Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

getan war, Geist, Körper und Seele frisch zu erhalten. Dazu kam dann noch
das ständige neiderweckende Vorbild der Offiziere, die schließlich auch nicht mehr
taten als ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür aber alle Vorrechte eines freien,
selbständigen und gutbezahlter Zivilmenschen genossen. Ganz gleichgültig, ob
diese Ansicht zu Recht oder Unrecht bestand, genug, d a ß sie bestand und die kin¬
dische Wut auf Epauletten und Kokarden ist auf diese Stimmung zurückzuführen.

Dazu kam dann in der Front wie in der Etappe die bei so langer .Kriegs¬
dauer und zunehmender Knappheit unvermeidliche Lockerung der Disziplin. Ge¬
horcht, wurde vielfach nur dem Buchstaben nach, und was der Soldat nicht bekam
oder nicht bekommen konnte, fing er an, sich selbständig zu "besorgen". Es ist
auch kein Geheimnis mehr, daß mancher Vorstoß an der Front nur ein Kampf
um die Lebensmittel im feindlichen Graben war und daß bei der Offensive auf
Amiens zu mehrere Regimenter nur deshalb nicht vorwärts kamen, weil sie die
Weinvorräte der feindlichen Etappe zu hastig nutzten.'

Endlich bei vielen das vollkommen Abenteuerliche und teilweise Phan¬
tastische der Existenz, vier Jahre nur auf Gewalttat, List, Kühnheit, Gewandt¬
heit gestellt zu fein, auf die Lust am Augenblick, ohne Rast, in der Fremde, Leben
voll Gefahr, voll Überraschungen, Unerwartetem, Unerhörten! Hat man wirk¬
lich geglaubt, der Mensch, der durch Belgien raste, in Rußland überwinterte,
durch den Wardar watete, in Bukarest einzog, nach Saloniki hinüuerspähte, Riga
eroberte, würde eines Tages aus Kommando wieder ohne weiteres ein braves
bürgerliches Leben anfangen wollen, ja auch nur können? Der Mensch, der
überall Herr und Eroberer war, dem Belgier schön taten, vor dem polnische
Juden dienerten, den Rumänenmädchen umschäterten, den die Bundesbrüder zu
Hilfe riefen, würde wieder ohne weiteres in die Enge eines Diener- oder An¬
gestelltenlebens zurückkriechen? Hat sich wirklich jemand ernsthaft vorgestellt, all
diese Leute würden eines Tages mit Gesang aus dem Kriege zurückkommen, um
tags darauf wieder an ihre Arbeit zurückzukehren? Vier Jahre, vier Kriegs-
jahre sind eine lange Zeit und es gibt wenig Menschen, deren Charakter nicht
irgendwie durch sie verändert worden wäre. Alle sind sie mehr oder weniger
und jeder nach seiner Art und seinen Schicksalen Berufssoldaten geworden und
die gewaltsame und plötzliche Umstellung kann naturgemäß nicht ohne heftiges
Schwanken vor sich gehen.

Und dann nach all den Müh- und Drangsalen, Sorgen und Ängsten, Ge¬
fahren und Hoffnungen die fürchterlichste Enttäuschung: die Gewißheit,' daß nun-
alles, alles umsonst gewesen ist. Und was finden die Zurückgekehrten in der Hei¬
mat, die ihnen so oft als Symbol der Hoffnung galt? Eine durch Hunger zer¬
mürbte Familie, die ihnen fremd geworden ist, in den Großstädten die traurig¬
sten Wohnverhültnisse mit Sorgen vor Mietssteigerungen und Kündigungen,
alles schlechter, enger, kleiner, knapper geworden als vor dem Kriege, alle Sorge,
alle Schinderei drückender geworden, Ersparnisse ausgezehrt oder bedroht, Exi¬
stenz in Frage gestellt, und wofür das alles? Alles, alles umsonst und kein Aus¬
weg sichtbar, dazu Grimm, daß das Unglück doch noch nicht ganz allgemein zu
sein scheint, Gerüchte über Kapitalflucht ins Ausland, über Eigennutz und Un¬
fähigkeiten. Und man wundert sich, wenn diese Leute die Verzweiflung packt?
Es kann nie die Rede davon sein, diese Verzweiflung oder gar ihre Äußerungen
ju rechtfertigen. Aber wie kann man sich darüber Wundern? Seit August 1913
mindestens war sie vorauszusehen.

Diese Leute können auch nicht mehr gehorchen, weil sie den Glauben an die
Autorität verloren haben. Jahrelang haben sie sich allem, was Achselstücke oder
Gehrock trug, unterworfen, und doch wurde der Krieg verloren. Dann machte
Man die Erfahrung, daß ganze Stäbe vor ein paar Entschlossenen bedingungslos
kapitulierten, daß aber die Entschlossenen auch nichts Besseres schafften. "Also
Ma Teufel doch mit allem, was befehlen will, befehlen ist Unsinn! Kein Mensch
kann mehr etwas ändern". So argumentiert der primitive Verstand, und ist es
gar so erstaunlich, daß er so argumentiert? Wieviele Bürger benehmen sich bei
gewöhnlichen Verkehrslappalien würdiger?


GreiizbotiM II 1919 2
Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

getan war, Geist, Körper und Seele frisch zu erhalten. Dazu kam dann noch
das ständige neiderweckende Vorbild der Offiziere, die schließlich auch nicht mehr
taten als ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür aber alle Vorrechte eines freien,
selbständigen und gutbezahlter Zivilmenschen genossen. Ganz gleichgültig, ob
diese Ansicht zu Recht oder Unrecht bestand, genug, d a ß sie bestand und die kin¬
dische Wut auf Epauletten und Kokarden ist auf diese Stimmung zurückzuführen.

Dazu kam dann in der Front wie in der Etappe die bei so langer .Kriegs¬
dauer und zunehmender Knappheit unvermeidliche Lockerung der Disziplin. Ge¬
horcht, wurde vielfach nur dem Buchstaben nach, und was der Soldat nicht bekam
oder nicht bekommen konnte, fing er an, sich selbständig zu „besorgen". Es ist
auch kein Geheimnis mehr, daß mancher Vorstoß an der Front nur ein Kampf
um die Lebensmittel im feindlichen Graben war und daß bei der Offensive auf
Amiens zu mehrere Regimenter nur deshalb nicht vorwärts kamen, weil sie die
Weinvorräte der feindlichen Etappe zu hastig nutzten.'

Endlich bei vielen das vollkommen Abenteuerliche und teilweise Phan¬
tastische der Existenz, vier Jahre nur auf Gewalttat, List, Kühnheit, Gewandt¬
heit gestellt zu fein, auf die Lust am Augenblick, ohne Rast, in der Fremde, Leben
voll Gefahr, voll Überraschungen, Unerwartetem, Unerhörten! Hat man wirk¬
lich geglaubt, der Mensch, der durch Belgien raste, in Rußland überwinterte,
durch den Wardar watete, in Bukarest einzog, nach Saloniki hinüuerspähte, Riga
eroberte, würde eines Tages aus Kommando wieder ohne weiteres ein braves
bürgerliches Leben anfangen wollen, ja auch nur können? Der Mensch, der
überall Herr und Eroberer war, dem Belgier schön taten, vor dem polnische
Juden dienerten, den Rumänenmädchen umschäterten, den die Bundesbrüder zu
Hilfe riefen, würde wieder ohne weiteres in die Enge eines Diener- oder An¬
gestelltenlebens zurückkriechen? Hat sich wirklich jemand ernsthaft vorgestellt, all
diese Leute würden eines Tages mit Gesang aus dem Kriege zurückkommen, um
tags darauf wieder an ihre Arbeit zurückzukehren? Vier Jahre, vier Kriegs-
jahre sind eine lange Zeit und es gibt wenig Menschen, deren Charakter nicht
irgendwie durch sie verändert worden wäre. Alle sind sie mehr oder weniger
und jeder nach seiner Art und seinen Schicksalen Berufssoldaten geworden und
die gewaltsame und plötzliche Umstellung kann naturgemäß nicht ohne heftiges
Schwanken vor sich gehen.

Und dann nach all den Müh- und Drangsalen, Sorgen und Ängsten, Ge¬
fahren und Hoffnungen die fürchterlichste Enttäuschung: die Gewißheit,' daß nun-
alles, alles umsonst gewesen ist. Und was finden die Zurückgekehrten in der Hei¬
mat, die ihnen so oft als Symbol der Hoffnung galt? Eine durch Hunger zer¬
mürbte Familie, die ihnen fremd geworden ist, in den Großstädten die traurig¬
sten Wohnverhültnisse mit Sorgen vor Mietssteigerungen und Kündigungen,
alles schlechter, enger, kleiner, knapper geworden als vor dem Kriege, alle Sorge,
alle Schinderei drückender geworden, Ersparnisse ausgezehrt oder bedroht, Exi¬
stenz in Frage gestellt, und wofür das alles? Alles, alles umsonst und kein Aus¬
weg sichtbar, dazu Grimm, daß das Unglück doch noch nicht ganz allgemein zu
sein scheint, Gerüchte über Kapitalflucht ins Ausland, über Eigennutz und Un¬
fähigkeiten. Und man wundert sich, wenn diese Leute die Verzweiflung packt?
Es kann nie die Rede davon sein, diese Verzweiflung oder gar ihre Äußerungen
ju rechtfertigen. Aber wie kann man sich darüber Wundern? Seit August 1913
mindestens war sie vorauszusehen.

Diese Leute können auch nicht mehr gehorchen, weil sie den Glauben an die
Autorität verloren haben. Jahrelang haben sie sich allem, was Achselstücke oder
Gehrock trug, unterworfen, und doch wurde der Krieg verloren. Dann machte
Man die Erfahrung, daß ganze Stäbe vor ein paar Entschlossenen bedingungslos
kapitulierten, daß aber die Entschlossenen auch nichts Besseres schafften. „Also
Ma Teufel doch mit allem, was befehlen will, befehlen ist Unsinn! Kein Mensch
kann mehr etwas ändern". So argumentiert der primitive Verstand, und ist es
gar so erstaunlich, daß er so argumentiert? Wieviele Bürger benehmen sich bei
gewöhnlichen Verkehrslappalien würdiger?


GreiizbotiM II 1919 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335437"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_54" prev="#ID_53"> getan war, Geist, Körper und Seele frisch zu erhalten. Dazu kam dann noch<lb/>
das ständige neiderweckende Vorbild der Offiziere, die schließlich auch nicht mehr<lb/>
taten als ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür aber alle Vorrechte eines freien,<lb/>
selbständigen und gutbezahlter Zivilmenschen genossen. Ganz gleichgültig, ob<lb/>
diese Ansicht zu Recht oder Unrecht bestand, genug, d a ß sie bestand und die kin¬<lb/>
dische Wut auf Epauletten und Kokarden ist auf diese Stimmung zurückzuführen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_55"> Dazu kam dann in der Front wie in der Etappe die bei so langer .Kriegs¬<lb/>
dauer und zunehmender Knappheit unvermeidliche Lockerung der Disziplin. Ge¬<lb/>
horcht, wurde vielfach nur dem Buchstaben nach, und was der Soldat nicht bekam<lb/>
oder nicht bekommen konnte, fing er an, sich selbständig zu &#x201E;besorgen". Es ist<lb/>
auch kein Geheimnis mehr, daß mancher Vorstoß an der Front nur ein Kampf<lb/>
um die Lebensmittel im feindlichen Graben war und daß bei der Offensive auf<lb/>
Amiens zu mehrere Regimenter nur deshalb nicht vorwärts kamen, weil sie die<lb/>
Weinvorräte der feindlichen Etappe zu hastig nutzten.'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_56"> Endlich bei vielen das vollkommen Abenteuerliche und teilweise Phan¬<lb/>
tastische der Existenz, vier Jahre nur auf Gewalttat, List, Kühnheit, Gewandt¬<lb/>
heit gestellt zu fein, auf die Lust am Augenblick, ohne Rast, in der Fremde, Leben<lb/>
voll Gefahr, voll Überraschungen, Unerwartetem, Unerhörten! Hat man wirk¬<lb/>
lich geglaubt, der Mensch, der durch Belgien raste, in Rußland überwinterte,<lb/>
durch den Wardar watete, in Bukarest einzog, nach Saloniki hinüuerspähte, Riga<lb/>
eroberte, würde eines Tages aus Kommando wieder ohne weiteres ein braves<lb/>
bürgerliches Leben anfangen wollen, ja auch nur können? Der Mensch, der<lb/>
überall Herr und Eroberer war, dem Belgier schön taten, vor dem polnische<lb/>
Juden dienerten, den Rumänenmädchen umschäterten, den die Bundesbrüder zu<lb/>
Hilfe riefen, würde wieder ohne weiteres in die Enge eines Diener- oder An¬<lb/>
gestelltenlebens zurückkriechen? Hat sich wirklich jemand ernsthaft vorgestellt, all<lb/>
diese Leute würden eines Tages mit Gesang aus dem Kriege zurückkommen, um<lb/>
tags darauf wieder an ihre Arbeit zurückzukehren? Vier Jahre, vier Kriegs-<lb/>
jahre sind eine lange Zeit und es gibt wenig Menschen, deren Charakter nicht<lb/>
irgendwie durch sie verändert worden wäre. Alle sind sie mehr oder weniger<lb/>
und jeder nach seiner Art und seinen Schicksalen Berufssoldaten geworden und<lb/>
die gewaltsame und plötzliche Umstellung kann naturgemäß nicht ohne heftiges<lb/>
Schwanken vor sich gehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_57"> Und dann nach all den Müh- und Drangsalen, Sorgen und Ängsten, Ge¬<lb/>
fahren und Hoffnungen die fürchterlichste Enttäuschung: die Gewißheit,' daß nun-<lb/>
alles, alles umsonst gewesen ist. Und was finden die Zurückgekehrten in der Hei¬<lb/>
mat, die ihnen so oft als Symbol der Hoffnung galt? Eine durch Hunger zer¬<lb/>
mürbte Familie, die ihnen fremd geworden ist, in den Großstädten die traurig¬<lb/>
sten Wohnverhültnisse mit Sorgen vor Mietssteigerungen und Kündigungen,<lb/>
alles schlechter, enger, kleiner, knapper geworden als vor dem Kriege, alle Sorge,<lb/>
alle Schinderei drückender geworden, Ersparnisse ausgezehrt oder bedroht, Exi¬<lb/>
stenz in Frage gestellt, und wofür das alles? Alles, alles umsonst und kein Aus¬<lb/>
weg sichtbar, dazu Grimm, daß das Unglück doch noch nicht ganz allgemein zu<lb/>
sein scheint, Gerüchte über Kapitalflucht ins Ausland, über Eigennutz und Un¬<lb/>
fähigkeiten. Und man wundert sich, wenn diese Leute die Verzweiflung packt?<lb/>
Es kann nie die Rede davon sein, diese Verzweiflung oder gar ihre Äußerungen<lb/>
ju rechtfertigen. Aber wie kann man sich darüber Wundern? Seit August 1913<lb/>
mindestens war sie vorauszusehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_58"> Diese Leute können auch nicht mehr gehorchen, weil sie den Glauben an die<lb/>
Autorität verloren haben. Jahrelang haben sie sich allem, was Achselstücke oder<lb/>
Gehrock trug, unterworfen, und doch wurde der Krieg verloren. Dann machte<lb/>
Man die Erfahrung, daß ganze Stäbe vor ein paar Entschlossenen bedingungslos<lb/>
kapitulierten, daß aber die Entschlossenen auch nichts Besseres schafften. &#x201E;Also<lb/>
Ma Teufel doch mit allem, was befehlen will, befehlen ist Unsinn! Kein Mensch<lb/>
kann mehr etwas ändern". So argumentiert der primitive Verstand, und ist es<lb/>
gar so erstaunlich, daß er so argumentiert? Wieviele Bürger benehmen sich bei<lb/>
gewöhnlichen Verkehrslappalien würdiger?</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GreiizbotiM II 1919 2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus getan war, Geist, Körper und Seele frisch zu erhalten. Dazu kam dann noch das ständige neiderweckende Vorbild der Offiziere, die schließlich auch nicht mehr taten als ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür aber alle Vorrechte eines freien, selbständigen und gutbezahlter Zivilmenschen genossen. Ganz gleichgültig, ob diese Ansicht zu Recht oder Unrecht bestand, genug, d a ß sie bestand und die kin¬ dische Wut auf Epauletten und Kokarden ist auf diese Stimmung zurückzuführen. Dazu kam dann in der Front wie in der Etappe die bei so langer .Kriegs¬ dauer und zunehmender Knappheit unvermeidliche Lockerung der Disziplin. Ge¬ horcht, wurde vielfach nur dem Buchstaben nach, und was der Soldat nicht bekam oder nicht bekommen konnte, fing er an, sich selbständig zu „besorgen". Es ist auch kein Geheimnis mehr, daß mancher Vorstoß an der Front nur ein Kampf um die Lebensmittel im feindlichen Graben war und daß bei der Offensive auf Amiens zu mehrere Regimenter nur deshalb nicht vorwärts kamen, weil sie die Weinvorräte der feindlichen Etappe zu hastig nutzten.' Endlich bei vielen das vollkommen Abenteuerliche und teilweise Phan¬ tastische der Existenz, vier Jahre nur auf Gewalttat, List, Kühnheit, Gewandt¬ heit gestellt zu fein, auf die Lust am Augenblick, ohne Rast, in der Fremde, Leben voll Gefahr, voll Überraschungen, Unerwartetem, Unerhörten! Hat man wirk¬ lich geglaubt, der Mensch, der durch Belgien raste, in Rußland überwinterte, durch den Wardar watete, in Bukarest einzog, nach Saloniki hinüuerspähte, Riga eroberte, würde eines Tages aus Kommando wieder ohne weiteres ein braves bürgerliches Leben anfangen wollen, ja auch nur können? Der Mensch, der überall Herr und Eroberer war, dem Belgier schön taten, vor dem polnische Juden dienerten, den Rumänenmädchen umschäterten, den die Bundesbrüder zu Hilfe riefen, würde wieder ohne weiteres in die Enge eines Diener- oder An¬ gestelltenlebens zurückkriechen? Hat sich wirklich jemand ernsthaft vorgestellt, all diese Leute würden eines Tages mit Gesang aus dem Kriege zurückkommen, um tags darauf wieder an ihre Arbeit zurückzukehren? Vier Jahre, vier Kriegs- jahre sind eine lange Zeit und es gibt wenig Menschen, deren Charakter nicht irgendwie durch sie verändert worden wäre. Alle sind sie mehr oder weniger und jeder nach seiner Art und seinen Schicksalen Berufssoldaten geworden und die gewaltsame und plötzliche Umstellung kann naturgemäß nicht ohne heftiges Schwanken vor sich gehen. Und dann nach all den Müh- und Drangsalen, Sorgen und Ängsten, Ge¬ fahren und Hoffnungen die fürchterlichste Enttäuschung: die Gewißheit,' daß nun- alles, alles umsonst gewesen ist. Und was finden die Zurückgekehrten in der Hei¬ mat, die ihnen so oft als Symbol der Hoffnung galt? Eine durch Hunger zer¬ mürbte Familie, die ihnen fremd geworden ist, in den Großstädten die traurig¬ sten Wohnverhültnisse mit Sorgen vor Mietssteigerungen und Kündigungen, alles schlechter, enger, kleiner, knapper geworden als vor dem Kriege, alle Sorge, alle Schinderei drückender geworden, Ersparnisse ausgezehrt oder bedroht, Exi¬ stenz in Frage gestellt, und wofür das alles? Alles, alles umsonst und kein Aus¬ weg sichtbar, dazu Grimm, daß das Unglück doch noch nicht ganz allgemein zu sein scheint, Gerüchte über Kapitalflucht ins Ausland, über Eigennutz und Un¬ fähigkeiten. Und man wundert sich, wenn diese Leute die Verzweiflung packt? Es kann nie die Rede davon sein, diese Verzweiflung oder gar ihre Äußerungen ju rechtfertigen. Aber wie kann man sich darüber Wundern? Seit August 1913 mindestens war sie vorauszusehen. Diese Leute können auch nicht mehr gehorchen, weil sie den Glauben an die Autorität verloren haben. Jahrelang haben sie sich allem, was Achselstücke oder Gehrock trug, unterworfen, und doch wurde der Krieg verloren. Dann machte Man die Erfahrung, daß ganze Stäbe vor ein paar Entschlossenen bedingungslos kapitulierten, daß aber die Entschlossenen auch nichts Besseres schafften. „Also Ma Teufel doch mit allem, was befehlen will, befehlen ist Unsinn! Kein Mensch kann mehr etwas ändern". So argumentiert der primitive Verstand, und ist es gar so erstaunlich, daß er so argumentiert? Wieviele Bürger benehmen sich bei gewöhnlichen Verkehrslappalien würdiger? GreiizbotiM II 1919 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/29>, abgerufen am 18.12.2024.