, das Grausige, Gewalttätige, Zerstörende, Sinnlose, Berauschende, Unerhörte, das straflose Wüten, Mord, Brand, Blut, Rauch, Weltuntergang. Dazu die Atmosphäre, die die Tagespresse schafft. Sechs Getötete auf der Chausseestraße (was waren sechs Tote im Kriege!) nennt man um der Sensation willen ein „Blutbad", jeder neue Streik geschäftstüchtig mit fetter Überschrift aufgemacht wie eine Heldentat, Straßenschlächten geschildert wie homerische Kämpfe, und die durch die Niederlage benommenen, unterernährten Hirne über demoralisierten Mägen sollten nicht in einen Taumel des Wahnsinns geraten? Endlich die Erwerbsgier besonders der Reklamierten. Es war gewiß ein Unglück, daß die Durchführung des Hindenburg-Programms nur bei unerhörten Löhnen gewährleistet werden konnte, gewiß ein Unglück, daß diese Löhne nicht wenigstens in Naturalien oder Material oder Möglichkeit von Landerwerb oder dergleichen ausgezahlt werden konnten^ es widersprach doch aber der Erfahrung des alltäglichen Lebens, daß einmal angenommene Lebenshaltung sich ohne Schwierig¬ keiten wieder zurückschrauben lassen würde. Niemand läßt sich seine Lebens- gewohnheiten ohne Kampf nehmen, und die Begehrlichkeit der Massen, die man rief, wird man sobald nicht wieder los werden. Die Arbeiter haben recht Wohl gemerkt, daß es im Kriege nicht auf eine Handvoll Intellektueller ankam, Wohl aber auf jeden Handgriff mehr eines Arbeiters, und sie tun das, was jeder Kauf- mann vor und — im Kriege tat, sie nutzen die Konjunktur aus. Gewiß sehr ver¬ werflich. Aber ein Volk, das so viele Kriegsgewinnler gesehen hat, daß deren Besteuerung fast als die einzig mögliche Rettung vom Staatsbankerott erscheint, sollte das Verwundern über solche Verwerflichkeiten allmählich verlernt haben. Wo ist die Rettung aus dieser unheilbar scheinenden Lage? Die Losung muß heißen: Arbeiten und nicht politisieren. Ringe nicht die Hände über die Schlechtigkeiten der Spartakisten, fondern gebt der Masse, statt Moraltraktätchen führende Ideen. Begeisternde Ideen. Verstand ist etwas Individuelles, Ver¬ nunft etwas für Philosophen, Massen haben Gefühle. Schafft Taten, die aufs Gefühl wirken, streitet nicht um Vorrechte, fondern schafft Beispiele, die mit¬ reißen, zirkelt nicht Kompetenzen ab und erwägt Verd>:enstmöglichkeiten, sondern handelt um der Sache willen. Millionen haben sich ins Unvermeidliche fügen müssen, warum sollen nicht auch einmal Hunderttausende sich fügen müssen, auch wo's ohne grobe Ungerechtigkeiten nicht abgeht? Pocht nicht auf Rechte, wo alle nur gleiches Unglück zu tragen haben. Kam die Negierung bereits im Dezember mit den Zugeständnissen heraus, die sie sich jetzt hat abringen lassen, viel Unheil wäre vermieden worden. Es mag durchaus sein, daß dem schwere und gewichtige Bedenken gegenüberstanden (und ganz -gewiß auch noch gegenüber stehen!), aber es hätte Begeisterung geschaffen, und die haben wir jetzt nötiger als alles, nötiger noch als Lebensmittel. Schafft so viel Begeisterung, daß keine Agitation mehr dagegen auf kann. Aber vertrödelt nicht die Zeit mit Prinzipienerwägung. Wie man mit gutem Willen leicht ersehen kann, ist das Vorstehende nicht geschrieben, um den Bolschewismus zu rechtfertigen oder zu entschuldigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/30>, abgerufen am 01.09.2024.