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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Kirche und politische Partei??,

am gründlichsten geleistet zu sein, wenn man auch die Höchste Autorität, die
Gottes, zum alten Eisen warf und den Massen vorspiegelte, sie würden durch den
Grundsatz ni Oiou ni iriaitrs ihr volles Erdenglück finden.

Wie ganz anders wäre die Entwicklung geworden, wenn der Liberalismus
das Erbe des deutschen Idealismus bewahrt und an Männern wie Kant, Fichte,
Schleiermacher, oder noch weiter zurück, an Paulus und Luther Tiefe und .Kraft
seines Wirkens gewonnen hätte! Viele einsichtige Führer des Liberalismus haben,
durch schwere Enttäuschungen belehrt, die Mängel, die der Liberalismus von
früheren Jahrzehnten her in sich trug, stark empfunden. Im ganzen liegt Wohl
ieme Epoche des in die einseitige Opposition getriebenen Liberalismus
abgeschlossen hinter uns. Jetzt ist ihm die große Aufgabe des Neubaues der
Nation zugefallen. Er Weiß, daß er sie nur im Bunde mit der stärksten Macht
der Vergangenheit, dem deutschen Idealismus und dem in der christlichen
Kirche verkörperten religiösen Glauben vollziehen kann.

Es liegt mir fern, behaupten zu wollen, eine politische Partei müsse die
einzelnen Punkte ihres Programms direkt aus dem Christentum herleiten. Solche
Versuche sind immer gescheitert. Die klarste Auseinandersetzung über diese
Fragen hat die Vertreter-Versammlung, die sich 1896 zur national-sozialen
Partei zusammenschloß, gegeben. Im Unterschied von der in den "christlich-
sozialen" Parteien geforderten unklaren Vermischung von Christentum und
Politik schied sie deutlich die politischen Einzelforderungen und das Christentum.
Letzteres sollte aber den Hintergrund ihrer Weltanschauung bilden. Das Ver¬
hältnis beider Größen läßt sich nicht besser klar machen. Aus dem Christentum
folgen große Grundsätze, die für das ganze Volksleben von Bedeutung sind.
Zum Beispiel: Allen Rechten entsprechen Pflichten. Vorrechte einer Klasse, wo
sie noch irgendwie bestehen, müssen zu um so größerer Hingebung an das Ganze,
zu opferfreudiger Tat führen. Das Christentum stellt an das Volksleben die
große Grundforderung sozialer Gerechtigkeit. Wie aber dieser Grundsatz in der
Steuergesetzgebung durchgeführt werden muß, läßt sich nicht aus dem Christentum
selbst ableiten, sondern erfordert eine umfassende Kenntnis des Steuerbedarfs,
der Möglichkeit der Verteilung der Steuern, eine Erwägung der wirtschaftlichen
Folgen und eine technische Kenntnis, die unabhängig vom Christentum ist. Der
Grundsatz, daß der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt werden
muß, wird sich aus dem Christentum ableiten lassen. Aber die Sozialreform
muß ebenso bedenken: welche Belastung verträgt die Industrie? Wie kann der
Staat eine im internationalen Konkurrenzkampf leistungsfähige Industrie
erhalten? Wenn die Industrie zugrunde geht, geht schließlich auch der Arbeiter¬
stand mit zugrunde. In allen diesen Fragen hilft nicht, wie es Optimisten
(zum Beispiel Kutter) meinen, der gute Wille allein, sondern eingehende Fach¬
kenntnis und langjährige praktische Erfahrung.

Jede Partei hat es dringend nötig, die Waffen ihres Kampfes aus einer
großen, Gemüt und Willen in Bewegung setzenden Weltanschauung oder einem
begeisternden Glauben herzuholen. Das hat gleichfalls der Sozialdemokratie
einen großen Vorsprung verschafft, daß sie den breiten glückshungrigen Massen
einen glühenden Glauben an ein herrliches Erdenziel einflößte, ihnen den
Himmel auf Erden in erreichbarer Nähe der Zeit vor Augen stellte. Die Sozial¬
demokratie trat auch hierin das Erbe des Liberalismus an. Ihr Glaube war
nicht schlechter als der seinige. Denn was ihren Zielen Durchschlagskraft gab,
war die Mischung rein egoistisch-eudämonistischer Motive und sinnlichen Hoffens
mit einem idealen Glauben an ein Reich Der Gerechtigkeit und des Vvlker-
friedens, wie es der menschlichen Natur mit ihrem Ineinander von Sinnlichkeit
und Sittlichkeit entspricht. Und genau wie in der konservativen Partei waren
die idealen Motive, von herrlichem Schimmer umkleidet, für die Agitation un>
Gewinnung Fernerstehender gut zu brauchen. Die egoistischen Motive und
Standesvorteile wirkten im Klassenkampf stärker. Das ist die ethische Gefahr
aller politischen Parteien, die ihren idealen Gehalt aus einer religiösen oder
idealistischen Weltanschauung herleiten wollen. Soweit die ethischen Ziele mit


Kirche und politische Partei??,

am gründlichsten geleistet zu sein, wenn man auch die Höchste Autorität, die
Gottes, zum alten Eisen warf und den Massen vorspiegelte, sie würden durch den
Grundsatz ni Oiou ni iriaitrs ihr volles Erdenglück finden.

Wie ganz anders wäre die Entwicklung geworden, wenn der Liberalismus
das Erbe des deutschen Idealismus bewahrt und an Männern wie Kant, Fichte,
Schleiermacher, oder noch weiter zurück, an Paulus und Luther Tiefe und .Kraft
seines Wirkens gewonnen hätte! Viele einsichtige Führer des Liberalismus haben,
durch schwere Enttäuschungen belehrt, die Mängel, die der Liberalismus von
früheren Jahrzehnten her in sich trug, stark empfunden. Im ganzen liegt Wohl
ieme Epoche des in die einseitige Opposition getriebenen Liberalismus
abgeschlossen hinter uns. Jetzt ist ihm die große Aufgabe des Neubaues der
Nation zugefallen. Er Weiß, daß er sie nur im Bunde mit der stärksten Macht
der Vergangenheit, dem deutschen Idealismus und dem in der christlichen
Kirche verkörperten religiösen Glauben vollziehen kann.

Es liegt mir fern, behaupten zu wollen, eine politische Partei müsse die
einzelnen Punkte ihres Programms direkt aus dem Christentum herleiten. Solche
Versuche sind immer gescheitert. Die klarste Auseinandersetzung über diese
Fragen hat die Vertreter-Versammlung, die sich 1896 zur national-sozialen
Partei zusammenschloß, gegeben. Im Unterschied von der in den „christlich-
sozialen" Parteien geforderten unklaren Vermischung von Christentum und
Politik schied sie deutlich die politischen Einzelforderungen und das Christentum.
Letzteres sollte aber den Hintergrund ihrer Weltanschauung bilden. Das Ver¬
hältnis beider Größen läßt sich nicht besser klar machen. Aus dem Christentum
folgen große Grundsätze, die für das ganze Volksleben von Bedeutung sind.
Zum Beispiel: Allen Rechten entsprechen Pflichten. Vorrechte einer Klasse, wo
sie noch irgendwie bestehen, müssen zu um so größerer Hingebung an das Ganze,
zu opferfreudiger Tat führen. Das Christentum stellt an das Volksleben die
große Grundforderung sozialer Gerechtigkeit. Wie aber dieser Grundsatz in der
Steuergesetzgebung durchgeführt werden muß, läßt sich nicht aus dem Christentum
selbst ableiten, sondern erfordert eine umfassende Kenntnis des Steuerbedarfs,
der Möglichkeit der Verteilung der Steuern, eine Erwägung der wirtschaftlichen
Folgen und eine technische Kenntnis, die unabhängig vom Christentum ist. Der
Grundsatz, daß der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt werden
muß, wird sich aus dem Christentum ableiten lassen. Aber die Sozialreform
muß ebenso bedenken: welche Belastung verträgt die Industrie? Wie kann der
Staat eine im internationalen Konkurrenzkampf leistungsfähige Industrie
erhalten? Wenn die Industrie zugrunde geht, geht schließlich auch der Arbeiter¬
stand mit zugrunde. In allen diesen Fragen hilft nicht, wie es Optimisten
(zum Beispiel Kutter) meinen, der gute Wille allein, sondern eingehende Fach¬
kenntnis und langjährige praktische Erfahrung.

Jede Partei hat es dringend nötig, die Waffen ihres Kampfes aus einer
großen, Gemüt und Willen in Bewegung setzenden Weltanschauung oder einem
begeisternden Glauben herzuholen. Das hat gleichfalls der Sozialdemokratie
einen großen Vorsprung verschafft, daß sie den breiten glückshungrigen Massen
einen glühenden Glauben an ein herrliches Erdenziel einflößte, ihnen den
Himmel auf Erden in erreichbarer Nähe der Zeit vor Augen stellte. Die Sozial¬
demokratie trat auch hierin das Erbe des Liberalismus an. Ihr Glaube war
nicht schlechter als der seinige. Denn was ihren Zielen Durchschlagskraft gab,
war die Mischung rein egoistisch-eudämonistischer Motive und sinnlichen Hoffens
mit einem idealen Glauben an ein Reich Der Gerechtigkeit und des Vvlker-
friedens, wie es der menschlichen Natur mit ihrem Ineinander von Sinnlichkeit
und Sittlichkeit entspricht. Und genau wie in der konservativen Partei waren
die idealen Motive, von herrlichem Schimmer umkleidet, für die Agitation un>
Gewinnung Fernerstehender gut zu brauchen. Die egoistischen Motive und
Standesvorteile wirkten im Klassenkampf stärker. Das ist die ethische Gefahr
aller politischen Parteien, die ihren idealen Gehalt aus einer religiösen oder
idealistischen Weltanschauung herleiten wollen. Soweit die ethischen Ziele mit


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[0214] Kirche und politische Partei??, am gründlichsten geleistet zu sein, wenn man auch die Höchste Autorität, die Gottes, zum alten Eisen warf und den Massen vorspiegelte, sie würden durch den Grundsatz ni Oiou ni iriaitrs ihr volles Erdenglück finden. Wie ganz anders wäre die Entwicklung geworden, wenn der Liberalismus das Erbe des deutschen Idealismus bewahrt und an Männern wie Kant, Fichte, Schleiermacher, oder noch weiter zurück, an Paulus und Luther Tiefe und .Kraft seines Wirkens gewonnen hätte! Viele einsichtige Führer des Liberalismus haben, durch schwere Enttäuschungen belehrt, die Mängel, die der Liberalismus von früheren Jahrzehnten her in sich trug, stark empfunden. Im ganzen liegt Wohl ieme Epoche des in die einseitige Opposition getriebenen Liberalismus abgeschlossen hinter uns. Jetzt ist ihm die große Aufgabe des Neubaues der Nation zugefallen. Er Weiß, daß er sie nur im Bunde mit der stärksten Macht der Vergangenheit, dem deutschen Idealismus und dem in der christlichen Kirche verkörperten religiösen Glauben vollziehen kann. Es liegt mir fern, behaupten zu wollen, eine politische Partei müsse die einzelnen Punkte ihres Programms direkt aus dem Christentum herleiten. Solche Versuche sind immer gescheitert. Die klarste Auseinandersetzung über diese Fragen hat die Vertreter-Versammlung, die sich 1896 zur national-sozialen Partei zusammenschloß, gegeben. Im Unterschied von der in den „christlich- sozialen" Parteien geforderten unklaren Vermischung von Christentum und Politik schied sie deutlich die politischen Einzelforderungen und das Christentum. Letzteres sollte aber den Hintergrund ihrer Weltanschauung bilden. Das Ver¬ hältnis beider Größen läßt sich nicht besser klar machen. Aus dem Christentum folgen große Grundsätze, die für das ganze Volksleben von Bedeutung sind. Zum Beispiel: Allen Rechten entsprechen Pflichten. Vorrechte einer Klasse, wo sie noch irgendwie bestehen, müssen zu um so größerer Hingebung an das Ganze, zu opferfreudiger Tat führen. Das Christentum stellt an das Volksleben die große Grundforderung sozialer Gerechtigkeit. Wie aber dieser Grundsatz in der Steuergesetzgebung durchgeführt werden muß, läßt sich nicht aus dem Christentum selbst ableiten, sondern erfordert eine umfassende Kenntnis des Steuerbedarfs, der Möglichkeit der Verteilung der Steuern, eine Erwägung der wirtschaftlichen Folgen und eine technische Kenntnis, die unabhängig vom Christentum ist. Der Grundsatz, daß der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt werden muß, wird sich aus dem Christentum ableiten lassen. Aber die Sozialreform muß ebenso bedenken: welche Belastung verträgt die Industrie? Wie kann der Staat eine im internationalen Konkurrenzkampf leistungsfähige Industrie erhalten? Wenn die Industrie zugrunde geht, geht schließlich auch der Arbeiter¬ stand mit zugrunde. In allen diesen Fragen hilft nicht, wie es Optimisten (zum Beispiel Kutter) meinen, der gute Wille allein, sondern eingehende Fach¬ kenntnis und langjährige praktische Erfahrung. Jede Partei hat es dringend nötig, die Waffen ihres Kampfes aus einer großen, Gemüt und Willen in Bewegung setzenden Weltanschauung oder einem begeisternden Glauben herzuholen. Das hat gleichfalls der Sozialdemokratie einen großen Vorsprung verschafft, daß sie den breiten glückshungrigen Massen einen glühenden Glauben an ein herrliches Erdenziel einflößte, ihnen den Himmel auf Erden in erreichbarer Nähe der Zeit vor Augen stellte. Die Sozial¬ demokratie trat auch hierin das Erbe des Liberalismus an. Ihr Glaube war nicht schlechter als der seinige. Denn was ihren Zielen Durchschlagskraft gab, war die Mischung rein egoistisch-eudämonistischer Motive und sinnlichen Hoffens mit einem idealen Glauben an ein Reich Der Gerechtigkeit und des Vvlker- friedens, wie es der menschlichen Natur mit ihrem Ineinander von Sinnlichkeit und Sittlichkeit entspricht. Und genau wie in der konservativen Partei waren die idealen Motive, von herrlichem Schimmer umkleidet, für die Agitation un> Gewinnung Fernerstehender gut zu brauchen. Die egoistischen Motive und Standesvorteile wirkten im Klassenkampf stärker. Das ist die ethische Gefahr aller politischen Parteien, die ihren idealen Gehalt aus einer religiösen oder idealistischen Weltanschauung herleiten wollen. Soweit die ethischen Ziele mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/214>, abgerufen am 06.02.2025.