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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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wären imstande, die Schwierigkeiten der öffentlichen Bewirtschaftung zu überwinden.
Im übrigen wünscht Bernstein, daß störende Eingriffe in die organische Entwicklung
der Volkswirtschaft möglichst unterblieben, denn man müsse sich vorhalten, daß der
Prozeß der Sozialisierung sich nicht befehlsmäßig vollziehen lasse. Ebenso will
Karl Kcrutsty die Produktivität der Volkswirtschaft nicht behelligt sehen, obgleich
er grundsätzlich dafür eintritt, Sämtliches Großgrundeigenlum an Bergwerken und
großen Gütern, sowie sämtlichen städtischen Grundbesitz zu staatlichem Eigentum
>^egen Entschädigung zu erklären.

Die Urteile Bernsteins und KautskyS sind schon deshalb beachtenswert,
weil beide zu den dem Marxismus ergebenen Unabhängigen gehören, trotzdem
aber die dogmatischen Lehrsätze des großen Meisters für das gegenwärtige Ent-
Wicklungsstadium der deutscheu Wirtschaft als nicht verbindlich erachten. Beide
sind der Überzeugung, daß das unorganisch-brutale Eingreifen in das Wirtschafts¬
leben nur schädlich wirken könne, was Bernstein, den Unterstaatssekrelär im Ncichs-
schatzamt, zu der Forderung veranlaßte, "daß die Volkswirtschaft so wenig wie
möglich iii ihrem Gange gestört werde, das heißt, daß die Bedingungen ersüllt
werden, uuter denen das moderne, so weit verzweigte und feingcäderle Volks-
winschciflliche Leben gesund funktionieren könne". Die zur Regierung berufenen
sozialdemokraiischen Führer pflichteten dieser Auffassung zweifellos bei und hatten
demgemäß im Kompromiß mit ihren bürgerlichen Ministerkollegen dem Soziali-
sierungsvotum jene zurückhaltende und vieldeutige Fassung gegeben. So können
die Meinungen weit voneinander abweichen, wann ein Industriezweig oder be¬
stimmte Großbetriebe als "sozialisierungsreif" anzusehen wären. Die überaus
wichtige Frage blieb ungeklärt, wurde nur um so verworrener, je mehr Autori¬
täten zu ihr sich äußerten. Dem (inzwischen wieder beseitigten) Finanzminister
Simon erschien eine lange Reihe von Industrien, so die chemische Industrie,
Waffenindustrie, Ziegeleien usw., geeignete Objekiv für eine Verstaatlichung zu
sein, er schob aber zugleich als Schntzwand vor, daß unter den gegebenen Ver¬
hältnissen die Versuchung zum Experimentieren abzuweisen sei. Ferner verriet
der (jetzt gestürzte) Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts Dr. August Müller
eine nicht mißverständliche Abneigung überhaupt gegen die Sozialisierung. Diese
habe nicht nur den Sicind der eigenen Wirtschaft, sondern auch die Beziehungen
zur Weltwirtschaft sorgsam zu beachten. Es sei unsinnig, als Einzelstaat das
Sozilllisierungsbanner zu ergreifen, während die Welt ringsum die Nachfolge ver¬
weigere. Das wäre aber zurzeit die Sachlage. Im jetzigen Zeitmoment dürfe
man nicht den Theoretikern zu Gefallen unausgereifte Ideen in Teilen umsetzen.

Ähnliche abwehrende Urteile gegen eine übereilte Sozialisierung seitens
angesehener sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker ließen sich eine ganze Reihe
amühren. Wen es interessiert, mag unter diesem Gesichtspunkt die auf reviuonistischem
Boden stehenden "sozialistischen Monatshefte" durchblättern. Die Meinungen
stimmten im wesentlichen darin überein, daß allem zuvor die Ergiebigkeit der
menschlichen Arbeit in Deutschland gefördert werden müsse, ehe die Verpflanzung
sozialistischer Grundsätze auf das Wirtschaftsleben zugelassen werden dürfe. Kurz
und nüchtern formuliert beispielsweise Julius Kaliski diese Überzeugung in dem
Satze, daß die Sozialisierung gegenwärtig nur dem einen Ziele zustreben dürfe:
der Steigerung der Produktivität. Beachtenswert erscheint uns ferner im Hinblick
auf die Stellungnahme der Negierung zur Regelung der Kohlenwirlschaft eine
Auslassung des bekannten Führers der Bergarbeiter, Otto Hu6, der außerdem
gemeinsam mit Kautsky der Neichskommission für Sozialisierung angehört. Er
unterstreicht besonders die-Bedenken gegen eine Verstaatlichung der Produktions¬
mittel, ehe wir über die Verpflichtungen, die uns von der Entente auferlegt
werden, sollen, genau unterrichtet wären. In Bezug auf diesen Punkt schreibt er:
"Gibt es bei uns vernunftbegabte Menschen, die der Überzeugung sind, die Be¬
auftragten des Ententeimpercilismus bei den Friedensverhandlungen würden die
Durchführung des proletarischen Sozialismus begünstigen? Das hieße die intev-
nationale Solidarität des Privatkapitalismus völlig verkennen." Er warnt


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wären imstande, die Schwierigkeiten der öffentlichen Bewirtschaftung zu überwinden.
Im übrigen wünscht Bernstein, daß störende Eingriffe in die organische Entwicklung
der Volkswirtschaft möglichst unterblieben, denn man müsse sich vorhalten, daß der
Prozeß der Sozialisierung sich nicht befehlsmäßig vollziehen lasse. Ebenso will
Karl Kcrutsty die Produktivität der Volkswirtschaft nicht behelligt sehen, obgleich
er grundsätzlich dafür eintritt, Sämtliches Großgrundeigenlum an Bergwerken und
großen Gütern, sowie sämtlichen städtischen Grundbesitz zu staatlichem Eigentum
>^egen Entschädigung zu erklären.

Die Urteile Bernsteins und KautskyS sind schon deshalb beachtenswert,
weil beide zu den dem Marxismus ergebenen Unabhängigen gehören, trotzdem
aber die dogmatischen Lehrsätze des großen Meisters für das gegenwärtige Ent-
Wicklungsstadium der deutscheu Wirtschaft als nicht verbindlich erachten. Beide
sind der Überzeugung, daß das unorganisch-brutale Eingreifen in das Wirtschafts¬
leben nur schädlich wirken könne, was Bernstein, den Unterstaatssekrelär im Ncichs-
schatzamt, zu der Forderung veranlaßte, „daß die Volkswirtschaft so wenig wie
möglich iii ihrem Gange gestört werde, das heißt, daß die Bedingungen ersüllt
werden, uuter denen das moderne, so weit verzweigte und feingcäderle Volks-
winschciflliche Leben gesund funktionieren könne". Die zur Regierung berufenen
sozialdemokraiischen Führer pflichteten dieser Auffassung zweifellos bei und hatten
demgemäß im Kompromiß mit ihren bürgerlichen Ministerkollegen dem Soziali-
sierungsvotum jene zurückhaltende und vieldeutige Fassung gegeben. So können
die Meinungen weit voneinander abweichen, wann ein Industriezweig oder be¬
stimmte Großbetriebe als „sozialisierungsreif" anzusehen wären. Die überaus
wichtige Frage blieb ungeklärt, wurde nur um so verworrener, je mehr Autori¬
täten zu ihr sich äußerten. Dem (inzwischen wieder beseitigten) Finanzminister
Simon erschien eine lange Reihe von Industrien, so die chemische Industrie,
Waffenindustrie, Ziegeleien usw., geeignete Objekiv für eine Verstaatlichung zu
sein, er schob aber zugleich als Schntzwand vor, daß unter den gegebenen Ver¬
hältnissen die Versuchung zum Experimentieren abzuweisen sei. Ferner verriet
der (jetzt gestürzte) Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts Dr. August Müller
eine nicht mißverständliche Abneigung überhaupt gegen die Sozialisierung. Diese
habe nicht nur den Sicind der eigenen Wirtschaft, sondern auch die Beziehungen
zur Weltwirtschaft sorgsam zu beachten. Es sei unsinnig, als Einzelstaat das
Sozilllisierungsbanner zu ergreifen, während die Welt ringsum die Nachfolge ver¬
weigere. Das wäre aber zurzeit die Sachlage. Im jetzigen Zeitmoment dürfe
man nicht den Theoretikern zu Gefallen unausgereifte Ideen in Teilen umsetzen.

Ähnliche abwehrende Urteile gegen eine übereilte Sozialisierung seitens
angesehener sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker ließen sich eine ganze Reihe
amühren. Wen es interessiert, mag unter diesem Gesichtspunkt die auf reviuonistischem
Boden stehenden „sozialistischen Monatshefte" durchblättern. Die Meinungen
stimmten im wesentlichen darin überein, daß allem zuvor die Ergiebigkeit der
menschlichen Arbeit in Deutschland gefördert werden müsse, ehe die Verpflanzung
sozialistischer Grundsätze auf das Wirtschaftsleben zugelassen werden dürfe. Kurz
und nüchtern formuliert beispielsweise Julius Kaliski diese Überzeugung in dem
Satze, daß die Sozialisierung gegenwärtig nur dem einen Ziele zustreben dürfe:
der Steigerung der Produktivität. Beachtenswert erscheint uns ferner im Hinblick
auf die Stellungnahme der Negierung zur Regelung der Kohlenwirlschaft eine
Auslassung des bekannten Führers der Bergarbeiter, Otto Hu6, der außerdem
gemeinsam mit Kautsky der Neichskommission für Sozialisierung angehört. Er
unterstreicht besonders die-Bedenken gegen eine Verstaatlichung der Produktions¬
mittel, ehe wir über die Verpflichtungen, die uns von der Entente auferlegt
werden, sollen, genau unterrichtet wären. In Bezug auf diesen Punkt schreibt er:
„Gibt es bei uns vernunftbegabte Menschen, die der Überzeugung sind, die Be¬
auftragten des Ententeimpercilismus bei den Friedensverhandlungen würden die
Durchführung des proletarischen Sozialismus begünstigen? Das hieße die intev-
nationale Solidarität des Privatkapitalismus völlig verkennen." Er warnt


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[0022] Auf den Pfaden der Sozinlisiermig wären imstande, die Schwierigkeiten der öffentlichen Bewirtschaftung zu überwinden. Im übrigen wünscht Bernstein, daß störende Eingriffe in die organische Entwicklung der Volkswirtschaft möglichst unterblieben, denn man müsse sich vorhalten, daß der Prozeß der Sozialisierung sich nicht befehlsmäßig vollziehen lasse. Ebenso will Karl Kcrutsty die Produktivität der Volkswirtschaft nicht behelligt sehen, obgleich er grundsätzlich dafür eintritt, Sämtliches Großgrundeigenlum an Bergwerken und großen Gütern, sowie sämtlichen städtischen Grundbesitz zu staatlichem Eigentum >^egen Entschädigung zu erklären. Die Urteile Bernsteins und KautskyS sind schon deshalb beachtenswert, weil beide zu den dem Marxismus ergebenen Unabhängigen gehören, trotzdem aber die dogmatischen Lehrsätze des großen Meisters für das gegenwärtige Ent- Wicklungsstadium der deutscheu Wirtschaft als nicht verbindlich erachten. Beide sind der Überzeugung, daß das unorganisch-brutale Eingreifen in das Wirtschafts¬ leben nur schädlich wirken könne, was Bernstein, den Unterstaatssekrelär im Ncichs- schatzamt, zu der Forderung veranlaßte, „daß die Volkswirtschaft so wenig wie möglich iii ihrem Gange gestört werde, das heißt, daß die Bedingungen ersüllt werden, uuter denen das moderne, so weit verzweigte und feingcäderle Volks- winschciflliche Leben gesund funktionieren könne". Die zur Regierung berufenen sozialdemokraiischen Führer pflichteten dieser Auffassung zweifellos bei und hatten demgemäß im Kompromiß mit ihren bürgerlichen Ministerkollegen dem Soziali- sierungsvotum jene zurückhaltende und vieldeutige Fassung gegeben. So können die Meinungen weit voneinander abweichen, wann ein Industriezweig oder be¬ stimmte Großbetriebe als „sozialisierungsreif" anzusehen wären. Die überaus wichtige Frage blieb ungeklärt, wurde nur um so verworrener, je mehr Autori¬ täten zu ihr sich äußerten. Dem (inzwischen wieder beseitigten) Finanzminister Simon erschien eine lange Reihe von Industrien, so die chemische Industrie, Waffenindustrie, Ziegeleien usw., geeignete Objekiv für eine Verstaatlichung zu sein, er schob aber zugleich als Schntzwand vor, daß unter den gegebenen Ver¬ hältnissen die Versuchung zum Experimentieren abzuweisen sei. Ferner verriet der (jetzt gestürzte) Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts Dr. August Müller eine nicht mißverständliche Abneigung überhaupt gegen die Sozialisierung. Diese habe nicht nur den Sicind der eigenen Wirtschaft, sondern auch die Beziehungen zur Weltwirtschaft sorgsam zu beachten. Es sei unsinnig, als Einzelstaat das Sozilllisierungsbanner zu ergreifen, während die Welt ringsum die Nachfolge ver¬ weigere. Das wäre aber zurzeit die Sachlage. Im jetzigen Zeitmoment dürfe man nicht den Theoretikern zu Gefallen unausgereifte Ideen in Teilen umsetzen. Ähnliche abwehrende Urteile gegen eine übereilte Sozialisierung seitens angesehener sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker ließen sich eine ganze Reihe amühren. Wen es interessiert, mag unter diesem Gesichtspunkt die auf reviuonistischem Boden stehenden „sozialistischen Monatshefte" durchblättern. Die Meinungen stimmten im wesentlichen darin überein, daß allem zuvor die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit in Deutschland gefördert werden müsse, ehe die Verpflanzung sozialistischer Grundsätze auf das Wirtschaftsleben zugelassen werden dürfe. Kurz und nüchtern formuliert beispielsweise Julius Kaliski diese Überzeugung in dem Satze, daß die Sozialisierung gegenwärtig nur dem einen Ziele zustreben dürfe: der Steigerung der Produktivität. Beachtenswert erscheint uns ferner im Hinblick auf die Stellungnahme der Negierung zur Regelung der Kohlenwirlschaft eine Auslassung des bekannten Führers der Bergarbeiter, Otto Hu6, der außerdem gemeinsam mit Kautsky der Neichskommission für Sozialisierung angehört. Er unterstreicht besonders die-Bedenken gegen eine Verstaatlichung der Produktions¬ mittel, ehe wir über die Verpflichtungen, die uns von der Entente auferlegt werden, sollen, genau unterrichtet wären. In Bezug auf diesen Punkt schreibt er: „Gibt es bei uns vernunftbegabte Menschen, die der Überzeugung sind, die Be¬ auftragten des Ententeimpercilismus bei den Friedensverhandlungen würden die Durchführung des proletarischen Sozialismus begünstigen? Das hieße die intev- nationale Solidarität des Privatkapitalismus völlig verkennen." Er warnt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/22>, abgerufen am 01.09.2024.