Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

grundsätzlichen Verbotes der Ko>edukation in Preußen zu begrüßen. Aus den
Richtlinien geht nicht mit Deutlichkeit hervor, wie weit' sich das Kultus-
min.jier um bedingungslos auf den Boden dieses Prinzipes stellt.

Recht fragwürdig erscheint auch die Gewährung des Selbstverwaltungs-
rechts an Lehrer und Schüler. Daß gewisse Gepflogenheiten des alten Polizei¬
staates, zum Beispiel die regelmäßigen geheimen Berichte des Schulleiters über
die Lehrerschaft, in die diese keinen Einblick verlangen darf, im neuen Deutsch¬
land abgeschafft werden müssen, das ist natürlich keine Frage. Überhaupt muß
das Vorgesetztenverhältnis zwischen Direktor und Lehrkörper und ebenso zwischen
Lehrer und Schülern aller Atavismen aus den Kafernenhofüberlieferungen ent¬
kleidet werden, wozu eine gewisse Selbstverwaltung der Lehrer und Schüler das
Ihrige beitragen mag. Wer aber die zersetzende Wirkung revolutionärer Ideen
auf Zucht und Geist, auf Frische und Gesundheit der Jugend vom Augenschein
aus Nußland kennt, wird mit schweren Bedenken dem Experiment gegenüber¬
stehen, allzu offenkundig den Grundsatz der Autorität und des gesunden Zwanges
aus den Schulen zu entfernen und im kurzen Abstand von zwei Wochen Ausein¬
andersetzungen zwischen Lehrer- und Schülerschaft in den sog. Schulgemeinden
einzuführen, die an den Takt auf beiden Seiten fast übergroße Anforderungen
stellen und das gegenseitige Verhältnis unnötig einer überaus schweren
Belastungsprobe aussetzend) Wichtig ist, daß den Schülern der höheren
Klassen -- jedoch allerfrühestens von Unter-, besser Wohl erst von Obersekunda
an -- eine deutlich erkennbare Sonderst eilung im Schulorganismus eingeräumt
würde, während sie bisher die Schulordnung mit den jüngsten Nonanern über
einen Kamm schert. Das Verbot des Rauchers oder des Wirtshausbesuches, die
Behinderung im Vereinsleben bei vielfach erwachsenen Menschen ist eine Zurück¬
setzung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor gleichalterigen Proletariern,
die längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Selbstjustiz der Schüler spielt
bereits gerade in den "reaktionären" Kadettenanstalten eine große Rolle. Daß
der Korpsgeist der Schüler gesteigert werden sollte, ist gerne zuzugeben, nur
sind die dafür in Aussicht genommenen Einrichtungen allzu mechanisch den
Mustern anderer Lebensgebiete nachgebildet, und die Rückführung des Ver¬
trauens- auf ein allzu nacktes Rechtsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern
ist eine höchst bedenkliche, gemeinschaftszersetzende Nebenerscheinung der geplanten
Neuerung.

Die offizielle Verbannung des Chauvinismus aus dem Geschichtsunter¬
richt steht psychologisch ungefähr auf demselben, ein wenig primitiven Stand¬
punkt, der früher eine gewisse patriotische Gesinnung offiziell "verlangte". Die
Übergänge von vaterländischen Stolz bis zur nationalistischen Selbstüberhebung,
vom nationalen Heroenkult zum hurrapotriotischen Götzendienst in der Geschichte
sind bekanntlich fließend. Und so "venig ein Lehrer sich eine bestimmte Gesinnung
auf einen Erlaß des Kultusministeriums hin eintrichtern lassen kann, ohne einer
widerlichen Heuchelei zu verfallen, so wenig vermag ein solcher zu verhindern,
daß menschliche Beschränktheit und geistige Unzulänglichkeit die Milch der
regierungsfrommen Denkart in altdeutsch gä-hrend Drachengift verwandeln. Ich
nehme nicht an, daß mit der Verbannung des Chauvinismus aus den Lehr¬
büchern -unsern Kindern auch die Liebe und Verehrung zu den Großen unserer
Geschichte, den Gekrönten wie Friedrich dem Großen und Kaiser Wilhelm dem



Sehe ich recht, so ist hier der Einfluß Gustav Wyuekens am Werk, eines
pädagogischen Wirrkopfes und hemmungslosen Radikaliften, dessen Zuziehung zu den
erzieherischen Rejormen als ein höchst bedauerlicher Mißgriff bezeichnet werden muß.
Scheinbar revolutionär, ist er im Grunde kein reaktionärer Aufklärer, der den Aktivis¬
mus unserer Zeit maßlos übertreibt. Seine Bildungsphilosoph le ist aufklärerisch ver¬
flachter Hegelianismus. Vgl. dazu meine Schrift "Der Sinn der humanistischen
Bildung" (Berlin 1A0), die sich auch mit Wyneken und den andern "Aktivisten" um
Kurt Hiller auseinandersetzt, einer Gruppe, die als "Rat geistiger Arbeiter" ihre ganze
Hohlheit und ihr unfruchtbares Literatentnm erst kürzlich wieder offenbart hat.

grundsätzlichen Verbotes der Ko>edukation in Preußen zu begrüßen. Aus den
Richtlinien geht nicht mit Deutlichkeit hervor, wie weit' sich das Kultus-
min.jier um bedingungslos auf den Boden dieses Prinzipes stellt.

Recht fragwürdig erscheint auch die Gewährung des Selbstverwaltungs-
rechts an Lehrer und Schüler. Daß gewisse Gepflogenheiten des alten Polizei¬
staates, zum Beispiel die regelmäßigen geheimen Berichte des Schulleiters über
die Lehrerschaft, in die diese keinen Einblick verlangen darf, im neuen Deutsch¬
land abgeschafft werden müssen, das ist natürlich keine Frage. Überhaupt muß
das Vorgesetztenverhältnis zwischen Direktor und Lehrkörper und ebenso zwischen
Lehrer und Schülern aller Atavismen aus den Kafernenhofüberlieferungen ent¬
kleidet werden, wozu eine gewisse Selbstverwaltung der Lehrer und Schüler das
Ihrige beitragen mag. Wer aber die zersetzende Wirkung revolutionärer Ideen
auf Zucht und Geist, auf Frische und Gesundheit der Jugend vom Augenschein
aus Nußland kennt, wird mit schweren Bedenken dem Experiment gegenüber¬
stehen, allzu offenkundig den Grundsatz der Autorität und des gesunden Zwanges
aus den Schulen zu entfernen und im kurzen Abstand von zwei Wochen Ausein¬
andersetzungen zwischen Lehrer- und Schülerschaft in den sog. Schulgemeinden
einzuführen, die an den Takt auf beiden Seiten fast übergroße Anforderungen
stellen und das gegenseitige Verhältnis unnötig einer überaus schweren
Belastungsprobe aussetzend) Wichtig ist, daß den Schülern der höheren
Klassen — jedoch allerfrühestens von Unter-, besser Wohl erst von Obersekunda
an — eine deutlich erkennbare Sonderst eilung im Schulorganismus eingeräumt
würde, während sie bisher die Schulordnung mit den jüngsten Nonanern über
einen Kamm schert. Das Verbot des Rauchers oder des Wirtshausbesuches, die
Behinderung im Vereinsleben bei vielfach erwachsenen Menschen ist eine Zurück¬
setzung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor gleichalterigen Proletariern,
die längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Selbstjustiz der Schüler spielt
bereits gerade in den „reaktionären" Kadettenanstalten eine große Rolle. Daß
der Korpsgeist der Schüler gesteigert werden sollte, ist gerne zuzugeben, nur
sind die dafür in Aussicht genommenen Einrichtungen allzu mechanisch den
Mustern anderer Lebensgebiete nachgebildet, und die Rückführung des Ver¬
trauens- auf ein allzu nacktes Rechtsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern
ist eine höchst bedenkliche, gemeinschaftszersetzende Nebenerscheinung der geplanten
Neuerung.

Die offizielle Verbannung des Chauvinismus aus dem Geschichtsunter¬
richt steht psychologisch ungefähr auf demselben, ein wenig primitiven Stand¬
punkt, der früher eine gewisse patriotische Gesinnung offiziell „verlangte". Die
Übergänge von vaterländischen Stolz bis zur nationalistischen Selbstüberhebung,
vom nationalen Heroenkult zum hurrapotriotischen Götzendienst in der Geschichte
sind bekanntlich fließend. Und so »venig ein Lehrer sich eine bestimmte Gesinnung
auf einen Erlaß des Kultusministeriums hin eintrichtern lassen kann, ohne einer
widerlichen Heuchelei zu verfallen, so wenig vermag ein solcher zu verhindern,
daß menschliche Beschränktheit und geistige Unzulänglichkeit die Milch der
regierungsfrommen Denkart in altdeutsch gä-hrend Drachengift verwandeln. Ich
nehme nicht an, daß mit der Verbannung des Chauvinismus aus den Lehr¬
büchern -unsern Kindern auch die Liebe und Verehrung zu den Großen unserer
Geschichte, den Gekrönten wie Friedrich dem Großen und Kaiser Wilhelm dem



Sehe ich recht, so ist hier der Einfluß Gustav Wyuekens am Werk, eines
pädagogischen Wirrkopfes und hemmungslosen Radikaliften, dessen Zuziehung zu den
erzieherischen Rejormen als ein höchst bedauerlicher Mißgriff bezeichnet werden muß.
Scheinbar revolutionär, ist er im Grunde kein reaktionärer Aufklärer, der den Aktivis¬
mus unserer Zeit maßlos übertreibt. Seine Bildungsphilosoph le ist aufklärerisch ver¬
flachter Hegelianismus. Vgl. dazu meine Schrift „Der Sinn der humanistischen
Bildung" (Berlin 1A0), die sich auch mit Wyneken und den andern „Aktivisten" um
Kurt Hiller auseinandersetzt, einer Gruppe, die als „Rat geistiger Arbeiter" ihre ganze
Hohlheit und ihr unfruchtbares Literatentnm erst kürzlich wieder offenbart hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88511"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1168" prev="#ID_1167"> grundsätzlichen Verbotes der Ko&gt;edukation in Preußen zu begrüßen. Aus den<lb/>
Richtlinien geht nicht mit Deutlichkeit hervor, wie weit' sich das Kultus-<lb/>
min.jier um bedingungslos auf den Boden dieses Prinzipes stellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1169"> Recht fragwürdig erscheint auch die Gewährung des Selbstverwaltungs-<lb/>
rechts an Lehrer und Schüler. Daß gewisse Gepflogenheiten des alten Polizei¬<lb/>
staates, zum Beispiel die regelmäßigen geheimen Berichte des Schulleiters über<lb/>
die Lehrerschaft, in die diese keinen Einblick verlangen darf, im neuen Deutsch¬<lb/>
land abgeschafft werden müssen, das ist natürlich keine Frage. Überhaupt muß<lb/>
das Vorgesetztenverhältnis zwischen Direktor und Lehrkörper und ebenso zwischen<lb/>
Lehrer und Schülern aller Atavismen aus den Kafernenhofüberlieferungen ent¬<lb/>
kleidet werden, wozu eine gewisse Selbstverwaltung der Lehrer und Schüler das<lb/>
Ihrige beitragen mag. Wer aber die zersetzende Wirkung revolutionärer Ideen<lb/>
auf Zucht und Geist, auf Frische und Gesundheit der Jugend vom Augenschein<lb/>
aus Nußland kennt, wird mit schweren Bedenken dem Experiment gegenüber¬<lb/>
stehen, allzu offenkundig den Grundsatz der Autorität und des gesunden Zwanges<lb/>
aus den Schulen zu entfernen und im kurzen Abstand von zwei Wochen Ausein¬<lb/>
andersetzungen zwischen Lehrer- und Schülerschaft in den sog. Schulgemeinden<lb/>
einzuführen, die an den Takt auf beiden Seiten fast übergroße Anforderungen<lb/>
stellen und das gegenseitige Verhältnis unnötig einer überaus schweren<lb/>
Belastungsprobe aussetzend) Wichtig ist, daß den Schülern der höheren<lb/>
Klassen &#x2014; jedoch allerfrühestens von Unter-, besser Wohl erst von Obersekunda<lb/>
an &#x2014; eine deutlich erkennbare Sonderst eilung im Schulorganismus eingeräumt<lb/>
würde, während sie bisher die Schulordnung mit den jüngsten Nonanern über<lb/>
einen Kamm schert. Das Verbot des Rauchers oder des Wirtshausbesuches, die<lb/>
Behinderung im Vereinsleben bei vielfach erwachsenen Menschen ist eine Zurück¬<lb/>
setzung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor gleichalterigen Proletariern,<lb/>
die längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Selbstjustiz der Schüler spielt<lb/>
bereits gerade in den &#x201E;reaktionären" Kadettenanstalten eine große Rolle. Daß<lb/>
der Korpsgeist der Schüler gesteigert werden sollte, ist gerne zuzugeben, nur<lb/>
sind die dafür in Aussicht genommenen Einrichtungen allzu mechanisch den<lb/>
Mustern anderer Lebensgebiete nachgebildet, und die Rückführung des Ver¬<lb/>
trauens- auf ein allzu nacktes Rechtsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern<lb/>
ist eine höchst bedenkliche, gemeinschaftszersetzende Nebenerscheinung der geplanten<lb/>
Neuerung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1170" next="#ID_1171"> Die offizielle Verbannung des Chauvinismus aus dem Geschichtsunter¬<lb/>
richt steht psychologisch ungefähr auf demselben, ein wenig primitiven Stand¬<lb/>
punkt, der früher eine gewisse patriotische Gesinnung offiziell &#x201E;verlangte". Die<lb/>
Übergänge von vaterländischen Stolz bis zur nationalistischen Selbstüberhebung,<lb/>
vom nationalen Heroenkult zum hurrapotriotischen Götzendienst in der Geschichte<lb/>
sind bekanntlich fließend. Und so »venig ein Lehrer sich eine bestimmte Gesinnung<lb/>
auf einen Erlaß des Kultusministeriums hin eintrichtern lassen kann, ohne einer<lb/>
widerlichen Heuchelei zu verfallen, so wenig vermag ein solcher zu verhindern,<lb/>
daß menschliche Beschränktheit und geistige Unzulänglichkeit die Milch der<lb/>
regierungsfrommen Denkart in altdeutsch gä-hrend Drachengift verwandeln. Ich<lb/>
nehme nicht an, daß mit der Verbannung des Chauvinismus aus den Lehr¬<lb/>
büchern -unsern Kindern auch die Liebe und Verehrung zu den Großen unserer<lb/>
Geschichte, den Gekrönten wie Friedrich dem Großen und Kaiser Wilhelm dem</p><lb/>
          <note xml:id="FID_66" place="foot"> Sehe ich recht, so ist hier der Einfluß Gustav Wyuekens am Werk, eines<lb/>
pädagogischen Wirrkopfes und hemmungslosen Radikaliften, dessen Zuziehung zu den<lb/>
erzieherischen Rejormen als ein höchst bedauerlicher Mißgriff bezeichnet werden muß.<lb/>
Scheinbar revolutionär, ist er im Grunde kein reaktionärer Aufklärer, der den Aktivis¬<lb/>
mus unserer Zeit maßlos übertreibt. Seine Bildungsphilosoph le ist aufklärerisch ver¬<lb/>
flachter Hegelianismus. Vgl. dazu meine Schrift &#x201E;Der Sinn der humanistischen<lb/>
Bildung" (Berlin 1A0), die sich auch mit Wyneken und den andern &#x201E;Aktivisten" um<lb/>
Kurt Hiller auseinandersetzt, einer Gruppe, die als &#x201E;Rat geistiger Arbeiter" ihre ganze<lb/>
Hohlheit und ihr unfruchtbares Literatentnm erst kürzlich wieder offenbart hat.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0272] grundsätzlichen Verbotes der Ko>edukation in Preußen zu begrüßen. Aus den Richtlinien geht nicht mit Deutlichkeit hervor, wie weit' sich das Kultus- min.jier um bedingungslos auf den Boden dieses Prinzipes stellt. Recht fragwürdig erscheint auch die Gewährung des Selbstverwaltungs- rechts an Lehrer und Schüler. Daß gewisse Gepflogenheiten des alten Polizei¬ staates, zum Beispiel die regelmäßigen geheimen Berichte des Schulleiters über die Lehrerschaft, in die diese keinen Einblick verlangen darf, im neuen Deutsch¬ land abgeschafft werden müssen, das ist natürlich keine Frage. Überhaupt muß das Vorgesetztenverhältnis zwischen Direktor und Lehrkörper und ebenso zwischen Lehrer und Schülern aller Atavismen aus den Kafernenhofüberlieferungen ent¬ kleidet werden, wozu eine gewisse Selbstverwaltung der Lehrer und Schüler das Ihrige beitragen mag. Wer aber die zersetzende Wirkung revolutionärer Ideen auf Zucht und Geist, auf Frische und Gesundheit der Jugend vom Augenschein aus Nußland kennt, wird mit schweren Bedenken dem Experiment gegenüber¬ stehen, allzu offenkundig den Grundsatz der Autorität und des gesunden Zwanges aus den Schulen zu entfernen und im kurzen Abstand von zwei Wochen Ausein¬ andersetzungen zwischen Lehrer- und Schülerschaft in den sog. Schulgemeinden einzuführen, die an den Takt auf beiden Seiten fast übergroße Anforderungen stellen und das gegenseitige Verhältnis unnötig einer überaus schweren Belastungsprobe aussetzend) Wichtig ist, daß den Schülern der höheren Klassen — jedoch allerfrühestens von Unter-, besser Wohl erst von Obersekunda an — eine deutlich erkennbare Sonderst eilung im Schulorganismus eingeräumt würde, während sie bisher die Schulordnung mit den jüngsten Nonanern über einen Kamm schert. Das Verbot des Rauchers oder des Wirtshausbesuches, die Behinderung im Vereinsleben bei vielfach erwachsenen Menschen ist eine Zurück¬ setzung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor gleichalterigen Proletariern, die längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Selbstjustiz der Schüler spielt bereits gerade in den „reaktionären" Kadettenanstalten eine große Rolle. Daß der Korpsgeist der Schüler gesteigert werden sollte, ist gerne zuzugeben, nur sind die dafür in Aussicht genommenen Einrichtungen allzu mechanisch den Mustern anderer Lebensgebiete nachgebildet, und die Rückführung des Ver¬ trauens- auf ein allzu nacktes Rechtsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern ist eine höchst bedenkliche, gemeinschaftszersetzende Nebenerscheinung der geplanten Neuerung. Die offizielle Verbannung des Chauvinismus aus dem Geschichtsunter¬ richt steht psychologisch ungefähr auf demselben, ein wenig primitiven Stand¬ punkt, der früher eine gewisse patriotische Gesinnung offiziell „verlangte". Die Übergänge von vaterländischen Stolz bis zur nationalistischen Selbstüberhebung, vom nationalen Heroenkult zum hurrapotriotischen Götzendienst in der Geschichte sind bekanntlich fließend. Und so »venig ein Lehrer sich eine bestimmte Gesinnung auf einen Erlaß des Kultusministeriums hin eintrichtern lassen kann, ohne einer widerlichen Heuchelei zu verfallen, so wenig vermag ein solcher zu verhindern, daß menschliche Beschränktheit und geistige Unzulänglichkeit die Milch der regierungsfrommen Denkart in altdeutsch gä-hrend Drachengift verwandeln. Ich nehme nicht an, daß mit der Verbannung des Chauvinismus aus den Lehr¬ büchern -unsern Kindern auch die Liebe und Verehrung zu den Großen unserer Geschichte, den Gekrönten wie Friedrich dem Großen und Kaiser Wilhelm dem Sehe ich recht, so ist hier der Einfluß Gustav Wyuekens am Werk, eines pädagogischen Wirrkopfes und hemmungslosen Radikaliften, dessen Zuziehung zu den erzieherischen Rejormen als ein höchst bedauerlicher Mißgriff bezeichnet werden muß. Scheinbar revolutionär, ist er im Grunde kein reaktionärer Aufklärer, der den Aktivis¬ mus unserer Zeit maßlos übertreibt. Seine Bildungsphilosoph le ist aufklärerisch ver¬ flachter Hegelianismus. Vgl. dazu meine Schrift „Der Sinn der humanistischen Bildung" (Berlin 1A0), die sich auch mit Wyneken und den andern „Aktivisten" um Kurt Hiller auseinandersetzt, einer Gruppe, die als „Rat geistiger Arbeiter" ihre ganze Hohlheit und ihr unfruchtbares Literatentnm erst kürzlich wieder offenbart hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/272
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/272>, abgerufen am 23.07.2024.