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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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rot NUN einmal nicht, eine andere sieht mit blauer Verzierung scheußlich aus. Dazu
kommt, daß die Farben mit der Mode wechseln. Ich bin an schwierige Aufgaben
gewöhnt, freue mich aber, daß ich diese nicht zu lösen habe. Ich könnte keine Nacht
mehr schlafen. Stets würde mir im Traum eine händeringende Dame erscheinen,
mit einem Orden, der nicht zu ihrem Teint paßt. Da wir nun doch einmal bei
den ernsten Fragen sind: Hätten Sie für möglich gehalten, daß aus der himmel¬
hohen Leiter unserer Titel wirklich noch ein paar Stufen gefehlt haben? Die
Architekten Habens entdeckt, und die Wochenschrift de" Berliner Architektenvereins
verlangt, daß, noch ehe der Weltkrieg zu Ende ist, aus den freien Architekten
"Privatbauräte' und später, nach dem ersten Schlaganfall, "Geheime Privatbauräte"
werden können. Als ich das las, habe ich aufgeatmet, wie man ausatmet, wenn
das Butterpaket richtig angekommen ist. Die ganze Zeit her war mir's, als fehlte
irgendwo im deutschen Reiche etwas. ES war so leer, noch immer hießen zahllose
Menschen Herr Meier oder Herr Lehmann, noch immer hatte unser Leben etwa?
anarchisch Ungezwungenes dadurch, daß man in Gefahr war, bessergekleideten Herren
zu begegnen, die nicht Geheimräte sind. Jetzt habe ich die Beruhigung, daß der
Herr, der mir die Villa bauen wird, zu der mir nur noch das Geld fehlt, ein
Geheimrat sein wird. Aber -- ist nun auch wirklich die letzte Lücke gefüllt? Man
besinne sich! Man lasse nicht noch mehr kostbare Zeit verstreichen! Man eile!
"Weh, daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind' ich nun"! rufe ich
mit Faust aus, der selbst nicht Geheimrat, aber doch von einem Geheimrat gedichtet
war, und spreche die furchtbare Vermutung, die an Gewißheit grenzende Vermutung
aus, daß hier noch manches zu tun ist. Man tue es, ehe es zu spät ist und Ver¬
zweiflung den Geist so manches tüchtigen, akademisch gebildeten Mitbürgers um"
machtet, der sich und seine Berufsgenossen noch immer ausgeschlossen sieht vom Kreise
der Räte und Geheimen Räte. Man verfalle nicht auf die banale Ausrede, jetzt
sei wichtigeres zu tun!

Nicht einmal eine Behörde kann entscheiden, was im Leben wichtig ist und
was nicht. Wie wäre das Leben tödlich eintönig, wie wäre es unmöglich, durch¬
zuhalten, wenn darüber Klarheit herrschte und nach dieser Klarheit gehandelt würde!
Wir gingen jetzt gewissermaßen auf den Zehen umher und sprächen nur im Pathos
der Erschütterung immer von der gleichen Sache, die doch nur Handeln erfordert.
Wir wären so vernünftig, daß wir nicht mehr versuchten, aus den täglich geringer
werdenden Vorräten von Genußmitteln unser winziges Anteilchen sündteuer zu
erraffen, um schweren Stunden Schwingen zu leihen. Niemand knöpfte ein Bändchen
ins Knopfloch und niemand neidete einem andern den Stern auf dem Frackaufschlag.
Es säßen nicht Abend für Abend Hunderttausende und Aberhunderttausende vor
der weißen Fläche und sähen einen eleganten Herrn in einem Arbeitszimmer, wie
es nicht einmal Generaldirektoren von Kriegslieferungsunternehmen bewohnen, mit
der Grazie des Meisterdetektivs das Rätsel der Fußspur im Sande des Wannsee-
ufers lösen. Es lauschten nicht die übrigen Hunderttausende dem in Dreivierteltakt
zerlegten süßen Blödsinn der neuesten Operette. Es füllten nicht andere Hundert¬
tausende die Kaffees, um Torte aus Eichenloheersatz zu essen und Kaffee aus schwarz¬
gefärbtem Waschwasser zu trinken, die Weinrestaurants, um den Einemarkfünfzig-
wein von vor vier Jahren mit fünfzehn Mark zu bezahlen und doch fröhlich zu
sein. Es lasen nicht Millionen gewissenhaft und gläubig die Zeitungen, geschrieben
von Leuten, die nicht mehr wissen und ebensowenig in die Zukunft sehen können,
als die Leser, sondern die nur den schönen Mut haben, zu tun, als ob sie wissend,
nein, allwissend wären. Wir täten das alles nicht und noch viel mehr nicht, wir
lebten äußerlich, wie es der Bundesrat und das Kriegsernährungsamt vorschreiben,
innerlich, wie es der Geist der Zeit gebietet und wären mangels der tröstenden
Torheiten und Eitelkeiten und mangels der Vorschriften übertretenden -- sagen wir,
moralischen Abhärtung, nicht im entferntesten imstande, so prachtvoll durchzuhalten,
wie jetzt. Das ist die Wichtigkeit des Unwichtigen, der Sinn des Unsinns, der
Ernst der Torheit. Und das ist der Stoff zu hoffentlich noch mancher kleinen
Ihre" Ne"" Betrachtung




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rot NUN einmal nicht, eine andere sieht mit blauer Verzierung scheußlich aus. Dazu
kommt, daß die Farben mit der Mode wechseln. Ich bin an schwierige Aufgaben
gewöhnt, freue mich aber, daß ich diese nicht zu lösen habe. Ich könnte keine Nacht
mehr schlafen. Stets würde mir im Traum eine händeringende Dame erscheinen,
mit einem Orden, der nicht zu ihrem Teint paßt. Da wir nun doch einmal bei
den ernsten Fragen sind: Hätten Sie für möglich gehalten, daß aus der himmel¬
hohen Leiter unserer Titel wirklich noch ein paar Stufen gefehlt haben? Die
Architekten Habens entdeckt, und die Wochenschrift de» Berliner Architektenvereins
verlangt, daß, noch ehe der Weltkrieg zu Ende ist, aus den freien Architekten
„Privatbauräte' und später, nach dem ersten Schlaganfall, „Geheime Privatbauräte"
werden können. Als ich das las, habe ich aufgeatmet, wie man ausatmet, wenn
das Butterpaket richtig angekommen ist. Die ganze Zeit her war mir's, als fehlte
irgendwo im deutschen Reiche etwas. ES war so leer, noch immer hießen zahllose
Menschen Herr Meier oder Herr Lehmann, noch immer hatte unser Leben etwa?
anarchisch Ungezwungenes dadurch, daß man in Gefahr war, bessergekleideten Herren
zu begegnen, die nicht Geheimräte sind. Jetzt habe ich die Beruhigung, daß der
Herr, der mir die Villa bauen wird, zu der mir nur noch das Geld fehlt, ein
Geheimrat sein wird. Aber — ist nun auch wirklich die letzte Lücke gefüllt? Man
besinne sich! Man lasse nicht noch mehr kostbare Zeit verstreichen! Man eile!
„Weh, daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind' ich nun"! rufe ich
mit Faust aus, der selbst nicht Geheimrat, aber doch von einem Geheimrat gedichtet
war, und spreche die furchtbare Vermutung, die an Gewißheit grenzende Vermutung
aus, daß hier noch manches zu tun ist. Man tue es, ehe es zu spät ist und Ver¬
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machtet, der sich und seine Berufsgenossen noch immer ausgeschlossen sieht vom Kreise
der Räte und Geheimen Räte. Man verfalle nicht auf die banale Ausrede, jetzt
sei wichtigeres zu tun!

Nicht einmal eine Behörde kann entscheiden, was im Leben wichtig ist und
was nicht. Wie wäre das Leben tödlich eintönig, wie wäre es unmöglich, durch¬
zuhalten, wenn darüber Klarheit herrschte und nach dieser Klarheit gehandelt würde!
Wir gingen jetzt gewissermaßen auf den Zehen umher und sprächen nur im Pathos
der Erschütterung immer von der gleichen Sache, die doch nur Handeln erfordert.
Wir wären so vernünftig, daß wir nicht mehr versuchten, aus den täglich geringer
werdenden Vorräten von Genußmitteln unser winziges Anteilchen sündteuer zu
erraffen, um schweren Stunden Schwingen zu leihen. Niemand knöpfte ein Bändchen
ins Knopfloch und niemand neidete einem andern den Stern auf dem Frackaufschlag.
Es säßen nicht Abend für Abend Hunderttausende und Aberhunderttausende vor
der weißen Fläche und sähen einen eleganten Herrn in einem Arbeitszimmer, wie
es nicht einmal Generaldirektoren von Kriegslieferungsunternehmen bewohnen, mit
der Grazie des Meisterdetektivs das Rätsel der Fußspur im Sande des Wannsee-
ufers lösen. Es lauschten nicht die übrigen Hunderttausende dem in Dreivierteltakt
zerlegten süßen Blödsinn der neuesten Operette. Es füllten nicht andere Hundert¬
tausende die Kaffees, um Torte aus Eichenloheersatz zu essen und Kaffee aus schwarz¬
gefärbtem Waschwasser zu trinken, die Weinrestaurants, um den Einemarkfünfzig-
wein von vor vier Jahren mit fünfzehn Mark zu bezahlen und doch fröhlich zu
sein. Es lasen nicht Millionen gewissenhaft und gläubig die Zeitungen, geschrieben
von Leuten, die nicht mehr wissen und ebensowenig in die Zukunft sehen können,
als die Leser, sondern die nur den schönen Mut haben, zu tun, als ob sie wissend,
nein, allwissend wären. Wir täten das alles nicht und noch viel mehr nicht, wir
lebten äußerlich, wie es der Bundesrat und das Kriegsernährungsamt vorschreiben,
innerlich, wie es der Geist der Zeit gebietet und wären mangels der tröstenden
Torheiten und Eitelkeiten und mangels der Vorschriften übertretenden — sagen wir,
moralischen Abhärtung, nicht im entferntesten imstande, so prachtvoll durchzuhalten,
wie jetzt. Das ist die Wichtigkeit des Unwichtigen, der Sinn des Unsinns, der
Ernst der Torheit. Und das ist der Stoff zu hoffentlich noch mancher kleinen
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[0040] Randglossen zum Tage rot NUN einmal nicht, eine andere sieht mit blauer Verzierung scheußlich aus. Dazu kommt, daß die Farben mit der Mode wechseln. Ich bin an schwierige Aufgaben gewöhnt, freue mich aber, daß ich diese nicht zu lösen habe. Ich könnte keine Nacht mehr schlafen. Stets würde mir im Traum eine händeringende Dame erscheinen, mit einem Orden, der nicht zu ihrem Teint paßt. Da wir nun doch einmal bei den ernsten Fragen sind: Hätten Sie für möglich gehalten, daß aus der himmel¬ hohen Leiter unserer Titel wirklich noch ein paar Stufen gefehlt haben? Die Architekten Habens entdeckt, und die Wochenschrift de» Berliner Architektenvereins verlangt, daß, noch ehe der Weltkrieg zu Ende ist, aus den freien Architekten „Privatbauräte' und später, nach dem ersten Schlaganfall, „Geheime Privatbauräte" werden können. Als ich das las, habe ich aufgeatmet, wie man ausatmet, wenn das Butterpaket richtig angekommen ist. Die ganze Zeit her war mir's, als fehlte irgendwo im deutschen Reiche etwas. ES war so leer, noch immer hießen zahllose Menschen Herr Meier oder Herr Lehmann, noch immer hatte unser Leben etwa? anarchisch Ungezwungenes dadurch, daß man in Gefahr war, bessergekleideten Herren zu begegnen, die nicht Geheimräte sind. Jetzt habe ich die Beruhigung, daß der Herr, der mir die Villa bauen wird, zu der mir nur noch das Geld fehlt, ein Geheimrat sein wird. Aber — ist nun auch wirklich die letzte Lücke gefüllt? Man besinne sich! Man lasse nicht noch mehr kostbare Zeit verstreichen! Man eile! „Weh, daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind' ich nun"! rufe ich mit Faust aus, der selbst nicht Geheimrat, aber doch von einem Geheimrat gedichtet war, und spreche die furchtbare Vermutung, die an Gewißheit grenzende Vermutung aus, daß hier noch manches zu tun ist. Man tue es, ehe es zu spät ist und Ver¬ zweiflung den Geist so manches tüchtigen, akademisch gebildeten Mitbürgers um» machtet, der sich und seine Berufsgenossen noch immer ausgeschlossen sieht vom Kreise der Räte und Geheimen Räte. Man verfalle nicht auf die banale Ausrede, jetzt sei wichtigeres zu tun! Nicht einmal eine Behörde kann entscheiden, was im Leben wichtig ist und was nicht. Wie wäre das Leben tödlich eintönig, wie wäre es unmöglich, durch¬ zuhalten, wenn darüber Klarheit herrschte und nach dieser Klarheit gehandelt würde! Wir gingen jetzt gewissermaßen auf den Zehen umher und sprächen nur im Pathos der Erschütterung immer von der gleichen Sache, die doch nur Handeln erfordert. Wir wären so vernünftig, daß wir nicht mehr versuchten, aus den täglich geringer werdenden Vorräten von Genußmitteln unser winziges Anteilchen sündteuer zu erraffen, um schweren Stunden Schwingen zu leihen. Niemand knöpfte ein Bändchen ins Knopfloch und niemand neidete einem andern den Stern auf dem Frackaufschlag. Es säßen nicht Abend für Abend Hunderttausende und Aberhunderttausende vor der weißen Fläche und sähen einen eleganten Herrn in einem Arbeitszimmer, wie es nicht einmal Generaldirektoren von Kriegslieferungsunternehmen bewohnen, mit der Grazie des Meisterdetektivs das Rätsel der Fußspur im Sande des Wannsee- ufers lösen. Es lauschten nicht die übrigen Hunderttausende dem in Dreivierteltakt zerlegten süßen Blödsinn der neuesten Operette. Es füllten nicht andere Hundert¬ tausende die Kaffees, um Torte aus Eichenloheersatz zu essen und Kaffee aus schwarz¬ gefärbtem Waschwasser zu trinken, die Weinrestaurants, um den Einemarkfünfzig- wein von vor vier Jahren mit fünfzehn Mark zu bezahlen und doch fröhlich zu sein. Es lasen nicht Millionen gewissenhaft und gläubig die Zeitungen, geschrieben von Leuten, die nicht mehr wissen und ebensowenig in die Zukunft sehen können, als die Leser, sondern die nur den schönen Mut haben, zu tun, als ob sie wissend, nein, allwissend wären. Wir täten das alles nicht und noch viel mehr nicht, wir lebten äußerlich, wie es der Bundesrat und das Kriegsernährungsamt vorschreiben, innerlich, wie es der Geist der Zeit gebietet und wären mangels der tröstenden Torheiten und Eitelkeiten und mangels der Vorschriften übertretenden — sagen wir, moralischen Abhärtung, nicht im entferntesten imstande, so prachtvoll durchzuhalten, wie jetzt. Das ist die Wichtigkeit des Unwichtigen, der Sinn des Unsinns, der Ernst der Torheit. Und das ist der Stoff zu hoffentlich noch mancher kleinen Ihre» Ne«» Betrachtung

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/40>, abgerufen am 22.07.2024.