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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zur Schaffung pädagogischer Lehrstühle

Gründlicher Wandel kann -unter diesen Umständen nur geschaffen werden
durch Errichtung selbständiger pädagogischer Lehrstühle an allen Universitäten.
Die wenigen Haupt- bzw. nebenamtlichen ' akademischen Vertretungen der
Pädagogik, über die gegenwärtig das deutsche Hochschulwesen verfügt, genügen
djem Bedürfnis bei weitem nicht. Diese von berufener Seite wiederholt auf¬
gestellte Forderung bekräftigen, heißt, auf einige der häusigsten Einwände und
Bedenken eingehen, die dagegen -erhoben worden sind.

In unsrer Zeit des übertriebenen und einseitigen Spezialistentums wird
namentlich gerügt, daß die Pädagogik keine "einheitliche" Wissenschaft sei, da sie,
wie angedeutet, sehr verschiedenartigen kultur- wie naturwissenschaftlichen
Gebieten Tatsachen und Methoden entnehme; jedenfalls sei sie nicht von einem
einzelnen lehrbar. Schon Kant sah diese Schwierigkeit voraus, war indes weit
entfernt, nach Art der "Heroen von heut" falsche Schlüsse daraus zu ziehen-.
Persönliches Unvermögen des einzelnen, allen Anforderungen der Wissenschaft
gleichmäßig gerecht zu werden, ist ein anderes, und ein anderes, die Wissenschaft-
lichkeit der Pädagogik überhaupt anzweifeln. Folgefalsch weiter denkend, hat man
sich in akademischen Kreisen sogar zu der seltsamen Behauptung verstiegen, die
Pädagogik müsse -als Universttätslehrsach, um überhaupt -wirksam zu sein, eine
selbständige Fakultät für sich bilden. Dies sei bereits deswegen nötig, weil die
Einführung in die verschiedenen Lehrmethoden der Schullehrfächer, jedes für sich,
eine -gründliche fach!wissenschaftliche Ausbildung voraussetze. Dabei wird über¬
sehen, daß die Einzelheiten -der Schulmethodik der verschiedenen Fächer keines¬
wegs das Entscheidende sind. Im Gegenteil: sie sollen gerade aus den wissen¬
schaftlichen Grundlagen der ollgemeinen Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften
mit innerer Notwendigkeit hervorwachsen. Zudem ist -das Ganze des gegen¬
wärtigen schulmäßigen Unterrichts und feiner Methoden nur -ein 'verhältnismäßig
kleiner Teil dessen, was wir uns künftig unter wissenschaftlicher Pädagogik vor¬
zustellen haben.

Nach einer weitverbreiteten Ansicht soll ferner die Pädagogik "keine Wissen-
schaft. sondern eine Kunst" sein. Die Unklarheit des Denkens, die dieser Auf-
fassung zugrunde liegt, erhellt ohne weiteres, wenn wir -- als berechtigten Ver-
gleich -- die Kunst des Arztes oder gar die Ku-se des Malers. Musikers u, ä. in.
daneben stellen. Schließt das eine etwa das andere aus? Nein, sondern je fester
begründet die Wissenschaft bezw. die theoretische Grundlage ist, desto sicherer,
freier und erfolgreicher wird sich die eigentlich künstlerische Tätigkeit auf allen
genannten Berufsgebieten entfalten können (daß mancher tüchtige Theoretiker ein
schlechter Praktiker ist und umgekehrt, ist kein Gegenbeweis). Im Grunde steht
es mit der praktischen Pädagogik nicht wesentlich anders als mit der Kunst oder
der Technik: Theorie und Praxis haben beide ihre notwendige Stelle. Theorie
ohne Praxis ist leer-, Praxis ohne Theorie ist blind. "Die meisten Praktiker," sagt
ein hervorragend Urteilsfähiger wie Rudolf Lehmann-Posen, "sehen über die nächst-
liegenden Bedürfnisse der Praxis nicht hinaus, oder sie halten sich an einzelne
Bücher, die ihnen der Zufall in die Hand gespielt hat."

, Es würde zu weit gehen, auf die bestechenden Einwände derer einzugehen,
die in den an einzelnen höheren Schulen eingerichteten pädagogischen Seininaren
eitlen vollwertigen Ersatz für Universitäts-Ubungsschulen erblicken und folgerichtig
der Universität ausschließlich die theoretische Seite der Pädagogik zuweisen wollend.
Soviel ist unumstößlich: Soll ein Mittelpunkt für pädagogische Studien ernstester
wissenschaftlicher Art geschaffen werden, der dem Bildungs- und Erziehungswesen
ni allen Teilen zugute kommt, so kann das unter den gegebenen Verhältnissen
'or die höchste, die akademische Bildungsstätte sein. Im übrigen darf man von
einer zeitgemäßen Vertretung der pädagogischen Wissenschaft um den Universitäten,
ohne allzu optimistisch zu sein, in näherer oder fernerer Zukunft eine nicht un-



2) Näheres über diese rielumstrittene und grundsätzlich bedeutsame Frage in der von
S 2"z" ^ausgegebenen Zeitschrift für philosophische Pädagogik, 1917/18, S, 229 ff, und
Zur Schaffung pädagogischer Lehrstühle

Gründlicher Wandel kann -unter diesen Umständen nur geschaffen werden
durch Errichtung selbständiger pädagogischer Lehrstühle an allen Universitäten.
Die wenigen Haupt- bzw. nebenamtlichen ' akademischen Vertretungen der
Pädagogik, über die gegenwärtig das deutsche Hochschulwesen verfügt, genügen
djem Bedürfnis bei weitem nicht. Diese von berufener Seite wiederholt auf¬
gestellte Forderung bekräftigen, heißt, auf einige der häusigsten Einwände und
Bedenken eingehen, die dagegen -erhoben worden sind.

In unsrer Zeit des übertriebenen und einseitigen Spezialistentums wird
namentlich gerügt, daß die Pädagogik keine „einheitliche" Wissenschaft sei, da sie,
wie angedeutet, sehr verschiedenartigen kultur- wie naturwissenschaftlichen
Gebieten Tatsachen und Methoden entnehme; jedenfalls sei sie nicht von einem
einzelnen lehrbar. Schon Kant sah diese Schwierigkeit voraus, war indes weit
entfernt, nach Art der „Heroen von heut" falsche Schlüsse daraus zu ziehen-.
Persönliches Unvermögen des einzelnen, allen Anforderungen der Wissenschaft
gleichmäßig gerecht zu werden, ist ein anderes, und ein anderes, die Wissenschaft-
lichkeit der Pädagogik überhaupt anzweifeln. Folgefalsch weiter denkend, hat man
sich in akademischen Kreisen sogar zu der seltsamen Behauptung verstiegen, die
Pädagogik müsse -als Universttätslehrsach, um überhaupt -wirksam zu sein, eine
selbständige Fakultät für sich bilden. Dies sei bereits deswegen nötig, weil die
Einführung in die verschiedenen Lehrmethoden der Schullehrfächer, jedes für sich,
eine -gründliche fach!wissenschaftliche Ausbildung voraussetze. Dabei wird über¬
sehen, daß die Einzelheiten -der Schulmethodik der verschiedenen Fächer keines¬
wegs das Entscheidende sind. Im Gegenteil: sie sollen gerade aus den wissen¬
schaftlichen Grundlagen der ollgemeinen Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften
mit innerer Notwendigkeit hervorwachsen. Zudem ist -das Ganze des gegen¬
wärtigen schulmäßigen Unterrichts und feiner Methoden nur -ein 'verhältnismäßig
kleiner Teil dessen, was wir uns künftig unter wissenschaftlicher Pädagogik vor¬
zustellen haben.

Nach einer weitverbreiteten Ansicht soll ferner die Pädagogik „keine Wissen-
schaft. sondern eine Kunst" sein. Die Unklarheit des Denkens, die dieser Auf-
fassung zugrunde liegt, erhellt ohne weiteres, wenn wir — als berechtigten Ver-
gleich — die Kunst des Arztes oder gar die Ku-se des Malers. Musikers u, ä. in.
daneben stellen. Schließt das eine etwa das andere aus? Nein, sondern je fester
begründet die Wissenschaft bezw. die theoretische Grundlage ist, desto sicherer,
freier und erfolgreicher wird sich die eigentlich künstlerische Tätigkeit auf allen
genannten Berufsgebieten entfalten können (daß mancher tüchtige Theoretiker ein
schlechter Praktiker ist und umgekehrt, ist kein Gegenbeweis). Im Grunde steht
es mit der praktischen Pädagogik nicht wesentlich anders als mit der Kunst oder
der Technik: Theorie und Praxis haben beide ihre notwendige Stelle. Theorie
ohne Praxis ist leer-, Praxis ohne Theorie ist blind. „Die meisten Praktiker," sagt
ein hervorragend Urteilsfähiger wie Rudolf Lehmann-Posen, „sehen über die nächst-
liegenden Bedürfnisse der Praxis nicht hinaus, oder sie halten sich an einzelne
Bücher, die ihnen der Zufall in die Hand gespielt hat."

, Es würde zu weit gehen, auf die bestechenden Einwände derer einzugehen,
die in den an einzelnen höheren Schulen eingerichteten pädagogischen Seininaren
eitlen vollwertigen Ersatz für Universitäts-Ubungsschulen erblicken und folgerichtig
der Universität ausschließlich die theoretische Seite der Pädagogik zuweisen wollend.
Soviel ist unumstößlich: Soll ein Mittelpunkt für pädagogische Studien ernstester
wissenschaftlicher Art geschaffen werden, der dem Bildungs- und Erziehungswesen
ni allen Teilen zugute kommt, so kann das unter den gegebenen Verhältnissen
'or die höchste, die akademische Bildungsstätte sein. Im übrigen darf man von
einer zeitgemäßen Vertretung der pädagogischen Wissenschaft um den Universitäten,
ohne allzu optimistisch zu sein, in näherer oder fernerer Zukunft eine nicht un-



2) Näheres über diese rielumstrittene und grundsätzlich bedeutsame Frage in der von
S 2»z" ^ausgegebenen Zeitschrift für philosophische Pädagogik, 1917/18, S, 229 ff, und
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[0217] Zur Schaffung pädagogischer Lehrstühle Gründlicher Wandel kann -unter diesen Umständen nur geschaffen werden durch Errichtung selbständiger pädagogischer Lehrstühle an allen Universitäten. Die wenigen Haupt- bzw. nebenamtlichen ' akademischen Vertretungen der Pädagogik, über die gegenwärtig das deutsche Hochschulwesen verfügt, genügen djem Bedürfnis bei weitem nicht. Diese von berufener Seite wiederholt auf¬ gestellte Forderung bekräftigen, heißt, auf einige der häusigsten Einwände und Bedenken eingehen, die dagegen -erhoben worden sind. In unsrer Zeit des übertriebenen und einseitigen Spezialistentums wird namentlich gerügt, daß die Pädagogik keine „einheitliche" Wissenschaft sei, da sie, wie angedeutet, sehr verschiedenartigen kultur- wie naturwissenschaftlichen Gebieten Tatsachen und Methoden entnehme; jedenfalls sei sie nicht von einem einzelnen lehrbar. Schon Kant sah diese Schwierigkeit voraus, war indes weit entfernt, nach Art der „Heroen von heut" falsche Schlüsse daraus zu ziehen-. Persönliches Unvermögen des einzelnen, allen Anforderungen der Wissenschaft gleichmäßig gerecht zu werden, ist ein anderes, und ein anderes, die Wissenschaft- lichkeit der Pädagogik überhaupt anzweifeln. Folgefalsch weiter denkend, hat man sich in akademischen Kreisen sogar zu der seltsamen Behauptung verstiegen, die Pädagogik müsse -als Universttätslehrsach, um überhaupt -wirksam zu sein, eine selbständige Fakultät für sich bilden. Dies sei bereits deswegen nötig, weil die Einführung in die verschiedenen Lehrmethoden der Schullehrfächer, jedes für sich, eine -gründliche fach!wissenschaftliche Ausbildung voraussetze. Dabei wird über¬ sehen, daß die Einzelheiten -der Schulmethodik der verschiedenen Fächer keines¬ wegs das Entscheidende sind. Im Gegenteil: sie sollen gerade aus den wissen¬ schaftlichen Grundlagen der ollgemeinen Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften mit innerer Notwendigkeit hervorwachsen. Zudem ist -das Ganze des gegen¬ wärtigen schulmäßigen Unterrichts und feiner Methoden nur -ein 'verhältnismäßig kleiner Teil dessen, was wir uns künftig unter wissenschaftlicher Pädagogik vor¬ zustellen haben. Nach einer weitverbreiteten Ansicht soll ferner die Pädagogik „keine Wissen- schaft. sondern eine Kunst" sein. Die Unklarheit des Denkens, die dieser Auf- fassung zugrunde liegt, erhellt ohne weiteres, wenn wir — als berechtigten Ver- gleich — die Kunst des Arztes oder gar die Ku-se des Malers. Musikers u, ä. in. daneben stellen. Schließt das eine etwa das andere aus? Nein, sondern je fester begründet die Wissenschaft bezw. die theoretische Grundlage ist, desto sicherer, freier und erfolgreicher wird sich die eigentlich künstlerische Tätigkeit auf allen genannten Berufsgebieten entfalten können (daß mancher tüchtige Theoretiker ein schlechter Praktiker ist und umgekehrt, ist kein Gegenbeweis). Im Grunde steht es mit der praktischen Pädagogik nicht wesentlich anders als mit der Kunst oder der Technik: Theorie und Praxis haben beide ihre notwendige Stelle. Theorie ohne Praxis ist leer-, Praxis ohne Theorie ist blind. „Die meisten Praktiker," sagt ein hervorragend Urteilsfähiger wie Rudolf Lehmann-Posen, „sehen über die nächst- liegenden Bedürfnisse der Praxis nicht hinaus, oder sie halten sich an einzelne Bücher, die ihnen der Zufall in die Hand gespielt hat." , Es würde zu weit gehen, auf die bestechenden Einwände derer einzugehen, die in den an einzelnen höheren Schulen eingerichteten pädagogischen Seininaren eitlen vollwertigen Ersatz für Universitäts-Ubungsschulen erblicken und folgerichtig der Universität ausschließlich die theoretische Seite der Pädagogik zuweisen wollend. Soviel ist unumstößlich: Soll ein Mittelpunkt für pädagogische Studien ernstester wissenschaftlicher Art geschaffen werden, der dem Bildungs- und Erziehungswesen ni allen Teilen zugute kommt, so kann das unter den gegebenen Verhältnissen 'or die höchste, die akademische Bildungsstätte sein. Im übrigen darf man von einer zeitgemäßen Vertretung der pädagogischen Wissenschaft um den Universitäten, ohne allzu optimistisch zu sein, in näherer oder fernerer Zukunft eine nicht un- 2) Näheres über diese rielumstrittene und grundsätzlich bedeutsame Frage in der von S 2»z" ^ausgegebenen Zeitschrift für philosophische Pädagogik, 1917/18, S, 229 ff, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/217>, abgerufen am 18.12.2024.