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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Neue erzählende Literatur

eine Welt nicht der Dichtung, sondern der Verlogenheit geführt wird. Einen
Tendenzroman wie Artur Dinters antisemitische, H. Se. Chamberlain gewidmete
"Sünde Wider das Blut" (Wolsverlag, Leipzig) wird ein gebildeter Mensch ab¬
lehnen, Meil die Wirklichkeit hier verzerrt und die künstlerische Gestaltung schwäch¬
lich ist, und ein Buch wie Frances Külpes "Blaues Feuer" (Georg Müller Ver¬
lag, München), in dem ein neugeborenes Kind seinen ersten "heiligen" Schrei
tut und die erschöpfte Wöchnerin spricht: "Begrüße deinen Sohn, Bater", in dem
der vom Lichtgott geschnellte Frühsonnenstrahl "neugierig" und ausgerechnet am
offenen Fenster eines Berghäusleins hängen bleibt, weil ein neugeborenes ihm
"furchtlos die Augen entgegenschlägt", in dem eine Seele, nirgends Halt findend,
im Leide zerflutet, vier Zeilen weiter über der Leidvolle sich in seinem Leide
bergen will wie in einem .Kastell, als redensartliche, gemeinplätzige Talmipoesie
schon nach den ersten zwanzig Seiten in die Ecke feuern. Die Feuilleton-Ware
H. Essigs ("12 Novellen", Eckstein-Verlag, Lichterfelde) wird er als für die Buch¬
form zu leichtwichtig, R. Schickeles "Trimpopp und Manasse" (Verlag der
Weißen Bücher, Leipzig) als unnötig weitschweifig empfinden, aber ein Buch,
in dem die Jugendjahre des Helden von käuflichen Dirnenaugen "durchsickert"
werden und ein Kuhhirt sich äußert: "Es ist schön, ein Dichter zu sein, und
ich bin nur ein armer Hirtenknabe" (Max Glaß, Die stillen Wunder, Leipzig,
Verlag L. Stackmann) als überspanntes Gerede abtun, über die soziale Lage
det nordfranzösischen Bauern wird ein ernsthafter Leser sich nicht gerade durch
das künstlerisch ganz belanglose, verständig den vergeblichen Versuch der Grün¬
dung eines Bauernsyndikats darstellende Buch Emile Guillaumins "Ein Kampf
um die Scholle" (aus der Sammlung "Der Bauernspiegel", Eugen Diederichs,
Jena), sondern durch wissenschaftliche Unterlagen Zu unterrichten suchen, und
ein Werk wie des Holländers L. Couperus kalt gearbeiteter "Heliogabel" (Rütten
u. Loening, Frankfurt a. M.) mit seinen uninteressanter Menschen wird mit den
fleißig zusammengetragenen Kulturgemälden aus der spätrömischen Kaiserzeit
höchstens für den Historiker Reiz haben. Th. Birth "Novellen und Legenden
aus verklungenen Zeiten" und Karl Gjellerups "Goldener Zweig" (beide Quelle
u. Meyer, Leipzig) beruhen auf stilistischen Irrtümern. So dankenswert die
Absicht, uns antike Sagen- und Novellenmotive zurückzugewinnen und lebendig
zu machen auch ist, mit den Mitteln einer willkürlichen und weitschweifigen
modernen Dutzendromantechnik ist das nicht möglich, es gilt, sofern man sich schon
nicht aus einfaches sachgemäßes Erzählen beschränken will, nicht die Antike zu
banalisieren, sondern die Gegenwart mit Hilfe der Antike zu heroisieren. Ein
Sammetbändchen hingegen wie das Jahrbuch lübeckischer Dichter "Glückhafft
Schiff" (Bad Nassau, Lahn), wird bei aller Anspruchslosigkeit gerade wegen des
lokalgebundeuen Einheitstones dankbare Leser finden, .während Büchern wie
Charlotte Nieses "Tante Jda und die Andern" (R. Hermes Verlag, Hamburg),
Wilhelm Specks "Zwei Seelen" (Berlin, Martin Warneck) und Max Drehers
"Nachwuchs" (L. Staackmann Verlag, Leizig) .je nach dem Bildungsgrad der
Leser, denen sie in die Hände fallen, verschiedene Ausnahme beschieden sein wird.
Menschen mit ausgebreiteter Menschenkenntnis und fester Lebenserfahrung wer¬
den weder die fachlich belanglosen Menschen des flüchtig gearbeiteten Dreyer-
schen Buches, noch die nicht gerade oberflächlich, aber doch auch ohne tiefere
künstlerische Eindringlichkeit und ohne feste Formkraft gestalteten Vagabunden
Specks, noch die imLUten wie bösen Sinne Alltagsmenschen Eh. Nieses viel zu
sogen haben, aber alle drei Bücher sind doch wenigstens frei von Geschmacklosig¬
keiten, entstellenden Verlogenheiten und bombaftiischen Gemeinplätzen, und harm¬
lose und zumal jugendliche Gemüter werden an Eh. Nieses ehrlicher und schlich¬
ter Erzählungs- und Darstellungskunst, an Specks sich trotz aller Versuchungen
zu seelischer Reinheit durchkämpfendem Helden viele Freude finden und als
künstlerische Ewigkeitswerte oder Offenbarungen über Gott, Welt und Mensch¬
heit werden kaum die Versasser selber ihre Werke ansehen. Sachlich lebendiger,
durch ausgezeichnete Beobachtung des Sprechtons und eigentümlichen Dialekts
und der Volksart höher stehend ist Arthur Babilottes "König von Herrstadt"


Neue erzählende Literatur

eine Welt nicht der Dichtung, sondern der Verlogenheit geführt wird. Einen
Tendenzroman wie Artur Dinters antisemitische, H. Se. Chamberlain gewidmete
„Sünde Wider das Blut" (Wolsverlag, Leipzig) wird ein gebildeter Mensch ab¬
lehnen, Meil die Wirklichkeit hier verzerrt und die künstlerische Gestaltung schwäch¬
lich ist, und ein Buch wie Frances Külpes „Blaues Feuer" (Georg Müller Ver¬
lag, München), in dem ein neugeborenes Kind seinen ersten „heiligen" Schrei
tut und die erschöpfte Wöchnerin spricht: „Begrüße deinen Sohn, Bater", in dem
der vom Lichtgott geschnellte Frühsonnenstrahl „neugierig" und ausgerechnet am
offenen Fenster eines Berghäusleins hängen bleibt, weil ein neugeborenes ihm
„furchtlos die Augen entgegenschlägt", in dem eine Seele, nirgends Halt findend,
im Leide zerflutet, vier Zeilen weiter über der Leidvolle sich in seinem Leide
bergen will wie in einem .Kastell, als redensartliche, gemeinplätzige Talmipoesie
schon nach den ersten zwanzig Seiten in die Ecke feuern. Die Feuilleton-Ware
H. Essigs („12 Novellen", Eckstein-Verlag, Lichterfelde) wird er als für die Buch¬
form zu leichtwichtig, R. Schickeles „Trimpopp und Manasse" (Verlag der
Weißen Bücher, Leipzig) als unnötig weitschweifig empfinden, aber ein Buch,
in dem die Jugendjahre des Helden von käuflichen Dirnenaugen „durchsickert"
werden und ein Kuhhirt sich äußert: „Es ist schön, ein Dichter zu sein, und
ich bin nur ein armer Hirtenknabe" (Max Glaß, Die stillen Wunder, Leipzig,
Verlag L. Stackmann) als überspanntes Gerede abtun, über die soziale Lage
det nordfranzösischen Bauern wird ein ernsthafter Leser sich nicht gerade durch
das künstlerisch ganz belanglose, verständig den vergeblichen Versuch der Grün¬
dung eines Bauernsyndikats darstellende Buch Emile Guillaumins „Ein Kampf
um die Scholle" (aus der Sammlung „Der Bauernspiegel", Eugen Diederichs,
Jena), sondern durch wissenschaftliche Unterlagen Zu unterrichten suchen, und
ein Werk wie des Holländers L. Couperus kalt gearbeiteter „Heliogabel" (Rütten
u. Loening, Frankfurt a. M.) mit seinen uninteressanter Menschen wird mit den
fleißig zusammengetragenen Kulturgemälden aus der spätrömischen Kaiserzeit
höchstens für den Historiker Reiz haben. Th. Birth „Novellen und Legenden
aus verklungenen Zeiten" und Karl Gjellerups „Goldener Zweig" (beide Quelle
u. Meyer, Leipzig) beruhen auf stilistischen Irrtümern. So dankenswert die
Absicht, uns antike Sagen- und Novellenmotive zurückzugewinnen und lebendig
zu machen auch ist, mit den Mitteln einer willkürlichen und weitschweifigen
modernen Dutzendromantechnik ist das nicht möglich, es gilt, sofern man sich schon
nicht aus einfaches sachgemäßes Erzählen beschränken will, nicht die Antike zu
banalisieren, sondern die Gegenwart mit Hilfe der Antike zu heroisieren. Ein
Sammetbändchen hingegen wie das Jahrbuch lübeckischer Dichter „Glückhafft
Schiff" (Bad Nassau, Lahn), wird bei aller Anspruchslosigkeit gerade wegen des
lokalgebundeuen Einheitstones dankbare Leser finden, .während Büchern wie
Charlotte Nieses „Tante Jda und die Andern" (R. Hermes Verlag, Hamburg),
Wilhelm Specks „Zwei Seelen" (Berlin, Martin Warneck) und Max Drehers
„Nachwuchs" (L. Staackmann Verlag, Leizig) .je nach dem Bildungsgrad der
Leser, denen sie in die Hände fallen, verschiedene Ausnahme beschieden sein wird.
Menschen mit ausgebreiteter Menschenkenntnis und fester Lebenserfahrung wer¬
den weder die fachlich belanglosen Menschen des flüchtig gearbeiteten Dreyer-
schen Buches, noch die nicht gerade oberflächlich, aber doch auch ohne tiefere
künstlerische Eindringlichkeit und ohne feste Formkraft gestalteten Vagabunden
Specks, noch die imLUten wie bösen Sinne Alltagsmenschen Eh. Nieses viel zu
sogen haben, aber alle drei Bücher sind doch wenigstens frei von Geschmacklosig¬
keiten, entstellenden Verlogenheiten und bombaftiischen Gemeinplätzen, und harm¬
lose und zumal jugendliche Gemüter werden an Eh. Nieses ehrlicher und schlich¬
ter Erzählungs- und Darstellungskunst, an Specks sich trotz aller Versuchungen
zu seelischer Reinheit durchkämpfendem Helden viele Freude finden und als
künstlerische Ewigkeitswerte oder Offenbarungen über Gott, Welt und Mensch¬
heit werden kaum die Versasser selber ihre Werke ansehen. Sachlich lebendiger,
durch ausgezeichnete Beobachtung des Sprechtons und eigentümlichen Dialekts
und der Volksart höher stehend ist Arthur Babilottes „König von Herrstadt"


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[0255] Neue erzählende Literatur eine Welt nicht der Dichtung, sondern der Verlogenheit geführt wird. Einen Tendenzroman wie Artur Dinters antisemitische, H. Se. Chamberlain gewidmete „Sünde Wider das Blut" (Wolsverlag, Leipzig) wird ein gebildeter Mensch ab¬ lehnen, Meil die Wirklichkeit hier verzerrt und die künstlerische Gestaltung schwäch¬ lich ist, und ein Buch wie Frances Külpes „Blaues Feuer" (Georg Müller Ver¬ lag, München), in dem ein neugeborenes Kind seinen ersten „heiligen" Schrei tut und die erschöpfte Wöchnerin spricht: „Begrüße deinen Sohn, Bater", in dem der vom Lichtgott geschnellte Frühsonnenstrahl „neugierig" und ausgerechnet am offenen Fenster eines Berghäusleins hängen bleibt, weil ein neugeborenes ihm „furchtlos die Augen entgegenschlägt", in dem eine Seele, nirgends Halt findend, im Leide zerflutet, vier Zeilen weiter über der Leidvolle sich in seinem Leide bergen will wie in einem .Kastell, als redensartliche, gemeinplätzige Talmipoesie schon nach den ersten zwanzig Seiten in die Ecke feuern. Die Feuilleton-Ware H. Essigs („12 Novellen", Eckstein-Verlag, Lichterfelde) wird er als für die Buch¬ form zu leichtwichtig, R. Schickeles „Trimpopp und Manasse" (Verlag der Weißen Bücher, Leipzig) als unnötig weitschweifig empfinden, aber ein Buch, in dem die Jugendjahre des Helden von käuflichen Dirnenaugen „durchsickert" werden und ein Kuhhirt sich äußert: „Es ist schön, ein Dichter zu sein, und ich bin nur ein armer Hirtenknabe" (Max Glaß, Die stillen Wunder, Leipzig, Verlag L. Stackmann) als überspanntes Gerede abtun, über die soziale Lage det nordfranzösischen Bauern wird ein ernsthafter Leser sich nicht gerade durch das künstlerisch ganz belanglose, verständig den vergeblichen Versuch der Grün¬ dung eines Bauernsyndikats darstellende Buch Emile Guillaumins „Ein Kampf um die Scholle" (aus der Sammlung „Der Bauernspiegel", Eugen Diederichs, Jena), sondern durch wissenschaftliche Unterlagen Zu unterrichten suchen, und ein Werk wie des Holländers L. Couperus kalt gearbeiteter „Heliogabel" (Rütten u. Loening, Frankfurt a. M.) mit seinen uninteressanter Menschen wird mit den fleißig zusammengetragenen Kulturgemälden aus der spätrömischen Kaiserzeit höchstens für den Historiker Reiz haben. Th. Birth „Novellen und Legenden aus verklungenen Zeiten" und Karl Gjellerups „Goldener Zweig" (beide Quelle u. Meyer, Leipzig) beruhen auf stilistischen Irrtümern. So dankenswert die Absicht, uns antike Sagen- und Novellenmotive zurückzugewinnen und lebendig zu machen auch ist, mit den Mitteln einer willkürlichen und weitschweifigen modernen Dutzendromantechnik ist das nicht möglich, es gilt, sofern man sich schon nicht aus einfaches sachgemäßes Erzählen beschränken will, nicht die Antike zu banalisieren, sondern die Gegenwart mit Hilfe der Antike zu heroisieren. Ein Sammetbändchen hingegen wie das Jahrbuch lübeckischer Dichter „Glückhafft Schiff" (Bad Nassau, Lahn), wird bei aller Anspruchslosigkeit gerade wegen des lokalgebundeuen Einheitstones dankbare Leser finden, .während Büchern wie Charlotte Nieses „Tante Jda und die Andern" (R. Hermes Verlag, Hamburg), Wilhelm Specks „Zwei Seelen" (Berlin, Martin Warneck) und Max Drehers „Nachwuchs" (L. Staackmann Verlag, Leizig) .je nach dem Bildungsgrad der Leser, denen sie in die Hände fallen, verschiedene Ausnahme beschieden sein wird. Menschen mit ausgebreiteter Menschenkenntnis und fester Lebenserfahrung wer¬ den weder die fachlich belanglosen Menschen des flüchtig gearbeiteten Dreyer- schen Buches, noch die nicht gerade oberflächlich, aber doch auch ohne tiefere künstlerische Eindringlichkeit und ohne feste Formkraft gestalteten Vagabunden Specks, noch die imLUten wie bösen Sinne Alltagsmenschen Eh. Nieses viel zu sogen haben, aber alle drei Bücher sind doch wenigstens frei von Geschmacklosig¬ keiten, entstellenden Verlogenheiten und bombaftiischen Gemeinplätzen, und harm¬ lose und zumal jugendliche Gemüter werden an Eh. Nieses ehrlicher und schlich¬ ter Erzählungs- und Darstellungskunst, an Specks sich trotz aller Versuchungen zu seelischer Reinheit durchkämpfendem Helden viele Freude finden und als künstlerische Ewigkeitswerte oder Offenbarungen über Gott, Welt und Mensch¬ heit werden kaum die Versasser selber ihre Werke ansehen. Sachlich lebendiger, durch ausgezeichnete Beobachtung des Sprechtons und eigentümlichen Dialekts und der Volksart höher stehend ist Arthur Babilottes „König von Herrstadt"

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/255>, abgerufen am 24.11.2024.