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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Der Rätegedanke

ist Regel gebracht worden. Die Mehrheit des Volkes begriff rasch, daß unser
Leben und Sterben davon abhinge, o>b es gelänge, die ungezählten wilden Macht"
zentren zu einem Pyramidenbau der Über- und Unterordnung zusammenzu¬
tragen. Die Mehrheit fügt sich, ein paar Böswillige und in ihrer Wirkung höchst
Bösartige widersetzen sich und halten ihre Souveränität mit den Zähnen fest."
Und hier entzündet sich nun der Kampf der Prinzipien, der zu dem Schlagwort:
Nationalversammlung oder Nätesystem formuliert worden ist. Worum handelt
es sich?

Auch die Nationalversammlung ist Rätesystem: eine Gruppe von Men¬
schen, nämlich das gesamte deutsche Volk, setzt sich eine selbstgewählte Leitung.
Ob man alle Deutschen als eine homogene Masse betrachtet, sie in lokale
Gruppen (Wahlkreise) einteilt, in jeder eine festgesetzte Zahl von Abgeordneten
wählt und die Gewählten zu einer souveränen Versammlung zusammentreten
läßt, oder ob man die Volksgenossen nach ihrer Beschäftigung gliedert, in jedem
Betriebe wählt, aus den Gewählten durch Wahl Ausschüsse absondert, und dieses
Verfahren fortsetzt, bis man einen souveränen Zentralausschuß erhält (dessen
Mitgliederzahl der Nationalversammlung ungefähr gleichkommen mag): das ist
ganz offenbar ein Unterschied der Technik, aber nicht des Prinzips. Mit anderen
Worten: nicht nur die Nationalversammlung ist Nätesystem, sondern anch das zu
Ende geführte, durch geordnete Wahlen entstandene und bis zu keiner obersten In¬
stanz aufgebaute Rätesystem ist Parlamentarismus.

Hieraus folgt, daß das Entsetzen sogenannter bürgerlicher Kreise vor dem
Rätesystem, ihre Angst, die Frage auch nur zur Diskussion zu stellen, reichlich
lächerlich und übertrieben ist; nicht minder aber der Fanatismus der sogenannten
Radikalen, denen die Nationalversammlung so viel bedeutet wie Gegenrevolution,
und die von der unbeschränkten Macht der A.- und S.-Räte das Himmelreich aus
Erden erwarten. Gäbe man ihnen hente die Macht, so würden die radikalen
Prediger und Zeloten zu ihrer Enttäuschung erleben, daß sie wiederum nichts
anderes hätten, als was wir jetzt haben, nämlich ein Parlament, das imstande
ist, sehr viel zu reden, einiges zu paragraphieren und so gut wie gar nichts zu be¬
wirken. Und sie würden diesem souveränen Rätekongreß genau so Abfall, Ver¬
rat und gegenrevolutionäre Tendenzen vorwerfen wie jetzt der Versammlung
in Weimar. -

Wenn nun also zwischen dem üblichen Parlamentarismus und dem Räte ¬
system nur technische Unterschiode bestehen, so dürfen wir um so gelassener Vor¬
züge und Nachteile gegeneinander abwägen.

Im Kampfe des Tages heißt Nätesystem so viel wie Diktatur des Prole¬
tariats. Wo es als Staatsgrundgesetz bisher verkündet worden ist, da hat man
es freilich durchgesetzt auf dem Wege der Diktatur einer radikalen Minderheit.
Zum Begriff des Natesystems selbst aber .gehört solche Tyrannis nicht; oder
wenigstens nicht in höherem Maße, als zum Wesen des demokratischen Parla¬
mentarismus: wenn das gesamte Volk mit gleichen Rechten wählt, so gewinnt
die breite Masse, also die Besitzlosen und Ungebildeten, das Übergewicht, und übt
insofern über die besitzende und gebildete Minderheit eine durchaus legitime
Diktatur aus. Wenn trotzdem nicht der einfache Land- oder Fabrikarbeiter den
Weimarer Theatersaal beherrscht, so liegt das daran, daß auch das Proletariat
nicht einfach den Proletarier wählt, sondern den durch die Gabe des Redens und
Schreibens, durch Intelligenz und daher meistens auch durch Bildung hervor¬
ragenden Genossen. Alle diese Möglichkeiten liegen aber auch auf dem Grunde
des durchgeführten Natesystems. Natürlich wird dabei vorausgesetzt, daß nicht,
wie es hier und da gefordert worden ist, das Wahlrecht abhängig gemacht wird
von Ver Zugehörigkeit zu einer der Linksparteien und, sogar von eurer gewissen
Mindestdauer dieser Zugehörigkeit. Das hieße einfach Aufhebung des allgemei¬
nen Wahlrechts und gehörte unter die mancherlei 'Vergewaltigungen,. die jetzt
von gewisser Seite an die Stelle von Politik gesetzt werden, nicht aber zum Wesen
des Rätesystems. Ganz ohne Bedingungen freilich gestattet es die Wahl nicht;
es verlangt vom Wähler, daß er arbeite und daß er als arbeitender Mensch einer
Berufsorganisation angehöre.


Der Rätegedanke

ist Regel gebracht worden. Die Mehrheit des Volkes begriff rasch, daß unser
Leben und Sterben davon abhinge, o>b es gelänge, die ungezählten wilden Macht»
zentren zu einem Pyramidenbau der Über- und Unterordnung zusammenzu¬
tragen. Die Mehrheit fügt sich, ein paar Böswillige und in ihrer Wirkung höchst
Bösartige widersetzen sich und halten ihre Souveränität mit den Zähnen fest.«
Und hier entzündet sich nun der Kampf der Prinzipien, der zu dem Schlagwort:
Nationalversammlung oder Nätesystem formuliert worden ist. Worum handelt
es sich?

Auch die Nationalversammlung ist Rätesystem: eine Gruppe von Men¬
schen, nämlich das gesamte deutsche Volk, setzt sich eine selbstgewählte Leitung.
Ob man alle Deutschen als eine homogene Masse betrachtet, sie in lokale
Gruppen (Wahlkreise) einteilt, in jeder eine festgesetzte Zahl von Abgeordneten
wählt und die Gewählten zu einer souveränen Versammlung zusammentreten
läßt, oder ob man die Volksgenossen nach ihrer Beschäftigung gliedert, in jedem
Betriebe wählt, aus den Gewählten durch Wahl Ausschüsse absondert, und dieses
Verfahren fortsetzt, bis man einen souveränen Zentralausschuß erhält (dessen
Mitgliederzahl der Nationalversammlung ungefähr gleichkommen mag): das ist
ganz offenbar ein Unterschied der Technik, aber nicht des Prinzips. Mit anderen
Worten: nicht nur die Nationalversammlung ist Nätesystem, sondern anch das zu
Ende geführte, durch geordnete Wahlen entstandene und bis zu keiner obersten In¬
stanz aufgebaute Rätesystem ist Parlamentarismus.

Hieraus folgt, daß das Entsetzen sogenannter bürgerlicher Kreise vor dem
Rätesystem, ihre Angst, die Frage auch nur zur Diskussion zu stellen, reichlich
lächerlich und übertrieben ist; nicht minder aber der Fanatismus der sogenannten
Radikalen, denen die Nationalversammlung so viel bedeutet wie Gegenrevolution,
und die von der unbeschränkten Macht der A.- und S.-Räte das Himmelreich aus
Erden erwarten. Gäbe man ihnen hente die Macht, so würden die radikalen
Prediger und Zeloten zu ihrer Enttäuschung erleben, daß sie wiederum nichts
anderes hätten, als was wir jetzt haben, nämlich ein Parlament, das imstande
ist, sehr viel zu reden, einiges zu paragraphieren und so gut wie gar nichts zu be¬
wirken. Und sie würden diesem souveränen Rätekongreß genau so Abfall, Ver¬
rat und gegenrevolutionäre Tendenzen vorwerfen wie jetzt der Versammlung
in Weimar. -

Wenn nun also zwischen dem üblichen Parlamentarismus und dem Räte ¬
system nur technische Unterschiode bestehen, so dürfen wir um so gelassener Vor¬
züge und Nachteile gegeneinander abwägen.

Im Kampfe des Tages heißt Nätesystem so viel wie Diktatur des Prole¬
tariats. Wo es als Staatsgrundgesetz bisher verkündet worden ist, da hat man
es freilich durchgesetzt auf dem Wege der Diktatur einer radikalen Minderheit.
Zum Begriff des Natesystems selbst aber .gehört solche Tyrannis nicht; oder
wenigstens nicht in höherem Maße, als zum Wesen des demokratischen Parla¬
mentarismus: wenn das gesamte Volk mit gleichen Rechten wählt, so gewinnt
die breite Masse, also die Besitzlosen und Ungebildeten, das Übergewicht, und übt
insofern über die besitzende und gebildete Minderheit eine durchaus legitime
Diktatur aus. Wenn trotzdem nicht der einfache Land- oder Fabrikarbeiter den
Weimarer Theatersaal beherrscht, so liegt das daran, daß auch das Proletariat
nicht einfach den Proletarier wählt, sondern den durch die Gabe des Redens und
Schreibens, durch Intelligenz und daher meistens auch durch Bildung hervor¬
ragenden Genossen. Alle diese Möglichkeiten liegen aber auch auf dem Grunde
des durchgeführten Natesystems. Natürlich wird dabei vorausgesetzt, daß nicht,
wie es hier und da gefordert worden ist, das Wahlrecht abhängig gemacht wird
von Ver Zugehörigkeit zu einer der Linksparteien und, sogar von eurer gewissen
Mindestdauer dieser Zugehörigkeit. Das hieße einfach Aufhebung des allgemei¬
nen Wahlrechts und gehörte unter die mancherlei 'Vergewaltigungen,. die jetzt
von gewisser Seite an die Stelle von Politik gesetzt werden, nicht aber zum Wesen
des Rätesystems. Ganz ohne Bedingungen freilich gestattet es die Wahl nicht;
es verlangt vom Wähler, daß er arbeite und daß er als arbeitender Mensch einer
Berufsorganisation angehöre.


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[0206] Der Rätegedanke ist Regel gebracht worden. Die Mehrheit des Volkes begriff rasch, daß unser Leben und Sterben davon abhinge, o>b es gelänge, die ungezählten wilden Macht» zentren zu einem Pyramidenbau der Über- und Unterordnung zusammenzu¬ tragen. Die Mehrheit fügt sich, ein paar Böswillige und in ihrer Wirkung höchst Bösartige widersetzen sich und halten ihre Souveränität mit den Zähnen fest.« Und hier entzündet sich nun der Kampf der Prinzipien, der zu dem Schlagwort: Nationalversammlung oder Nätesystem formuliert worden ist. Worum handelt es sich? Auch die Nationalversammlung ist Rätesystem: eine Gruppe von Men¬ schen, nämlich das gesamte deutsche Volk, setzt sich eine selbstgewählte Leitung. Ob man alle Deutschen als eine homogene Masse betrachtet, sie in lokale Gruppen (Wahlkreise) einteilt, in jeder eine festgesetzte Zahl von Abgeordneten wählt und die Gewählten zu einer souveränen Versammlung zusammentreten läßt, oder ob man die Volksgenossen nach ihrer Beschäftigung gliedert, in jedem Betriebe wählt, aus den Gewählten durch Wahl Ausschüsse absondert, und dieses Verfahren fortsetzt, bis man einen souveränen Zentralausschuß erhält (dessen Mitgliederzahl der Nationalversammlung ungefähr gleichkommen mag): das ist ganz offenbar ein Unterschied der Technik, aber nicht des Prinzips. Mit anderen Worten: nicht nur die Nationalversammlung ist Nätesystem, sondern anch das zu Ende geführte, durch geordnete Wahlen entstandene und bis zu keiner obersten In¬ stanz aufgebaute Rätesystem ist Parlamentarismus. Hieraus folgt, daß das Entsetzen sogenannter bürgerlicher Kreise vor dem Rätesystem, ihre Angst, die Frage auch nur zur Diskussion zu stellen, reichlich lächerlich und übertrieben ist; nicht minder aber der Fanatismus der sogenannten Radikalen, denen die Nationalversammlung so viel bedeutet wie Gegenrevolution, und die von der unbeschränkten Macht der A.- und S.-Räte das Himmelreich aus Erden erwarten. Gäbe man ihnen hente die Macht, so würden die radikalen Prediger und Zeloten zu ihrer Enttäuschung erleben, daß sie wiederum nichts anderes hätten, als was wir jetzt haben, nämlich ein Parlament, das imstande ist, sehr viel zu reden, einiges zu paragraphieren und so gut wie gar nichts zu be¬ wirken. Und sie würden diesem souveränen Rätekongreß genau so Abfall, Ver¬ rat und gegenrevolutionäre Tendenzen vorwerfen wie jetzt der Versammlung in Weimar. - Wenn nun also zwischen dem üblichen Parlamentarismus und dem Räte ¬ system nur technische Unterschiode bestehen, so dürfen wir um so gelassener Vor¬ züge und Nachteile gegeneinander abwägen. Im Kampfe des Tages heißt Nätesystem so viel wie Diktatur des Prole¬ tariats. Wo es als Staatsgrundgesetz bisher verkündet worden ist, da hat man es freilich durchgesetzt auf dem Wege der Diktatur einer radikalen Minderheit. Zum Begriff des Natesystems selbst aber .gehört solche Tyrannis nicht; oder wenigstens nicht in höherem Maße, als zum Wesen des demokratischen Parla¬ mentarismus: wenn das gesamte Volk mit gleichen Rechten wählt, so gewinnt die breite Masse, also die Besitzlosen und Ungebildeten, das Übergewicht, und übt insofern über die besitzende und gebildete Minderheit eine durchaus legitime Diktatur aus. Wenn trotzdem nicht der einfache Land- oder Fabrikarbeiter den Weimarer Theatersaal beherrscht, so liegt das daran, daß auch das Proletariat nicht einfach den Proletarier wählt, sondern den durch die Gabe des Redens und Schreibens, durch Intelligenz und daher meistens auch durch Bildung hervor¬ ragenden Genossen. Alle diese Möglichkeiten liegen aber auch auf dem Grunde des durchgeführten Natesystems. Natürlich wird dabei vorausgesetzt, daß nicht, wie es hier und da gefordert worden ist, das Wahlrecht abhängig gemacht wird von Ver Zugehörigkeit zu einer der Linksparteien und, sogar von eurer gewissen Mindestdauer dieser Zugehörigkeit. Das hieße einfach Aufhebung des allgemei¬ nen Wahlrechts und gehörte unter die mancherlei 'Vergewaltigungen,. die jetzt von gewisser Seite an die Stelle von Politik gesetzt werden, nicht aber zum Wesen des Rätesystems. Ganz ohne Bedingungen freilich gestattet es die Wahl nicht; es verlangt vom Wähler, daß er arbeite und daß er als arbeitender Mensch einer Berufsorganisation angehöre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/206>, abgerufen am 05.02.2025.