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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Die neue deutsche Glaubensspaltung

war das Heer sozialdemokratisch geworden, wie nie zuvor. Der Heeresverband
erleichterte zudem die weitere Agitation wie nie zuvor. Damit hatte der
Staat sein Heer selbst an die Sozialdemokratie geradezu ausgeliefert. Sobald die
Unabhängigen dies merkten, organisierten sie die Revolution, um einen alten
Programmpunkt wahr zu machen. Es war "eine Gelegenheitsrevolution, für die
der Erfolg sprach".

Die Unabhängigen und noch mehr die Spartakisten sind die Vertreter der
reinen Klassenrevolution. Für sie kommt es nur darauf an, daß die "Arbeiter¬
klasse" zur Herrschaft kommt; ob durch das demokratische Stimmrecht oder mit
Gewalt, ist gleichgültig. Es kommt auch nichts darauf, ob das Deutsche Reich
darüber in Trümmer geht, wenn es nur gelingt, in irgendeinem "Freistaat"
Bayern oder Braunschweig, Leipzig oder Bremen die politische Macht zu behaupten.
Der älteste und verbohrteste Partikularismus wird wieder aufgewärmt, wenn er
der Klassenherrschaft augenblicklich günstig erscheint. Es dürfte kaum irgendwo
früher einen deutschen Duodezfürsten gegeben haben, der an nationalpolitischer
Gleichgültigkeit und hausmächtlicher Engherzigkeit die heutigen Spartakistenführer
überboten hätte. Dagegen hat die mehrheitssozmlistische Regierung die national¬
politischen Aufgaben nie außer acht gelassen. Aber auch sie wird geängstigt von
den Geistern ihrer ebenfalls klassenrevolutionären Vergangenheit. "Sie schwankt
zwischen dem Gefühl, Dienerin des "Volkes" im Sinne von Proletariat und dem
im Sinne von Nation zu sein. Sie will die Souveränität der Nationalversammlung
und muß doch immer nach dem "Rätesystem" hinüberschielen, mit dem die Klassen¬
kämpfer des Proletariats ihre Macht begründen wollen."

Inzwischen hat man von rechts her im "Nätesystem eine Wiederaufnahme
altkonservativer berufsständischer Forderungen erkannt und schickt sich an, den Ge¬
danken zu einem neuen Prinzip organischer Voksvertretung auszubauen. Sollte
das einmal zur Zufriedenheit breiter Volksmassen in allen Schichten gelingen, so
so hätte uns damit die Revolution wirklich eine "Errungenschaft" gebracht, um
derentwillen sie der nationale Politiker vielleicht später segnen möchte. Jedenfalls
muß es gelingen, den nationalpolitischen Charakter der Revolution völlig in den
Vordergrund zu rücken und den Geist der Klassenrevolntion zurückzudrängen, wenn
überhaupt aus dieser Umwälzung etwas Gutes kommen soll. Bei dein Versuche,
wieder eine nationale Politik in Deutschland zur Herrschaft zu bringen, können
zwei Fehler gemacht werden. Den einen erwähnt Hoffmann. Er besteht darin,
daß man siebzig Jahre deutscher Entwicklung einfach zu überspringen sucht und
wieder an die nationalen Bestrebungen der achtundvierziger Demokratie anknüpft,
gerade als ob diese erst gestern gewesen wären. Bismarck, die Einigung durch
Blut und Eisen und der kleindeutsche Gedanke sind durch die jüngsten Ereignisse
nicht "widerlegt", wie insbesondere viele Deutschdcmokraten und national fühlende
Sozialdemokraten jetzt glauben machen wollen. Allerdings wird der zukünftige
Nationalgedanke wieder großdcutsch sein, weil Österreich-Ungarn nicht mehr besteht.
Aber dieser grotzdeutsche Gedanke der Zukunft steht auf den Schultern des klein-
deutschen, und die Wahrheit des Spruches von Blut und Eisen wird er vermutlich
noch schätzen lernen. Denn wenn die Entente jetzt mehr als eine deutsche Jrredenta
schafft, dann werden wir eben für den großdeutschen Gedanken wieder kämpfen
müssen, wenn nötig auch mit Blut und Eisen. Der großdeutsche Nalionalgedanke
von heute wird alle großen Traditionen Bismarcks und des klcindeutschen Reiches
sorgfältig pflegen und in sich verarbeiten, um seiner Erfüllung entgegcnzureifen.
Der wahrhaft Nationale darf den Geist des Bismarckschen Reiches nicht ver¬
leugnen, denn der großdeutsche Gedanke wird selbst von diesem Geist durchweht
sein müssen.
-

Der nationale Gedanke in Deutschland kann aber heute noch den andem
Fehler machen, daß er umgekehrt die Revolution vollkommen negiert und einfach die
Zustände des untergegangenen Kaisertums zurücksehnt. Das ist die Art, in der
jetzt die Deutschnationalen die Idee der Nation pflegen. Auch vor der Revolution
darf man nicht in beguemem Widerwillen die Augen schließen, man darf nicht ver-


Die neue deutsche Glaubensspaltung

war das Heer sozialdemokratisch geworden, wie nie zuvor. Der Heeresverband
erleichterte zudem die weitere Agitation wie nie zuvor. Damit hatte der
Staat sein Heer selbst an die Sozialdemokratie geradezu ausgeliefert. Sobald die
Unabhängigen dies merkten, organisierten sie die Revolution, um einen alten
Programmpunkt wahr zu machen. Es war „eine Gelegenheitsrevolution, für die
der Erfolg sprach".

Die Unabhängigen und noch mehr die Spartakisten sind die Vertreter der
reinen Klassenrevolution. Für sie kommt es nur darauf an, daß die „Arbeiter¬
klasse" zur Herrschaft kommt; ob durch das demokratische Stimmrecht oder mit
Gewalt, ist gleichgültig. Es kommt auch nichts darauf, ob das Deutsche Reich
darüber in Trümmer geht, wenn es nur gelingt, in irgendeinem „Freistaat"
Bayern oder Braunschweig, Leipzig oder Bremen die politische Macht zu behaupten.
Der älteste und verbohrteste Partikularismus wird wieder aufgewärmt, wenn er
der Klassenherrschaft augenblicklich günstig erscheint. Es dürfte kaum irgendwo
früher einen deutschen Duodezfürsten gegeben haben, der an nationalpolitischer
Gleichgültigkeit und hausmächtlicher Engherzigkeit die heutigen Spartakistenführer
überboten hätte. Dagegen hat die mehrheitssozmlistische Regierung die national¬
politischen Aufgaben nie außer acht gelassen. Aber auch sie wird geängstigt von
den Geistern ihrer ebenfalls klassenrevolutionären Vergangenheit. "Sie schwankt
zwischen dem Gefühl, Dienerin des „Volkes" im Sinne von Proletariat und dem
im Sinne von Nation zu sein. Sie will die Souveränität der Nationalversammlung
und muß doch immer nach dem „Rätesystem" hinüberschielen, mit dem die Klassen¬
kämpfer des Proletariats ihre Macht begründen wollen."

Inzwischen hat man von rechts her im „Nätesystem eine Wiederaufnahme
altkonservativer berufsständischer Forderungen erkannt und schickt sich an, den Ge¬
danken zu einem neuen Prinzip organischer Voksvertretung auszubauen. Sollte
das einmal zur Zufriedenheit breiter Volksmassen in allen Schichten gelingen, so
so hätte uns damit die Revolution wirklich eine „Errungenschaft" gebracht, um
derentwillen sie der nationale Politiker vielleicht später segnen möchte. Jedenfalls
muß es gelingen, den nationalpolitischen Charakter der Revolution völlig in den
Vordergrund zu rücken und den Geist der Klassenrevolntion zurückzudrängen, wenn
überhaupt aus dieser Umwälzung etwas Gutes kommen soll. Bei dein Versuche,
wieder eine nationale Politik in Deutschland zur Herrschaft zu bringen, können
zwei Fehler gemacht werden. Den einen erwähnt Hoffmann. Er besteht darin,
daß man siebzig Jahre deutscher Entwicklung einfach zu überspringen sucht und
wieder an die nationalen Bestrebungen der achtundvierziger Demokratie anknüpft,
gerade als ob diese erst gestern gewesen wären. Bismarck, die Einigung durch
Blut und Eisen und der kleindeutsche Gedanke sind durch die jüngsten Ereignisse
nicht „widerlegt", wie insbesondere viele Deutschdcmokraten und national fühlende
Sozialdemokraten jetzt glauben machen wollen. Allerdings wird der zukünftige
Nationalgedanke wieder großdcutsch sein, weil Österreich-Ungarn nicht mehr besteht.
Aber dieser grotzdeutsche Gedanke der Zukunft steht auf den Schultern des klein-
deutschen, und die Wahrheit des Spruches von Blut und Eisen wird er vermutlich
noch schätzen lernen. Denn wenn die Entente jetzt mehr als eine deutsche Jrredenta
schafft, dann werden wir eben für den großdeutschen Gedanken wieder kämpfen
müssen, wenn nötig auch mit Blut und Eisen. Der großdeutsche Nalionalgedanke
von heute wird alle großen Traditionen Bismarcks und des klcindeutschen Reiches
sorgfältig pflegen und in sich verarbeiten, um seiner Erfüllung entgegcnzureifen.
Der wahrhaft Nationale darf den Geist des Bismarckschen Reiches nicht ver¬
leugnen, denn der großdeutsche Gedanke wird selbst von diesem Geist durchweht
sein müssen.
-

Der nationale Gedanke in Deutschland kann aber heute noch den andem
Fehler machen, daß er umgekehrt die Revolution vollkommen negiert und einfach die
Zustände des untergegangenen Kaisertums zurücksehnt. Das ist die Art, in der
jetzt die Deutschnationalen die Idee der Nation pflegen. Auch vor der Revolution
darf man nicht in beguemem Widerwillen die Augen schließen, man darf nicht ver-


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[0236] Die neue deutsche Glaubensspaltung war das Heer sozialdemokratisch geworden, wie nie zuvor. Der Heeresverband erleichterte zudem die weitere Agitation wie nie zuvor. Damit hatte der Staat sein Heer selbst an die Sozialdemokratie geradezu ausgeliefert. Sobald die Unabhängigen dies merkten, organisierten sie die Revolution, um einen alten Programmpunkt wahr zu machen. Es war „eine Gelegenheitsrevolution, für die der Erfolg sprach". Die Unabhängigen und noch mehr die Spartakisten sind die Vertreter der reinen Klassenrevolution. Für sie kommt es nur darauf an, daß die „Arbeiter¬ klasse" zur Herrschaft kommt; ob durch das demokratische Stimmrecht oder mit Gewalt, ist gleichgültig. Es kommt auch nichts darauf, ob das Deutsche Reich darüber in Trümmer geht, wenn es nur gelingt, in irgendeinem „Freistaat" Bayern oder Braunschweig, Leipzig oder Bremen die politische Macht zu behaupten. Der älteste und verbohrteste Partikularismus wird wieder aufgewärmt, wenn er der Klassenherrschaft augenblicklich günstig erscheint. Es dürfte kaum irgendwo früher einen deutschen Duodezfürsten gegeben haben, der an nationalpolitischer Gleichgültigkeit und hausmächtlicher Engherzigkeit die heutigen Spartakistenführer überboten hätte. Dagegen hat die mehrheitssozmlistische Regierung die national¬ politischen Aufgaben nie außer acht gelassen. Aber auch sie wird geängstigt von den Geistern ihrer ebenfalls klassenrevolutionären Vergangenheit. "Sie schwankt zwischen dem Gefühl, Dienerin des „Volkes" im Sinne von Proletariat und dem im Sinne von Nation zu sein. Sie will die Souveränität der Nationalversammlung und muß doch immer nach dem „Rätesystem" hinüberschielen, mit dem die Klassen¬ kämpfer des Proletariats ihre Macht begründen wollen." Inzwischen hat man von rechts her im „Nätesystem eine Wiederaufnahme altkonservativer berufsständischer Forderungen erkannt und schickt sich an, den Ge¬ danken zu einem neuen Prinzip organischer Voksvertretung auszubauen. Sollte das einmal zur Zufriedenheit breiter Volksmassen in allen Schichten gelingen, so so hätte uns damit die Revolution wirklich eine „Errungenschaft" gebracht, um derentwillen sie der nationale Politiker vielleicht später segnen möchte. Jedenfalls muß es gelingen, den nationalpolitischen Charakter der Revolution völlig in den Vordergrund zu rücken und den Geist der Klassenrevolntion zurückzudrängen, wenn überhaupt aus dieser Umwälzung etwas Gutes kommen soll. Bei dein Versuche, wieder eine nationale Politik in Deutschland zur Herrschaft zu bringen, können zwei Fehler gemacht werden. Den einen erwähnt Hoffmann. Er besteht darin, daß man siebzig Jahre deutscher Entwicklung einfach zu überspringen sucht und wieder an die nationalen Bestrebungen der achtundvierziger Demokratie anknüpft, gerade als ob diese erst gestern gewesen wären. Bismarck, die Einigung durch Blut und Eisen und der kleindeutsche Gedanke sind durch die jüngsten Ereignisse nicht „widerlegt", wie insbesondere viele Deutschdcmokraten und national fühlende Sozialdemokraten jetzt glauben machen wollen. Allerdings wird der zukünftige Nationalgedanke wieder großdcutsch sein, weil Österreich-Ungarn nicht mehr besteht. Aber dieser grotzdeutsche Gedanke der Zukunft steht auf den Schultern des klein- deutschen, und die Wahrheit des Spruches von Blut und Eisen wird er vermutlich noch schätzen lernen. Denn wenn die Entente jetzt mehr als eine deutsche Jrredenta schafft, dann werden wir eben für den großdeutschen Gedanken wieder kämpfen müssen, wenn nötig auch mit Blut und Eisen. Der großdeutsche Nalionalgedanke von heute wird alle großen Traditionen Bismarcks und des klcindeutschen Reiches sorgfältig pflegen und in sich verarbeiten, um seiner Erfüllung entgegcnzureifen. Der wahrhaft Nationale darf den Geist des Bismarckschen Reiches nicht ver¬ leugnen, denn der großdeutsche Gedanke wird selbst von diesem Geist durchweht sein müssen. - Der nationale Gedanke in Deutschland kann aber heute noch den andem Fehler machen, daß er umgekehrt die Revolution vollkommen negiert und einfach die Zustände des untergegangenen Kaisertums zurücksehnt. Das ist die Art, in der jetzt die Deutschnationalen die Idee der Nation pflegen. Auch vor der Revolution darf man nicht in beguemem Widerwillen die Augen schließen, man darf nicht ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/236>, abgerufen am 18.12.2024.