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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Christentum und Socialismus

ein großes Verdienst nach, daß er im Unterschied von seinen französischen Vorgängern
im Klassenkampf das unentbehrliche Mittel für die Befreiung des Proletariats
erkannt habe. Aber wer den Klassenkampf führt, haßt damit notwendig auch den
Angehörigen der andern Klasse, und diesen Haß im christlichen Sinn abzudämpfen,
erscheint kaum als möglich. Immerhin ließe sich sagen, daß der Klassenkampf
und mit ihm der Klassenhaß nur eine Durchgangserscheinung sei, die von selbst
verschwindet, sobald das Ziel erreicht ist. Ist das Proletariat zum Sieg gelangt,
so sind damit auch alle Klassenunterschiede beseitigt und der allgemeinen Menschen¬
liebe das Tor geöffnet.

Jedoch, es ist schwer einzusehen, inwiefern gerade dieses Letzte als Folge
nntreten soll. Mit dem Aufhören des Kampfes lösen sich auch alle die Antriebe
auf, die die jetzt maßgebende Schicht bisher enger zusammengeschlossen haben.
Es löst sich das Kmneradschastsgefühl, das die Kämpfenden als Genossen ver¬
einigte; es löst sich der Ehrbegriff, der den Streikbrecher verurteilte. Die ganze
Gesellschaft ist nach Einebnung der Klassenunterschiede nichts weniger als sofort
ein Bruderverein, wie die Sozialdemokratie meint, sondern zunächst nur ein
großer Zweckverband, dessen Angehörige sich als Menschen so wenig zu schätzen
brauche" wie die Arbeiter in derselben Fabrik. Der einzelne steht dem andern
wieder rein als einzelner gegenüber. Er ist ihm nichts schuldig, wenn er nicht
etwas Entsprechendes dafür empfängt. So hat es neulich Scheidemann als das
große Ziel verkündigt, daß künftig "kein Volksgenosse mehr für den andern ohne
Gegenseitigkeit arbeitet, sondern daß jede Arbeit von jedem für sich und gleich¬
zeitig für die Allgemeinheit getan wird". Damit ist die zu erwartende Lage
durchaus treffend gekennzeichnet. Aber das heißt auch soviel: man hat seine Pflicht
gegen den Nebenmenschen getan, indem man die eigene, für das Gemeinwohl
nützliche Arbeit verrichtet. Geht es dein andern übel, so mag der Staat für ihn sorgen.

Ja, man muß noch mehr sagen: der Sozialismus entfesselt, wenn er sein
Ziel erreicht hat, selbst wieder Kräfte, die das Verhältnis des Menschen zum
Menschen stören. Es wird auch im Zukunftsstaat den Unterschied geben zwischen
schwerer und leichter, gefährlicher und gefahrloser, geisttötender und gcistanregender
Arbeit; es wird auch dort den Unterschied geben zwischen dem Begabten und dem
Unbegabten, dem Fleißigen und dem Faulen, dein Harmlosen und dem Gerissenen.
Sind nun, wie das doch die Absicht des Sozialismus ist, alle unter die gleichen
Bedingungen gestellt, so wird das bedeuten, daß ein heißer Wettkampf um die
leitenden Stellen, um die leichtere und schönere Arbeit entbrennen wird. Der
sozialistische Staat muß diesen Wettkampf wollen; denn er braucht Leute, die zu
regieren verstehen. Hänisch hat mit Recht davon geredet, daß eine Arbeiter¬
aristokratie sich herausbilden müsse, die imstande sei, auch den höheren Ausgaben
des Staats zu genügen. Aber der Kampf um das Emporsteigen zu dieser
Aristokratie wird^denn in viel rücksichtsloserer Weise geführt werden als bisher.
Das Wort "Freie Bahn dein Tüchtigen" könnte einen Klang bekommen, der uns
übel in den Ohren gellt. Denn alle die Hemmungen und Verpflichtungen, die
früher das nobleLse obüge dem durch Geburt und Stand Bevorzugten auferlegte,
bestehen uun nicht mehr. Und es ist sehr zu bezweifeln, ob in diesem Ringen
wirklich der Tüchtige an die ihm gebührende Stelle gelangt. In einem Wettstreit,
bei dem kein unparteiischer Schiedsrichter da ist, geben vielfach die minderwertigen
Eigenschaften den Ausschlag: die Zungenfertigkeit, die Kunst sich hervorzudrängen
und andere beiseite zu schieben, die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel,
um von noch Gemeinerem zu schweigen. Nordamerika mag uns ein Bild davon
"eben, wie es in Zukunft auch bei uns zugehen kann. An einer Stelle ist der
Kampf auch bereits leidenschaftlich unter uns entbrannt, da wo er nach der Vor¬
aussage aller Einsichtigen zuerst kommen mußte. In der Frankfurter Zeitung hat
Margarete Zündorff einen Notschrei ausgestoßen: "Der Kampf gegen die Frauen¬
arbeit wird von den Männern mit einer Schärfe geführt, die alle vor den Wahlen
gehörten Beteuerungen der Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin zu
Phrasen stempelt." Was im Verhältnis der beiden Geschlechter begonnen hat,
wird sich gewiß anderswo fortsetzen.


Christentum und Socialismus

ein großes Verdienst nach, daß er im Unterschied von seinen französischen Vorgängern
im Klassenkampf das unentbehrliche Mittel für die Befreiung des Proletariats
erkannt habe. Aber wer den Klassenkampf führt, haßt damit notwendig auch den
Angehörigen der andern Klasse, und diesen Haß im christlichen Sinn abzudämpfen,
erscheint kaum als möglich. Immerhin ließe sich sagen, daß der Klassenkampf
und mit ihm der Klassenhaß nur eine Durchgangserscheinung sei, die von selbst
verschwindet, sobald das Ziel erreicht ist. Ist das Proletariat zum Sieg gelangt,
so sind damit auch alle Klassenunterschiede beseitigt und der allgemeinen Menschen¬
liebe das Tor geöffnet.

Jedoch, es ist schwer einzusehen, inwiefern gerade dieses Letzte als Folge
nntreten soll. Mit dem Aufhören des Kampfes lösen sich auch alle die Antriebe
auf, die die jetzt maßgebende Schicht bisher enger zusammengeschlossen haben.
Es löst sich das Kmneradschastsgefühl, das die Kämpfenden als Genossen ver¬
einigte; es löst sich der Ehrbegriff, der den Streikbrecher verurteilte. Die ganze
Gesellschaft ist nach Einebnung der Klassenunterschiede nichts weniger als sofort
ein Bruderverein, wie die Sozialdemokratie meint, sondern zunächst nur ein
großer Zweckverband, dessen Angehörige sich als Menschen so wenig zu schätzen
brauche» wie die Arbeiter in derselben Fabrik. Der einzelne steht dem andern
wieder rein als einzelner gegenüber. Er ist ihm nichts schuldig, wenn er nicht
etwas Entsprechendes dafür empfängt. So hat es neulich Scheidemann als das
große Ziel verkündigt, daß künftig „kein Volksgenosse mehr für den andern ohne
Gegenseitigkeit arbeitet, sondern daß jede Arbeit von jedem für sich und gleich¬
zeitig für die Allgemeinheit getan wird". Damit ist die zu erwartende Lage
durchaus treffend gekennzeichnet. Aber das heißt auch soviel: man hat seine Pflicht
gegen den Nebenmenschen getan, indem man die eigene, für das Gemeinwohl
nützliche Arbeit verrichtet. Geht es dein andern übel, so mag der Staat für ihn sorgen.

Ja, man muß noch mehr sagen: der Sozialismus entfesselt, wenn er sein
Ziel erreicht hat, selbst wieder Kräfte, die das Verhältnis des Menschen zum
Menschen stören. Es wird auch im Zukunftsstaat den Unterschied geben zwischen
schwerer und leichter, gefährlicher und gefahrloser, geisttötender und gcistanregender
Arbeit; es wird auch dort den Unterschied geben zwischen dem Begabten und dem
Unbegabten, dem Fleißigen und dem Faulen, dein Harmlosen und dem Gerissenen.
Sind nun, wie das doch die Absicht des Sozialismus ist, alle unter die gleichen
Bedingungen gestellt, so wird das bedeuten, daß ein heißer Wettkampf um die
leitenden Stellen, um die leichtere und schönere Arbeit entbrennen wird. Der
sozialistische Staat muß diesen Wettkampf wollen; denn er braucht Leute, die zu
regieren verstehen. Hänisch hat mit Recht davon geredet, daß eine Arbeiter¬
aristokratie sich herausbilden müsse, die imstande sei, auch den höheren Ausgaben
des Staats zu genügen. Aber der Kampf um das Emporsteigen zu dieser
Aristokratie wird^denn in viel rücksichtsloserer Weise geführt werden als bisher.
Das Wort „Freie Bahn dein Tüchtigen" könnte einen Klang bekommen, der uns
übel in den Ohren gellt. Denn alle die Hemmungen und Verpflichtungen, die
früher das nobleLse obüge dem durch Geburt und Stand Bevorzugten auferlegte,
bestehen uun nicht mehr. Und es ist sehr zu bezweifeln, ob in diesem Ringen
wirklich der Tüchtige an die ihm gebührende Stelle gelangt. In einem Wettstreit,
bei dem kein unparteiischer Schiedsrichter da ist, geben vielfach die minderwertigen
Eigenschaften den Ausschlag: die Zungenfertigkeit, die Kunst sich hervorzudrängen
und andere beiseite zu schieben, die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel,
um von noch Gemeinerem zu schweigen. Nordamerika mag uns ein Bild davon
»eben, wie es in Zukunft auch bei uns zugehen kann. An einer Stelle ist der
Kampf auch bereits leidenschaftlich unter uns entbrannt, da wo er nach der Vor¬
aussage aller Einsichtigen zuerst kommen mußte. In der Frankfurter Zeitung hat
Margarete Zündorff einen Notschrei ausgestoßen: „Der Kampf gegen die Frauen¬
arbeit wird von den Männern mit einer Schärfe geführt, die alle vor den Wahlen
gehörten Beteuerungen der Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin zu
Phrasen stempelt." Was im Verhältnis der beiden Geschlechter begonnen hat,
wird sich gewiß anderswo fortsetzen.


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[0191] Christentum und Socialismus ein großes Verdienst nach, daß er im Unterschied von seinen französischen Vorgängern im Klassenkampf das unentbehrliche Mittel für die Befreiung des Proletariats erkannt habe. Aber wer den Klassenkampf führt, haßt damit notwendig auch den Angehörigen der andern Klasse, und diesen Haß im christlichen Sinn abzudämpfen, erscheint kaum als möglich. Immerhin ließe sich sagen, daß der Klassenkampf und mit ihm der Klassenhaß nur eine Durchgangserscheinung sei, die von selbst verschwindet, sobald das Ziel erreicht ist. Ist das Proletariat zum Sieg gelangt, so sind damit auch alle Klassenunterschiede beseitigt und der allgemeinen Menschen¬ liebe das Tor geöffnet. Jedoch, es ist schwer einzusehen, inwiefern gerade dieses Letzte als Folge nntreten soll. Mit dem Aufhören des Kampfes lösen sich auch alle die Antriebe auf, die die jetzt maßgebende Schicht bisher enger zusammengeschlossen haben. Es löst sich das Kmneradschastsgefühl, das die Kämpfenden als Genossen ver¬ einigte; es löst sich der Ehrbegriff, der den Streikbrecher verurteilte. Die ganze Gesellschaft ist nach Einebnung der Klassenunterschiede nichts weniger als sofort ein Bruderverein, wie die Sozialdemokratie meint, sondern zunächst nur ein großer Zweckverband, dessen Angehörige sich als Menschen so wenig zu schätzen brauche» wie die Arbeiter in derselben Fabrik. Der einzelne steht dem andern wieder rein als einzelner gegenüber. Er ist ihm nichts schuldig, wenn er nicht etwas Entsprechendes dafür empfängt. So hat es neulich Scheidemann als das große Ziel verkündigt, daß künftig „kein Volksgenosse mehr für den andern ohne Gegenseitigkeit arbeitet, sondern daß jede Arbeit von jedem für sich und gleich¬ zeitig für die Allgemeinheit getan wird". Damit ist die zu erwartende Lage durchaus treffend gekennzeichnet. Aber das heißt auch soviel: man hat seine Pflicht gegen den Nebenmenschen getan, indem man die eigene, für das Gemeinwohl nützliche Arbeit verrichtet. Geht es dein andern übel, so mag der Staat für ihn sorgen. Ja, man muß noch mehr sagen: der Sozialismus entfesselt, wenn er sein Ziel erreicht hat, selbst wieder Kräfte, die das Verhältnis des Menschen zum Menschen stören. Es wird auch im Zukunftsstaat den Unterschied geben zwischen schwerer und leichter, gefährlicher und gefahrloser, geisttötender und gcistanregender Arbeit; es wird auch dort den Unterschied geben zwischen dem Begabten und dem Unbegabten, dem Fleißigen und dem Faulen, dein Harmlosen und dem Gerissenen. Sind nun, wie das doch die Absicht des Sozialismus ist, alle unter die gleichen Bedingungen gestellt, so wird das bedeuten, daß ein heißer Wettkampf um die leitenden Stellen, um die leichtere und schönere Arbeit entbrennen wird. Der sozialistische Staat muß diesen Wettkampf wollen; denn er braucht Leute, die zu regieren verstehen. Hänisch hat mit Recht davon geredet, daß eine Arbeiter¬ aristokratie sich herausbilden müsse, die imstande sei, auch den höheren Ausgaben des Staats zu genügen. Aber der Kampf um das Emporsteigen zu dieser Aristokratie wird^denn in viel rücksichtsloserer Weise geführt werden als bisher. Das Wort „Freie Bahn dein Tüchtigen" könnte einen Klang bekommen, der uns übel in den Ohren gellt. Denn alle die Hemmungen und Verpflichtungen, die früher das nobleLse obüge dem durch Geburt und Stand Bevorzugten auferlegte, bestehen uun nicht mehr. Und es ist sehr zu bezweifeln, ob in diesem Ringen wirklich der Tüchtige an die ihm gebührende Stelle gelangt. In einem Wettstreit, bei dem kein unparteiischer Schiedsrichter da ist, geben vielfach die minderwertigen Eigenschaften den Ausschlag: die Zungenfertigkeit, die Kunst sich hervorzudrängen und andere beiseite zu schieben, die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel, um von noch Gemeinerem zu schweigen. Nordamerika mag uns ein Bild davon »eben, wie es in Zukunft auch bei uns zugehen kann. An einer Stelle ist der Kampf auch bereits leidenschaftlich unter uns entbrannt, da wo er nach der Vor¬ aussage aller Einsichtigen zuerst kommen mußte. In der Frankfurter Zeitung hat Margarete Zündorff einen Notschrei ausgestoßen: „Der Kampf gegen die Frauen¬ arbeit wird von den Männern mit einer Schärfe geführt, die alle vor den Wahlen gehörten Beteuerungen der Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin zu Phrasen stempelt." Was im Verhältnis der beiden Geschlechter begonnen hat, wird sich gewiß anderswo fortsetzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/191>, abgerufen am 18.12.2024.