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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Uirche und politische Parteien

sondern als unchristliches Volk auftreten würde. Die begreifliche Folge dieses
Unglaubens ist es gewesen, daß die Kirche bei vielen ihre Volkstümlichkeit ein-
gebüßt hat. Sie galt vielfach als Institution, der herrschenden Klassen, als
abhängig von junkerlichen Gutsherren und Patronen oder als Einrichtung der
Jndustr'iebarone, um das Volk in Abhängigkeit, Gehorsam und Demut zu
erhalten. Wie ungerecht auch dies Urteil im ganzen ist, läßt sich doch nicht
leugnen, daß vieles in der Kirche -- wozu noch unsoziale Einrichtungen und
Abstufungen bei Trauungen, Beerdigungen, Taufen kommen -- dazu angetan
war, diesen bösen Schein immer wieder zu nähren.

Besonders verhängnisvoll war in dieser Richtung der enge Bund der
Kirche mit der konservativen Partei. Jahrzehnte hindurch betrachteten die
Konservativen die Kirche als ihre Domäne. Wenn auch viel aufrichtige Frömmig¬
keit in diesen Kreisen herrschte, so machte das konservative Christentum doch
gerade dann mit den sozialen Forderungen des Christentums halt, wenn sie sich
gegen das eigene Standes interesse wendeten. Das hat von Jahrzehnt zu Jahr¬
zehnt zu einer immer stärkeren Jdeallosigkeit der konservativen Partei bei¬
getragen. Klagen über die herrschende Unchristlichkeit konnte man aus diesen
Kreisen in beweglicher Form vernehmen, aber es fehlte die Selbsterkenntnis,
wie viel man selber durch unsoziales Verhalten zum Ruin der Kirche und zur
Abwendung vom Christentum beigetragen hatte.

Auf der andern Seite sollen die Fehler nicht geleugnet werden, die die
liberalen Parteien in der Vergangenheit begangen haben. Jede Partei gewinnt
an idealem Gehalt, wenn der Hintergrund ihrer politischen Einzelforderungen
eine große idealistische Weltanschauung ist, die schließlich laus einem starken
religiösen Glauben ihre besten Kräfte zieht. Jeder rein individualistische krrchen-
lose religiöse Glaube kann Wohl für einzelne Menschen ein Halt sein, er bedarf
aber, um gemeinschaftbildende Kraft zu haben, einer großen sozialen Gemein¬
schaft, der Kirche. Der Liberalisinus beging in der Zeit vor und nach 1848 den
großen Fehler, nicht bloß gegen die Engherzigkeit in der Kirche Sturm zu laufen
-- das war sein gutes Recht. Aber er versäumte es, seine berechtigten freiheit¬
lichen Forderungen tief innerlich zu begründen. Mit vollem Recht kämpfte der
Liberalismus gegen enge und überlebte Autoritäten; er suchte die freien Kräfte
des Volkslebens zu stärken. Aber er versäumte in seiner Weltanschauung klar
zu machen, daß die volle wahre Freiheit nur in der persönlichen Bindung an
Gott und das Gute zu finden sei. Und doch wie viel Motive hätten sich für den
wahren Liberalismus aus dem Neuen Testament, aus dem Kampf Jesu gegen
die überlieferten Autoritäten, aus dem Auftreten des Paulus gegen das gesetzlich¬
engherzige Judenchristentum herleiten lassen! Und wieviel Waffen hätten die
Schriften Luthers, vor allem seine Schrift über den wahren Liberalismus "Bon
der Freiheit eines Christenmenschen" liefern können! Der Liberalismus ver¬
armte an dem Mangel einer Weltanschauung. Oder genauer: er warf sich der
seichtesten Weltanschauung in die Arme, einer optimistischen Aufklärung, die in
der formalen Freiheit oder Ungebundenheit das Heil suchte. Er glaubte in
falschem Optimismus, daß die 'Grundkräfte des Menschen als solche schon gut
seien. Man müsse sie nur von lallen historischen Bindungen befreien, um eine
wundervolle Harmonie der neuen Welt hervorzurufen. Man glaubte, an eine
neue Blüte der Kultur und täuschte sich vor, die Fortschritte der materiellen
Kultur, der Industrie und Technik könnten ein reiches, in sich befriedigtes neues
Geschlecht erzeugen, das von der Höhe des befreiten Menschentums auf den
überlebten Glauben des Kirchentums mitleidig lächelnd herabblicken könne.

Hand in Hand mit dieser inneren Verarmung ging der äußere Rückgang
des Liberalismus. Der Wind wurde ihm von der Sozialdemokratie immer
mehr aus den Segeln genommen. , Wer gegen die überlieferten Autoritäten
Sturm laufen wollte, fand bei ihr viel kräftigere Schlagworte, aber auch einen
leuchtenderen Glauben an eine herrliche Zukunft. Im Kampf gegen Kirche und
Christentum nahm die Sozialdemokratie nur pas Erbe des Liberalismus auf.
Die Befreiung von den verknöcherten Autoritäten der Vergangenheit schien ihr


Uirche und politische Parteien

sondern als unchristliches Volk auftreten würde. Die begreifliche Folge dieses
Unglaubens ist es gewesen, daß die Kirche bei vielen ihre Volkstümlichkeit ein-
gebüßt hat. Sie galt vielfach als Institution, der herrschenden Klassen, als
abhängig von junkerlichen Gutsherren und Patronen oder als Einrichtung der
Jndustr'iebarone, um das Volk in Abhängigkeit, Gehorsam und Demut zu
erhalten. Wie ungerecht auch dies Urteil im ganzen ist, läßt sich doch nicht
leugnen, daß vieles in der Kirche — wozu noch unsoziale Einrichtungen und
Abstufungen bei Trauungen, Beerdigungen, Taufen kommen — dazu angetan
war, diesen bösen Schein immer wieder zu nähren.

Besonders verhängnisvoll war in dieser Richtung der enge Bund der
Kirche mit der konservativen Partei. Jahrzehnte hindurch betrachteten die
Konservativen die Kirche als ihre Domäne. Wenn auch viel aufrichtige Frömmig¬
keit in diesen Kreisen herrschte, so machte das konservative Christentum doch
gerade dann mit den sozialen Forderungen des Christentums halt, wenn sie sich
gegen das eigene Standes interesse wendeten. Das hat von Jahrzehnt zu Jahr¬
zehnt zu einer immer stärkeren Jdeallosigkeit der konservativen Partei bei¬
getragen. Klagen über die herrschende Unchristlichkeit konnte man aus diesen
Kreisen in beweglicher Form vernehmen, aber es fehlte die Selbsterkenntnis,
wie viel man selber durch unsoziales Verhalten zum Ruin der Kirche und zur
Abwendung vom Christentum beigetragen hatte.

Auf der andern Seite sollen die Fehler nicht geleugnet werden, die die
liberalen Parteien in der Vergangenheit begangen haben. Jede Partei gewinnt
an idealem Gehalt, wenn der Hintergrund ihrer politischen Einzelforderungen
eine große idealistische Weltanschauung ist, die schließlich laus einem starken
religiösen Glauben ihre besten Kräfte zieht. Jeder rein individualistische krrchen-
lose religiöse Glaube kann Wohl für einzelne Menschen ein Halt sein, er bedarf
aber, um gemeinschaftbildende Kraft zu haben, einer großen sozialen Gemein¬
schaft, der Kirche. Der Liberalisinus beging in der Zeit vor und nach 1848 den
großen Fehler, nicht bloß gegen die Engherzigkeit in der Kirche Sturm zu laufen
— das war sein gutes Recht. Aber er versäumte es, seine berechtigten freiheit¬
lichen Forderungen tief innerlich zu begründen. Mit vollem Recht kämpfte der
Liberalismus gegen enge und überlebte Autoritäten; er suchte die freien Kräfte
des Volkslebens zu stärken. Aber er versäumte in seiner Weltanschauung klar
zu machen, daß die volle wahre Freiheit nur in der persönlichen Bindung an
Gott und das Gute zu finden sei. Und doch wie viel Motive hätten sich für den
wahren Liberalismus aus dem Neuen Testament, aus dem Kampf Jesu gegen
die überlieferten Autoritäten, aus dem Auftreten des Paulus gegen das gesetzlich¬
engherzige Judenchristentum herleiten lassen! Und wieviel Waffen hätten die
Schriften Luthers, vor allem seine Schrift über den wahren Liberalismus „Bon
der Freiheit eines Christenmenschen" liefern können! Der Liberalismus ver¬
armte an dem Mangel einer Weltanschauung. Oder genauer: er warf sich der
seichtesten Weltanschauung in die Arme, einer optimistischen Aufklärung, die in
der formalen Freiheit oder Ungebundenheit das Heil suchte. Er glaubte in
falschem Optimismus, daß die 'Grundkräfte des Menschen als solche schon gut
seien. Man müsse sie nur von lallen historischen Bindungen befreien, um eine
wundervolle Harmonie der neuen Welt hervorzurufen. Man glaubte, an eine
neue Blüte der Kultur und täuschte sich vor, die Fortschritte der materiellen
Kultur, der Industrie und Technik könnten ein reiches, in sich befriedigtes neues
Geschlecht erzeugen, das von der Höhe des befreiten Menschentums auf den
überlebten Glauben des Kirchentums mitleidig lächelnd herabblicken könne.

Hand in Hand mit dieser inneren Verarmung ging der äußere Rückgang
des Liberalismus. Der Wind wurde ihm von der Sozialdemokratie immer
mehr aus den Segeln genommen. , Wer gegen die überlieferten Autoritäten
Sturm laufen wollte, fand bei ihr viel kräftigere Schlagworte, aber auch einen
leuchtenderen Glauben an eine herrliche Zukunft. Im Kampf gegen Kirche und
Christentum nahm die Sozialdemokratie nur pas Erbe des Liberalismus auf.
Die Befreiung von den verknöcherten Autoritäten der Vergangenheit schien ihr


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[0213] Uirche und politische Parteien sondern als unchristliches Volk auftreten würde. Die begreifliche Folge dieses Unglaubens ist es gewesen, daß die Kirche bei vielen ihre Volkstümlichkeit ein- gebüßt hat. Sie galt vielfach als Institution, der herrschenden Klassen, als abhängig von junkerlichen Gutsherren und Patronen oder als Einrichtung der Jndustr'iebarone, um das Volk in Abhängigkeit, Gehorsam und Demut zu erhalten. Wie ungerecht auch dies Urteil im ganzen ist, läßt sich doch nicht leugnen, daß vieles in der Kirche — wozu noch unsoziale Einrichtungen und Abstufungen bei Trauungen, Beerdigungen, Taufen kommen — dazu angetan war, diesen bösen Schein immer wieder zu nähren. Besonders verhängnisvoll war in dieser Richtung der enge Bund der Kirche mit der konservativen Partei. Jahrzehnte hindurch betrachteten die Konservativen die Kirche als ihre Domäne. Wenn auch viel aufrichtige Frömmig¬ keit in diesen Kreisen herrschte, so machte das konservative Christentum doch gerade dann mit den sozialen Forderungen des Christentums halt, wenn sie sich gegen das eigene Standes interesse wendeten. Das hat von Jahrzehnt zu Jahr¬ zehnt zu einer immer stärkeren Jdeallosigkeit der konservativen Partei bei¬ getragen. Klagen über die herrschende Unchristlichkeit konnte man aus diesen Kreisen in beweglicher Form vernehmen, aber es fehlte die Selbsterkenntnis, wie viel man selber durch unsoziales Verhalten zum Ruin der Kirche und zur Abwendung vom Christentum beigetragen hatte. Auf der andern Seite sollen die Fehler nicht geleugnet werden, die die liberalen Parteien in der Vergangenheit begangen haben. Jede Partei gewinnt an idealem Gehalt, wenn der Hintergrund ihrer politischen Einzelforderungen eine große idealistische Weltanschauung ist, die schließlich laus einem starken religiösen Glauben ihre besten Kräfte zieht. Jeder rein individualistische krrchen- lose religiöse Glaube kann Wohl für einzelne Menschen ein Halt sein, er bedarf aber, um gemeinschaftbildende Kraft zu haben, einer großen sozialen Gemein¬ schaft, der Kirche. Der Liberalisinus beging in der Zeit vor und nach 1848 den großen Fehler, nicht bloß gegen die Engherzigkeit in der Kirche Sturm zu laufen — das war sein gutes Recht. Aber er versäumte es, seine berechtigten freiheit¬ lichen Forderungen tief innerlich zu begründen. Mit vollem Recht kämpfte der Liberalismus gegen enge und überlebte Autoritäten; er suchte die freien Kräfte des Volkslebens zu stärken. Aber er versäumte in seiner Weltanschauung klar zu machen, daß die volle wahre Freiheit nur in der persönlichen Bindung an Gott und das Gute zu finden sei. Und doch wie viel Motive hätten sich für den wahren Liberalismus aus dem Neuen Testament, aus dem Kampf Jesu gegen die überlieferten Autoritäten, aus dem Auftreten des Paulus gegen das gesetzlich¬ engherzige Judenchristentum herleiten lassen! Und wieviel Waffen hätten die Schriften Luthers, vor allem seine Schrift über den wahren Liberalismus „Bon der Freiheit eines Christenmenschen" liefern können! Der Liberalismus ver¬ armte an dem Mangel einer Weltanschauung. Oder genauer: er warf sich der seichtesten Weltanschauung in die Arme, einer optimistischen Aufklärung, die in der formalen Freiheit oder Ungebundenheit das Heil suchte. Er glaubte in falschem Optimismus, daß die 'Grundkräfte des Menschen als solche schon gut seien. Man müsse sie nur von lallen historischen Bindungen befreien, um eine wundervolle Harmonie der neuen Welt hervorzurufen. Man glaubte, an eine neue Blüte der Kultur und täuschte sich vor, die Fortschritte der materiellen Kultur, der Industrie und Technik könnten ein reiches, in sich befriedigtes neues Geschlecht erzeugen, das von der Höhe des befreiten Menschentums auf den überlebten Glauben des Kirchentums mitleidig lächelnd herabblicken könne. Hand in Hand mit dieser inneren Verarmung ging der äußere Rückgang des Liberalismus. Der Wind wurde ihm von der Sozialdemokratie immer mehr aus den Segeln genommen. , Wer gegen die überlieferten Autoritäten Sturm laufen wollte, fand bei ihr viel kräftigere Schlagworte, aber auch einen leuchtenderen Glauben an eine herrliche Zukunft. Im Kampf gegen Kirche und Christentum nahm die Sozialdemokratie nur pas Erbe des Liberalismus auf. Die Befreiung von den verknöcherten Autoritäten der Vergangenheit schien ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/213>, abgerufen am 06.02.2025.