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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Deutsck Österreich und seine Nachbarstaaten
Professor Dr. Robert Sieger von

! le Vermutungen über die weiteren Ereignisse in Deutschösterreich,
> die ich in meinem Aufsatz in den Grenzboten Ur. 47 ausgesprochen
habe (er wurde am 6. November abgeschickt), sind bisher in allem
Wesentlichen bestätigt worden. Die Republik ist glatt und ohne
jedes Hindernis ins Leben getreten; auch die Christlichsozialen als
"Partei haben sich lauf ihren Boden gestellt, obwohl ein Teil von
ihnen sie Wohl nur für die unmittelbare Gegenwart als notwendige und nützliche
Staatsform ansehen mag. Auch die Tschechen haben sich für sie entschieden und
die durch Mehrheitsbeschlüsse nur zu verdeckende, nicht zu beseitigende Spaltung
der Südslawen in eine republikanische, eine im Augenblick vorwaltende, den
Karageorgievic freundliche und eine mehr verborgene und abwartende hcibs-
burgische Richtung muh uns davor warnen, die Frage der Staatsform nicht als
für absehbare Zeit erledigt anzusehen. Das könnte nur die Aufrechterhaltung
der Sicherheit und Ordnung und die Durchführung der unaufschiebbaren wirt¬
schaftlichen und sozialen Maßregeln gefährden. Andrassy und Lammasch sind
sang- und klanglos abgetreten und auch die staatsrechtlich unklare Form, in der
Kaiser Karl zurückgetreten ist, hat zwar niemand befriedigt, aber auch niemand
ernstlich beunruhigt. Mehr Begeisterung, als die Ausrufung der Republik hat
die Erklärung des Anschlusses an das Deutsche Reich erweckt; auch die kühle Auf¬
nahme, die sie bei dessen Regierung gefunden hat, vermag die Hoffnung auf ihre
baldige Verwirklichung nicht wesentlich zu vermindern. Man sieht in ihr eine
nationale und politische, aber auch eme wirtschaftliche Notwendigkeit und er¬
kennt, daß sie durch die republikanische Staatsform erleichtert wird. Diese Ein¬
sicht und die Erwartung, daß eine Wiederkehr des Kaisers und seiner persönlichen
Ratgeber, aber auch die Regierung eines anderen Mitgliedes der Dynastie, von
denen nur wenige beliebt waren, aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Deutschland
gerichtete Bestrebungen neubeleben müßte, hat viele zu Republikanern gemacht,
die grundsätzlich auf monarchistischem Boden stehen. War der Völkerstaat Öster¬
reich ohne Monarchen nicht denkbar, so darf man den Deutschösterreichern Wohl
die politische Reife zutrauen, um sich selbst zu regieren. Die autonomistischen
Bestrebungen gewinnen von Tag zu Tag mehr Boden; in Tirol und Vorarlberg
wurde die Forderung nach eigener Vertretung bei der Friedeusverhandlung, ja
nach Anschluß an die Schweiz erhoben. Aber wie bisher alle politischen Be¬
wogungen, scheint sich auch diese in Deutschösterreich ruhiger zu vollziehen als im
Reiche und das Einvernehmen zwischen der Wiener Regierung und den Landes¬
ausschüssen ist bis zur Stunde, da ich dies schreibe (28. "November) ein gutes ge¬
blieben.

In der Verwaltung sind keine durchgreifenden Änderungen zu gewahren.
Die Auflösung der gemeinsamen Unter hat der deutschösterreichische Staat als
Treuhänder der beteiligten Staaten unter Vorbehalt ihrer Ansprüche und Ver¬
pflichtungen und der späteren Abrechnung übernommen; über den Beamtenaus¬
tausch sind Verhandlungen im Zuge, denen freilich die Ungeduld der Slawen
vielfach, auch in gewaltsamer Weise, vorgreift, die aber bei Entfaltung der nötigen
Entschiedenheit von deutscher Seite ebenso zu einem befriedigenden Ergebnis
führen können, wie jene über die Teilung der Mittel und der Lasten des Gesamt¬
staates und über andere finanzielle Fragen, vor allem über die allen Teilstaaten
gleich wichtige der Valuta. Erschwert werden sie allerdings dadurch, daß die
Tschechen und Südslawen sich als Bundesgenossen der Entente und somit als mit¬
bestimmende Sieger betrachten, und die Madjaren Lust zeigen, das gleiche zu
tun. Es wird immer gefordert und unbedingtes Nachgeben erwartet. Das
müßte aber nicht von Erfolg sein, wenn das nach Victor Adlers Tod von dem
Linkssoziali sten Otto Bauer verwaltete Auswärtige Amt es sich mehr angelegen


Dcutschöst.nrcich und seine Nachbarstaaten

Deutsck Österreich und seine Nachbarstaaten
Professor Dr. Robert Sieger von

! le Vermutungen über die weiteren Ereignisse in Deutschösterreich,
> die ich in meinem Aufsatz in den Grenzboten Ur. 47 ausgesprochen
habe (er wurde am 6. November abgeschickt), sind bisher in allem
Wesentlichen bestätigt worden. Die Republik ist glatt und ohne
jedes Hindernis ins Leben getreten; auch die Christlichsozialen als
»Partei haben sich lauf ihren Boden gestellt, obwohl ein Teil von
ihnen sie Wohl nur für die unmittelbare Gegenwart als notwendige und nützliche
Staatsform ansehen mag. Auch die Tschechen haben sich für sie entschieden und
die durch Mehrheitsbeschlüsse nur zu verdeckende, nicht zu beseitigende Spaltung
der Südslawen in eine republikanische, eine im Augenblick vorwaltende, den
Karageorgievic freundliche und eine mehr verborgene und abwartende hcibs-
burgische Richtung muh uns davor warnen, die Frage der Staatsform nicht als
für absehbare Zeit erledigt anzusehen. Das könnte nur die Aufrechterhaltung
der Sicherheit und Ordnung und die Durchführung der unaufschiebbaren wirt¬
schaftlichen und sozialen Maßregeln gefährden. Andrassy und Lammasch sind
sang- und klanglos abgetreten und auch die staatsrechtlich unklare Form, in der
Kaiser Karl zurückgetreten ist, hat zwar niemand befriedigt, aber auch niemand
ernstlich beunruhigt. Mehr Begeisterung, als die Ausrufung der Republik hat
die Erklärung des Anschlusses an das Deutsche Reich erweckt; auch die kühle Auf¬
nahme, die sie bei dessen Regierung gefunden hat, vermag die Hoffnung auf ihre
baldige Verwirklichung nicht wesentlich zu vermindern. Man sieht in ihr eine
nationale und politische, aber auch eme wirtschaftliche Notwendigkeit und er¬
kennt, daß sie durch die republikanische Staatsform erleichtert wird. Diese Ein¬
sicht und die Erwartung, daß eine Wiederkehr des Kaisers und seiner persönlichen
Ratgeber, aber auch die Regierung eines anderen Mitgliedes der Dynastie, von
denen nur wenige beliebt waren, aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Deutschland
gerichtete Bestrebungen neubeleben müßte, hat viele zu Republikanern gemacht,
die grundsätzlich auf monarchistischem Boden stehen. War der Völkerstaat Öster¬
reich ohne Monarchen nicht denkbar, so darf man den Deutschösterreichern Wohl
die politische Reife zutrauen, um sich selbst zu regieren. Die autonomistischen
Bestrebungen gewinnen von Tag zu Tag mehr Boden; in Tirol und Vorarlberg
wurde die Forderung nach eigener Vertretung bei der Friedeusverhandlung, ja
nach Anschluß an die Schweiz erhoben. Aber wie bisher alle politischen Be¬
wogungen, scheint sich auch diese in Deutschösterreich ruhiger zu vollziehen als im
Reiche und das Einvernehmen zwischen der Wiener Regierung und den Landes¬
ausschüssen ist bis zur Stunde, da ich dies schreibe (28. "November) ein gutes ge¬
blieben.

In der Verwaltung sind keine durchgreifenden Änderungen zu gewahren.
Die Auflösung der gemeinsamen Unter hat der deutschösterreichische Staat als
Treuhänder der beteiligten Staaten unter Vorbehalt ihrer Ansprüche und Ver¬
pflichtungen und der späteren Abrechnung übernommen; über den Beamtenaus¬
tausch sind Verhandlungen im Zuge, denen freilich die Ungeduld der Slawen
vielfach, auch in gewaltsamer Weise, vorgreift, die aber bei Entfaltung der nötigen
Entschiedenheit von deutscher Seite ebenso zu einem befriedigenden Ergebnis
führen können, wie jene über die Teilung der Mittel und der Lasten des Gesamt¬
staates und über andere finanzielle Fragen, vor allem über die allen Teilstaaten
gleich wichtige der Valuta. Erschwert werden sie allerdings dadurch, daß die
Tschechen und Südslawen sich als Bundesgenossen der Entente und somit als mit¬
bestimmende Sieger betrachten, und die Madjaren Lust zeigen, das gleiche zu
tun. Es wird immer gefordert und unbedingtes Nachgeben erwartet. Das
müßte aber nicht von Erfolg sein, wenn das nach Victor Adlers Tod von dem
Linkssoziali sten Otto Bauer verwaltete Auswärtige Amt es sich mehr angelegen


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[0264] Dcutschöst.nrcich und seine Nachbarstaaten Deutsck Österreich und seine Nachbarstaaten Professor Dr. Robert Sieger von ! le Vermutungen über die weiteren Ereignisse in Deutschösterreich, > die ich in meinem Aufsatz in den Grenzboten Ur. 47 ausgesprochen habe (er wurde am 6. November abgeschickt), sind bisher in allem Wesentlichen bestätigt worden. Die Republik ist glatt und ohne jedes Hindernis ins Leben getreten; auch die Christlichsozialen als »Partei haben sich lauf ihren Boden gestellt, obwohl ein Teil von ihnen sie Wohl nur für die unmittelbare Gegenwart als notwendige und nützliche Staatsform ansehen mag. Auch die Tschechen haben sich für sie entschieden und die durch Mehrheitsbeschlüsse nur zu verdeckende, nicht zu beseitigende Spaltung der Südslawen in eine republikanische, eine im Augenblick vorwaltende, den Karageorgievic freundliche und eine mehr verborgene und abwartende hcibs- burgische Richtung muh uns davor warnen, die Frage der Staatsform nicht als für absehbare Zeit erledigt anzusehen. Das könnte nur die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung und die Durchführung der unaufschiebbaren wirt¬ schaftlichen und sozialen Maßregeln gefährden. Andrassy und Lammasch sind sang- und klanglos abgetreten und auch die staatsrechtlich unklare Form, in der Kaiser Karl zurückgetreten ist, hat zwar niemand befriedigt, aber auch niemand ernstlich beunruhigt. Mehr Begeisterung, als die Ausrufung der Republik hat die Erklärung des Anschlusses an das Deutsche Reich erweckt; auch die kühle Auf¬ nahme, die sie bei dessen Regierung gefunden hat, vermag die Hoffnung auf ihre baldige Verwirklichung nicht wesentlich zu vermindern. Man sieht in ihr eine nationale und politische, aber auch eme wirtschaftliche Notwendigkeit und er¬ kennt, daß sie durch die republikanische Staatsform erleichtert wird. Diese Ein¬ sicht und die Erwartung, daß eine Wiederkehr des Kaisers und seiner persönlichen Ratgeber, aber auch die Regierung eines anderen Mitgliedes der Dynastie, von denen nur wenige beliebt waren, aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Deutschland gerichtete Bestrebungen neubeleben müßte, hat viele zu Republikanern gemacht, die grundsätzlich auf monarchistischem Boden stehen. War der Völkerstaat Öster¬ reich ohne Monarchen nicht denkbar, so darf man den Deutschösterreichern Wohl die politische Reife zutrauen, um sich selbst zu regieren. Die autonomistischen Bestrebungen gewinnen von Tag zu Tag mehr Boden; in Tirol und Vorarlberg wurde die Forderung nach eigener Vertretung bei der Friedeusverhandlung, ja nach Anschluß an die Schweiz erhoben. Aber wie bisher alle politischen Be¬ wogungen, scheint sich auch diese in Deutschösterreich ruhiger zu vollziehen als im Reiche und das Einvernehmen zwischen der Wiener Regierung und den Landes¬ ausschüssen ist bis zur Stunde, da ich dies schreibe (28. "November) ein gutes ge¬ blieben. In der Verwaltung sind keine durchgreifenden Änderungen zu gewahren. Die Auflösung der gemeinsamen Unter hat der deutschösterreichische Staat als Treuhänder der beteiligten Staaten unter Vorbehalt ihrer Ansprüche und Ver¬ pflichtungen und der späteren Abrechnung übernommen; über den Beamtenaus¬ tausch sind Verhandlungen im Zuge, denen freilich die Ungeduld der Slawen vielfach, auch in gewaltsamer Weise, vorgreift, die aber bei Entfaltung der nötigen Entschiedenheit von deutscher Seite ebenso zu einem befriedigenden Ergebnis führen können, wie jene über die Teilung der Mittel und der Lasten des Gesamt¬ staates und über andere finanzielle Fragen, vor allem über die allen Teilstaaten gleich wichtige der Valuta. Erschwert werden sie allerdings dadurch, daß die Tschechen und Südslawen sich als Bundesgenossen der Entente und somit als mit¬ bestimmende Sieger betrachten, und die Madjaren Lust zeigen, das gleiche zu tun. Es wird immer gefordert und unbedingtes Nachgeben erwartet. Das müßte aber nicht von Erfolg sein, wenn das nach Victor Adlers Tod von dem Linkssoziali sten Otto Bauer verwaltete Auswärtige Amt es sich mehr angelegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/264>, abgerufen am 24.11.2024.