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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Geistige Typen

Kunst wechseln Perioden des Idealismus mit naturalistischen ab; ja, der rohe
Expressionismus der Wilden kommt heute wieder zu Ehren. Und jede Richtung
hält sich für die allein privilegierte. Also nun: woher nimmt noch ein Dogmatiker
den Mut zu dem fröhlichen Glauben, er, gerade er habe den Stein der Weisen
gefunden? -- Somit ist überhaupt keine Weltanschauung berechtigt, schließt ein
Äkeptiker. Der belächelt alle Philosophie als leere Träumerei und wirft sich aus¬
schließlich auf die strenge Wissenschaft; bei der Beurteilung von Kunstwerken lehnt
er jeden kritischen Maßstab ab, der nicht technisches Können mißt; im übrigen
gilt alles, was gefüllt! Man gibt seinen Eindruck wieder -- und fertig I Ein
Gesetzbuch irgendwelcher Art erkennt solch ein Richter nicht an. -- Diese Stellung¬
nahme jedoch befriedigt beschauliche Gemüter nicht; an denen nagt der Wunsch,
irgendwelche Ergebnisse ihres Sinnens zu finden; und vielleicht beruhigt sie der
Dritte, der Eklektiker. Wenn man's in der Philosophie machte wie in der
Politik? Man vermittele doch die Extreme I Man rühre sich aus Energetik und
Mechanistik, aus Fortschrittsglauben und materialistischer Geschichtsauffassung, aus
Freiheitslehre und Determinismus, ein halbdeutliches Gemisch zusammen und
taufe dieses Einerseits-Anderseits-Ragout "endgültige Wahrheit"! -- Aber das sind
allezeit die Matten, Lahmen, Schiefer, die den Geistessrieden auf mittleren Linien
herstellen wollen; klare und tiefe Denker verabscheuen halbe Lösungen.

Was bleibt übrig? Müller-Freienfels sagt es uns.

Die Gegensätze der Weltanschauung werden dauern, solange über die Welt
gedacht wird; darin hat der Skeptiker recht. Aber es gibt nicht beliebig viele
mögliche Weltanschauungen, sondern eine beschränkte Anzahl; jede von ihnen
ist einem besonderen Naturell auf den Leib geschnitten und wurzelt in den Tiefen
der besonderen Persönlichkeiten. Gelingt es nun, die Fülle der Persönlichkeiten
unter bestimmte Typen zu ordnen, so ordnen sich damit automatisch auch die
ersinnlichen Weltanschauungen. Sie zu mengen, hat keinen Wert; wohl aber
behält es Wichtigkeit, eine jede von ihnen immer wieder neu auszusinnen und in
ihren Tiefen zu durchdenken. Denn für jede bleibt das Bedürfnis wach, solange
es Vertreter des ihr entsprechenden Temperamentes gibt Und da die Wissenschaft
fortschreitet und jede Durchführung eines Systems also bald veraltet, muß jedes
alle Menschsnalter einmal aufs neue wohnlich gemacht werden. Leibniz hätte um
tMO nicht mehr vertreten können, was er um 1700 schrieb; da goß Lotze den
Leibnizianismus um und schuf so den für seine Zeit überaus bedeutsamen
"Mikrokosmus". Die leibnizische Auffassung von den Dingen lebt auch heute
weiter; aber der "Mikrokosmus" genügt nicht mehr ganz unseren Forderungen;
es ist vielleicht Zeit, von der Warte unserer Tage her eine abermals veränderte
Vedute aufzunehmen. So will Spinoza gegenwärtig in mager Form auferstehen;.
Kant läßt sich als Platoniker betrachten, Hegel als Plotiniker; und so weiter.
Nicht daß alle Persönlichkeiten zu einer Ansicht sich vereinigen, sondern daß für
jeden Typ von Denkern eine festumrissene, restlos klare, sauber modellierte
Philosophie immer wieder geschaffen werde; das ist unser Verlangen. Die
Gesamtheit der reinlichen Systeme gibt dann, sich ergänzend, die menschliche
"Wahrheit" -- wie die farbigen Sirahlen zusammen das Weiß geben, das auch
kein Mittellicht zwischen Rot'und Grün und Blau darstellt. So sollen auch die
Künstler nicht ihr Eigenstes brechen lassen, um die Vorzüge von wer weiß wie
vielen Schulen zu vereinigen; sondern jeder male, meißle, dichte in seiner beson¬
dersten Manier; dann hängt neben Rasfael Rembrandt, neben Böcklin Liebermann;
und daß wir Fritz Reuter neben Friedrich Hebbel haben und Liliencron neben
Eichendorff, macht uns reich. Nicht Versöhnung, sondern Überspannung der
Gegensätze: das ist Müller-Freienfels' "Relativismus".




Dieser Relativismus lehrt Toleranz und weist uns an, durch Genuß gegen¬
sätzlicher Wahrheiten und Schönheiten unsre Seele zu bereichern; zugleich adeo
läßt er uns ein tiefstes psychisches Geheimnis ahnen.


Geistige Typen

Kunst wechseln Perioden des Idealismus mit naturalistischen ab; ja, der rohe
Expressionismus der Wilden kommt heute wieder zu Ehren. Und jede Richtung
hält sich für die allein privilegierte. Also nun: woher nimmt noch ein Dogmatiker
den Mut zu dem fröhlichen Glauben, er, gerade er habe den Stein der Weisen
gefunden? — Somit ist überhaupt keine Weltanschauung berechtigt, schließt ein
Äkeptiker. Der belächelt alle Philosophie als leere Träumerei und wirft sich aus¬
schließlich auf die strenge Wissenschaft; bei der Beurteilung von Kunstwerken lehnt
er jeden kritischen Maßstab ab, der nicht technisches Können mißt; im übrigen
gilt alles, was gefüllt! Man gibt seinen Eindruck wieder — und fertig I Ein
Gesetzbuch irgendwelcher Art erkennt solch ein Richter nicht an. — Diese Stellung¬
nahme jedoch befriedigt beschauliche Gemüter nicht; an denen nagt der Wunsch,
irgendwelche Ergebnisse ihres Sinnens zu finden; und vielleicht beruhigt sie der
Dritte, der Eklektiker. Wenn man's in der Philosophie machte wie in der
Politik? Man vermittele doch die Extreme I Man rühre sich aus Energetik und
Mechanistik, aus Fortschrittsglauben und materialistischer Geschichtsauffassung, aus
Freiheitslehre und Determinismus, ein halbdeutliches Gemisch zusammen und
taufe dieses Einerseits-Anderseits-Ragout „endgültige Wahrheit"! — Aber das sind
allezeit die Matten, Lahmen, Schiefer, die den Geistessrieden auf mittleren Linien
herstellen wollen; klare und tiefe Denker verabscheuen halbe Lösungen.

Was bleibt übrig? Müller-Freienfels sagt es uns.

Die Gegensätze der Weltanschauung werden dauern, solange über die Welt
gedacht wird; darin hat der Skeptiker recht. Aber es gibt nicht beliebig viele
mögliche Weltanschauungen, sondern eine beschränkte Anzahl; jede von ihnen
ist einem besonderen Naturell auf den Leib geschnitten und wurzelt in den Tiefen
der besonderen Persönlichkeiten. Gelingt es nun, die Fülle der Persönlichkeiten
unter bestimmte Typen zu ordnen, so ordnen sich damit automatisch auch die
ersinnlichen Weltanschauungen. Sie zu mengen, hat keinen Wert; wohl aber
behält es Wichtigkeit, eine jede von ihnen immer wieder neu auszusinnen und in
ihren Tiefen zu durchdenken. Denn für jede bleibt das Bedürfnis wach, solange
es Vertreter des ihr entsprechenden Temperamentes gibt Und da die Wissenschaft
fortschreitet und jede Durchführung eines Systems also bald veraltet, muß jedes
alle Menschsnalter einmal aufs neue wohnlich gemacht werden. Leibniz hätte um
tMO nicht mehr vertreten können, was er um 1700 schrieb; da goß Lotze den
Leibnizianismus um und schuf so den für seine Zeit überaus bedeutsamen
„Mikrokosmus". Die leibnizische Auffassung von den Dingen lebt auch heute
weiter; aber der „Mikrokosmus" genügt nicht mehr ganz unseren Forderungen;
es ist vielleicht Zeit, von der Warte unserer Tage her eine abermals veränderte
Vedute aufzunehmen. So will Spinoza gegenwärtig in mager Form auferstehen;.
Kant läßt sich als Platoniker betrachten, Hegel als Plotiniker; und so weiter.
Nicht daß alle Persönlichkeiten zu einer Ansicht sich vereinigen, sondern daß für
jeden Typ von Denkern eine festumrissene, restlos klare, sauber modellierte
Philosophie immer wieder geschaffen werde; das ist unser Verlangen. Die
Gesamtheit der reinlichen Systeme gibt dann, sich ergänzend, die menschliche
„Wahrheit" — wie die farbigen Sirahlen zusammen das Weiß geben, das auch
kein Mittellicht zwischen Rot'und Grün und Blau darstellt. So sollen auch die
Künstler nicht ihr Eigenstes brechen lassen, um die Vorzüge von wer weiß wie
vielen Schulen zu vereinigen; sondern jeder male, meißle, dichte in seiner beson¬
dersten Manier; dann hängt neben Rasfael Rembrandt, neben Böcklin Liebermann;
und daß wir Fritz Reuter neben Friedrich Hebbel haben und Liliencron neben
Eichendorff, macht uns reich. Nicht Versöhnung, sondern Überspannung der
Gegensätze: das ist Müller-Freienfels' „Relativismus".




Dieser Relativismus lehrt Toleranz und weist uns an, durch Genuß gegen¬
sätzlicher Wahrheiten und Schönheiten unsre Seele zu bereichern; zugleich adeo
läßt er uns ein tiefstes psychisches Geheimnis ahnen.


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[0178] Geistige Typen Kunst wechseln Perioden des Idealismus mit naturalistischen ab; ja, der rohe Expressionismus der Wilden kommt heute wieder zu Ehren. Und jede Richtung hält sich für die allein privilegierte. Also nun: woher nimmt noch ein Dogmatiker den Mut zu dem fröhlichen Glauben, er, gerade er habe den Stein der Weisen gefunden? — Somit ist überhaupt keine Weltanschauung berechtigt, schließt ein Äkeptiker. Der belächelt alle Philosophie als leere Träumerei und wirft sich aus¬ schließlich auf die strenge Wissenschaft; bei der Beurteilung von Kunstwerken lehnt er jeden kritischen Maßstab ab, der nicht technisches Können mißt; im übrigen gilt alles, was gefüllt! Man gibt seinen Eindruck wieder — und fertig I Ein Gesetzbuch irgendwelcher Art erkennt solch ein Richter nicht an. — Diese Stellung¬ nahme jedoch befriedigt beschauliche Gemüter nicht; an denen nagt der Wunsch, irgendwelche Ergebnisse ihres Sinnens zu finden; und vielleicht beruhigt sie der Dritte, der Eklektiker. Wenn man's in der Philosophie machte wie in der Politik? Man vermittele doch die Extreme I Man rühre sich aus Energetik und Mechanistik, aus Fortschrittsglauben und materialistischer Geschichtsauffassung, aus Freiheitslehre und Determinismus, ein halbdeutliches Gemisch zusammen und taufe dieses Einerseits-Anderseits-Ragout „endgültige Wahrheit"! — Aber das sind allezeit die Matten, Lahmen, Schiefer, die den Geistessrieden auf mittleren Linien herstellen wollen; klare und tiefe Denker verabscheuen halbe Lösungen. Was bleibt übrig? Müller-Freienfels sagt es uns. Die Gegensätze der Weltanschauung werden dauern, solange über die Welt gedacht wird; darin hat der Skeptiker recht. Aber es gibt nicht beliebig viele mögliche Weltanschauungen, sondern eine beschränkte Anzahl; jede von ihnen ist einem besonderen Naturell auf den Leib geschnitten und wurzelt in den Tiefen der besonderen Persönlichkeiten. Gelingt es nun, die Fülle der Persönlichkeiten unter bestimmte Typen zu ordnen, so ordnen sich damit automatisch auch die ersinnlichen Weltanschauungen. Sie zu mengen, hat keinen Wert; wohl aber behält es Wichtigkeit, eine jede von ihnen immer wieder neu auszusinnen und in ihren Tiefen zu durchdenken. Denn für jede bleibt das Bedürfnis wach, solange es Vertreter des ihr entsprechenden Temperamentes gibt Und da die Wissenschaft fortschreitet und jede Durchführung eines Systems also bald veraltet, muß jedes alle Menschsnalter einmal aufs neue wohnlich gemacht werden. Leibniz hätte um tMO nicht mehr vertreten können, was er um 1700 schrieb; da goß Lotze den Leibnizianismus um und schuf so den für seine Zeit überaus bedeutsamen „Mikrokosmus". Die leibnizische Auffassung von den Dingen lebt auch heute weiter; aber der „Mikrokosmus" genügt nicht mehr ganz unseren Forderungen; es ist vielleicht Zeit, von der Warte unserer Tage her eine abermals veränderte Vedute aufzunehmen. So will Spinoza gegenwärtig in mager Form auferstehen;. Kant läßt sich als Platoniker betrachten, Hegel als Plotiniker; und so weiter. Nicht daß alle Persönlichkeiten zu einer Ansicht sich vereinigen, sondern daß für jeden Typ von Denkern eine festumrissene, restlos klare, sauber modellierte Philosophie immer wieder geschaffen werde; das ist unser Verlangen. Die Gesamtheit der reinlichen Systeme gibt dann, sich ergänzend, die menschliche „Wahrheit" — wie die farbigen Sirahlen zusammen das Weiß geben, das auch kein Mittellicht zwischen Rot'und Grün und Blau darstellt. So sollen auch die Künstler nicht ihr Eigenstes brechen lassen, um die Vorzüge von wer weiß wie vielen Schulen zu vereinigen; sondern jeder male, meißle, dichte in seiner beson¬ dersten Manier; dann hängt neben Rasfael Rembrandt, neben Böcklin Liebermann; und daß wir Fritz Reuter neben Friedrich Hebbel haben und Liliencron neben Eichendorff, macht uns reich. Nicht Versöhnung, sondern Überspannung der Gegensätze: das ist Müller-Freienfels' „Relativismus". Dieser Relativismus lehrt Toleranz und weist uns an, durch Genuß gegen¬ sätzlicher Wahrheiten und Schönheiten unsre Seele zu bereichern; zugleich adeo läßt er uns ein tiefstes psychisches Geheimnis ahnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/178>, abgerufen am 18.12.2024.