Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.Die kulturelle Bedeutung Wiens Ein kurz'er Rückblick auf die geschichtlichen Vorgänge früherer Jahrhunderte Während -andere Hauptstädte nach und nach die wirtschaftlichen und Dadurch unterschied sich Osterreich von Ungarn, daß dieses mit Gewalt Die kulturelle Bedeutung Wiens Ein kurz'er Rückblick auf die geschichtlichen Vorgänge früherer Jahrhunderte Während -andere Hauptstädte nach und nach die wirtschaftlichen und Dadurch unterschied sich Osterreich von Ungarn, daß dieses mit Gewalt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335290"/> <fw type="header" place="top"> Die kulturelle Bedeutung Wiens</fw><lb/> <p xml:id="ID_430"> Ein kurz'er Rückblick auf die geschichtlichen Vorgänge früherer Jahrhunderte<lb/> wird es klar machen, daß Wien Grenzstadt w-ar, lacht bloß in wirtschaftlicher<lb/> Hinsicht als Vermittlerin des Warenaustausches zwischen Westen und Osten,<lb/> sondern Grenzstadt gegen jene Faktoren und Völker des Ostens, die die Kultur<lb/> des Westens zu bedrohen schiene«. Gegen Madjaren und Türken war sie Grenz¬<lb/> stadt, ein der diese Mächte zerschellten. Aber auch gegen den Norden war sie ein<lb/> Grvnzbollwerk gegen die imperialistischen Bestrebungen Odo-ak-ers von Böhmen,<lb/> die er im Kampfe gegen Wien und die Alpenländer zu verwirklichen suchte. Wien<lb/> schützte damals die Alpenländer gegen den Norden. Als Rückenschutz ermöglichte<lb/> es aber -auch die Ausbreitung des Deutschtums nach dem Süden und war<lb/> Ausgangspunkt jener -groß angelegten deutschen Kolonisativnstätigkeit in Ungarn,<lb/> Slawonien, Bukowina und Galiz:-en, die Josef II. einen Ersatz für das verlorene<lb/> Schlesien an deutschen Ländern bringen sollte. Seur für die Ausbreitung des<lb/> Deutschtums in den Sudetenländern hatte Wien keine Bedeutung. Leider gewann<lb/> aber die Stadt infolge der kulturellen Passivität seiner Bewohner und der<lb/> Teilnahmslosigke-it der Habsburger keinen dauernden Einfluß -auf die<lb/> Nationen; nicht einmal in Galizien und Ungarn konnte der Einfluß von Paris<lb/> aufgehoben werden. Über die Grenzen der Monarchie selbst drang Wien niemals.<lb/> Grenzstadt nach Osten ist die Stadt endlich wiederum.geworden seit der Ver¬<lb/> wirklichung der Unabhäidgigbeitsbestrebungen Ungarns, wo sich das Madjaren¬<lb/> reich unter der klugen politischen Führung eines DcZk und Andrassy freigemacht<lb/> holte von dem Westen der Monarchie.</p><lb/> <p xml:id="ID_431"> Während -andere Hauptstädte nach und nach die wirtschaftlichen und<lb/> geistigen Kräfte des Landes in sich vereinigten und rückwirkend neue Kräfte<lb/> weckten und bande«, hat Wien nie die Kraft dazu aufgebracht. Freilich dürfen<lb/> wir nicht vergessen, daß Österreich aus den Tagen des 'Mittel-älterlichen<lb/> Territorialstaates unverändert in die Zeit der Nationalstaaten übergegangen ist<lb/> und mit seinen vielen. Völkerschaften stets als -ein Schuldner jenen Staaten<lb/> gegenüberstand, -die sich vom T-erritorialstaat zum Nationalstaat -entwickelt hatten.<lb/> In diesem Zwiespalt zwischen den historischen Entwicklu-ngsnotwendigkeiten und<lb/> den in Osterreich bestehenden territorialen Verhältnissen lag für jeden Ausländer<lb/> d-i-e Schwierigkeit, die österreichischen Verhältnisse zu verstehen und zu werten.<lb/> Territorialstaaten wie Rußland oder die Türkei suchten wenigstens der Staaten¬<lb/> tendenz der Gegenwart, dem Streben nach dem Nationalstaate, gerecht zu werden,<lb/> Rußland, indem es die pansl-awistische Idee übernahm, die Türkei, indem sie in<lb/> der Religion ein einheitliches Band zu finden hoffte. Abgesehen von den<lb/> Schwankungen, die die Idee des Tri-alismus zeitweilig in Österreichs Politik<lb/> hervorrief, stand im Mittelpunkt des gesamten österreichischen offiziellen<lb/> politischen Denkens -die Dynastie bei vollständiger Verkennung ethnopolitischer<lb/> Ziele und Triebkräfte. Um die Dynastie sollten sich die Völker scharen, und wo<lb/> dies nicht geschah, suchte man -durch Entgegenkommen, durch Ausspielen anderer<lb/> Nationen die Dynastie selbst vor jeder Erschütterung zu 'bewahren. Während<lb/> man von Seite -des Staates die Dynastie als einzige Lösung der österreichischen<lb/> Fragen im Staatsleben und in der Schule betonte, drängte die Kraft der Idee die<lb/> Völker immer stärker zur nationalen Staatsbildung und fand eine Kräftigung' in<lb/> der Verwirklichung dieser Idee des Nationalstaates bei den Nachbarstaaten. Nach<lb/> der Selbständigkeit Ungarns machten sich diese zentrifugalen Bewegungen in<lb/> Österreich um so stärker geltend, -als die Geschichte Ungarns die Möglichkeit einer<lb/> Verwirklichung zeigte. Dazu trat noch das Schwanken -der Dynastie unter<lb/> Franz Josef I. zwischen feudalistischer und z-entralistischer Regierungsform,<lb/> wodurch schließlich die einzigen Träger des Ähnastischen Einheitsgeda-nkens, die<lb/> Armee und der Beamtcnstan-d die feste bindende Kraft «verloren,' die die Vor¬<lb/> bedingungen eines gesunden Staatslebe-us sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_432" next="#ID_433"> Dadurch unterschied sich Osterreich von Ungarn, daß dieses mit Gewalt<lb/> <unen Nationalstaat schassen wollte, indem es im vorhinein seinen Nationalitäten<lb/> die Möglichkeit eines kulturellen und politischen Lebens nahm, während jenes<lb/> infolge seiner selbständigen Landtage dazu nicht die Macht hatte und alles von</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Die kulturelle Bedeutung Wiens
Ein kurz'er Rückblick auf die geschichtlichen Vorgänge früherer Jahrhunderte
wird es klar machen, daß Wien Grenzstadt w-ar, lacht bloß in wirtschaftlicher
Hinsicht als Vermittlerin des Warenaustausches zwischen Westen und Osten,
sondern Grenzstadt gegen jene Faktoren und Völker des Ostens, die die Kultur
des Westens zu bedrohen schiene«. Gegen Madjaren und Türken war sie Grenz¬
stadt, ein der diese Mächte zerschellten. Aber auch gegen den Norden war sie ein
Grvnzbollwerk gegen die imperialistischen Bestrebungen Odo-ak-ers von Böhmen,
die er im Kampfe gegen Wien und die Alpenländer zu verwirklichen suchte. Wien
schützte damals die Alpenländer gegen den Norden. Als Rückenschutz ermöglichte
es aber -auch die Ausbreitung des Deutschtums nach dem Süden und war
Ausgangspunkt jener -groß angelegten deutschen Kolonisativnstätigkeit in Ungarn,
Slawonien, Bukowina und Galiz:-en, die Josef II. einen Ersatz für das verlorene
Schlesien an deutschen Ländern bringen sollte. Seur für die Ausbreitung des
Deutschtums in den Sudetenländern hatte Wien keine Bedeutung. Leider gewann
aber die Stadt infolge der kulturellen Passivität seiner Bewohner und der
Teilnahmslosigke-it der Habsburger keinen dauernden Einfluß -auf die
Nationen; nicht einmal in Galizien und Ungarn konnte der Einfluß von Paris
aufgehoben werden. Über die Grenzen der Monarchie selbst drang Wien niemals.
Grenzstadt nach Osten ist die Stadt endlich wiederum.geworden seit der Ver¬
wirklichung der Unabhäidgigbeitsbestrebungen Ungarns, wo sich das Madjaren¬
reich unter der klugen politischen Führung eines DcZk und Andrassy freigemacht
holte von dem Westen der Monarchie.
Während -andere Hauptstädte nach und nach die wirtschaftlichen und
geistigen Kräfte des Landes in sich vereinigten und rückwirkend neue Kräfte
weckten und bande«, hat Wien nie die Kraft dazu aufgebracht. Freilich dürfen
wir nicht vergessen, daß Österreich aus den Tagen des 'Mittel-älterlichen
Territorialstaates unverändert in die Zeit der Nationalstaaten übergegangen ist
und mit seinen vielen. Völkerschaften stets als -ein Schuldner jenen Staaten
gegenüberstand, -die sich vom T-erritorialstaat zum Nationalstaat -entwickelt hatten.
In diesem Zwiespalt zwischen den historischen Entwicklu-ngsnotwendigkeiten und
den in Osterreich bestehenden territorialen Verhältnissen lag für jeden Ausländer
d-i-e Schwierigkeit, die österreichischen Verhältnisse zu verstehen und zu werten.
Territorialstaaten wie Rußland oder die Türkei suchten wenigstens der Staaten¬
tendenz der Gegenwart, dem Streben nach dem Nationalstaate, gerecht zu werden,
Rußland, indem es die pansl-awistische Idee übernahm, die Türkei, indem sie in
der Religion ein einheitliches Band zu finden hoffte. Abgesehen von den
Schwankungen, die die Idee des Tri-alismus zeitweilig in Österreichs Politik
hervorrief, stand im Mittelpunkt des gesamten österreichischen offiziellen
politischen Denkens -die Dynastie bei vollständiger Verkennung ethnopolitischer
Ziele und Triebkräfte. Um die Dynastie sollten sich die Völker scharen, und wo
dies nicht geschah, suchte man -durch Entgegenkommen, durch Ausspielen anderer
Nationen die Dynastie selbst vor jeder Erschütterung zu 'bewahren. Während
man von Seite -des Staates die Dynastie als einzige Lösung der österreichischen
Fragen im Staatsleben und in der Schule betonte, drängte die Kraft der Idee die
Völker immer stärker zur nationalen Staatsbildung und fand eine Kräftigung' in
der Verwirklichung dieser Idee des Nationalstaates bei den Nachbarstaaten. Nach
der Selbständigkeit Ungarns machten sich diese zentrifugalen Bewegungen in
Österreich um so stärker geltend, -als die Geschichte Ungarns die Möglichkeit einer
Verwirklichung zeigte. Dazu trat noch das Schwanken -der Dynastie unter
Franz Josef I. zwischen feudalistischer und z-entralistischer Regierungsform,
wodurch schließlich die einzigen Träger des Ähnastischen Einheitsgeda-nkens, die
Armee und der Beamtcnstan-d die feste bindende Kraft «verloren,' die die Vor¬
bedingungen eines gesunden Staatslebe-us sind.
Dadurch unterschied sich Osterreich von Ungarn, daß dieses mit Gewalt
<unen Nationalstaat schassen wollte, indem es im vorhinein seinen Nationalitäten
die Möglichkeit eines kulturellen und politischen Lebens nahm, während jenes
infolge seiner selbständigen Landtage dazu nicht die Macht hatte und alles von
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