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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Bolschewismus

sammen er die Wahl zur Konstituante ausgeschrieben hatte. Ende Oktober 1917
konnten die Bolschewisten den entscheidenden Schlag wagen. In Petersburg
relativ leicht, in Moskau nach harten Kämpfen'rissen sie die Zügel an sich. Am
7. November war der Jahrestag ihres Sieges. Immer noch vorsichtig, nicht
sicher ihrer Macht, nutzten sie diese. Die Wahlen zur Konstituante wurden nicht
verhindert, aber behindert, terrorisiert. Die bürgerlichen Parteien, d. h. nur die
linken Kadetten hatten trotz alledem noch einen starken Anhang. Die wahn¬
sinnige Zersplitterung der anderen verurteilte sie zur Machtlosigkeit; ihre Indo¬
lenz, ihre erstaunte und ängstliche Neugier zur Untätigkeit.

Endlich, nach dauernden Verschleppungen, Januar 1918 sollte der Zu-
sammentritt der Konstituante erfolgen. Da, ein neuer Trick! Die Wahllegiti¬
mation sollte durch den Kommandanten des Taurischen Palais, den späterhin
als Leiter der Petersburger Außerordentlichen Kommission berüchtigten Uritzki
geprüft werden. Nur die linken S.-R. unterwarfen sich dieser Prüfung. Die
Kadetten und rechten S.-R. streikten -- die Konstituante hatte ausgespielt, sie
zerfiel! Ein unschlüssiges Bürgertum hatte sich selbst das Grab gegraben! Es
war reif für den roten Terror!'

Aber auch da noch gingen die Bolschewiken vorsichtig zögernd vor. Erst
der Feldwebelfrieden von Brest gab ihnen Selbstsicherheit. Das Land litt, litt
unsäglich. Selbst das herrschende Proletariat hatte das Lachen verlernt. Wie
auf den Erlöser blickte es aus die deutsche Gesandtschaft, als diese in Moskau ein¬
zog. Eitel Hoffen! -- Es kam der berüchtigte Zusatzvertrag, dem Bolschewismus
warm Tür und Tor gegen Westen geöffnet.

Man muß doch in Moskau und Petersburg gewesen sein, um das Elend,
das die bolschewistische Herrschaft über das Land' gebracht hat, ganz ermessen zu
können. Moskau, die Stadt des verstörten, unruhig blickenden Bolksgewimmels,
Petersburg, die tote Stadt, die Stadt der lebendigen Leichname, haben eine Luft,
die einem das Atmen erschwert., Ich- will keine Einzelschilderungen
machen, nicht die Bilder der Armut, des Hungers, der Angst, die sich überall
zeigen, schildern. Die Phantasie kann sie sich kaum ausmalen.

Diktatur des Proletariats!? -- Selbst das ist Lüge. Diktatur einzelner,
die Cäsarenwahnsinn zu immer dotieren Streichen treibt. Kampf dem Bürger¬
tum, dem Lebensnerv des Wirtschaftslebens, bis aufs äußerste. Systematisches
Morden unschuldiger Opfer, Hunger und Elend bei den ehemals Besitzenden wie
beim Armen. Zynismus schamloser Art. Dem vor Hunger sterbenden Volke
werden zwei Züge mit Lebensmitteln entzogen, um sie als Propagandamittel nach
Deutschland zu schicken. Deutschland, wo bleibt deine Kultur, deine Moral?!!
Ein Schrei der Entrüstung müßte durch deine Gaue gehen!

Freibeit des Wortes und des einzelnen sind Schlagworte, die dort längst
zum alten Eisen geworfen sind. Knechtschaft, Knechtschaft in jeder> Form ist
Trumpf! Wer keine Arbeit hat. muß Soldat werden. Der höbe Lohn reizt.
Die Papiergelddruckmaschincn arbeiten fieberhaft. Die Offiziere, die früher dort
nicht zu Unrecht geschmähten, müssen wieder eintreten, werden sogar lobend er¬
wähnt. Reinster Militarismus. Strengste Disziplin. Todesstrafen sind an der
Tagesordnung. Ein Millionenbeer wird aus dem Boden gestampft. "Wir
müssen herrschen, herrschen!" schreien die Machthaber/ Es wäre zum Lachen,
wenn es nicht zum Weinen wäre.

Industrie, Handel, Banken nationalisiert. "Wozu braucht man Banken?
Die drucken doch kein Geld!" "Handel ist überflüssig: das macht alles der
Staat!" Unsere Kriegswirtschaft ist ein Waisenknabe gegen dieses Tolmwabohu.
Selbst die bolschewistischen Zeitungen erkennen das 'vollkommene Fiasko an.
"Zentro-Tertil", "Zentro-Tkan" -- alle Warengattungen baben ihre Zentral¬
stelle. Das schon im Frieden entset-liebe Schreibwerk des russischen Bureaukratis¬
mus wächst ins Ungemessene. Gefüllte Lager, Warenhunger, alles wirr durch¬
einander. Der arme Verbraucher muß alles erdulden.

Um dem deutschen Zusatzvertrag ein Schnippchen zu schlagen, wurde am
30. Juni d. I. fast die ganze Industrie nationalisiert. Die Folge? Alles liegt


13*
Bolschewismus

sammen er die Wahl zur Konstituante ausgeschrieben hatte. Ende Oktober 1917
konnten die Bolschewisten den entscheidenden Schlag wagen. In Petersburg
relativ leicht, in Moskau nach harten Kämpfen'rissen sie die Zügel an sich. Am
7. November war der Jahrestag ihres Sieges. Immer noch vorsichtig, nicht
sicher ihrer Macht, nutzten sie diese. Die Wahlen zur Konstituante wurden nicht
verhindert, aber behindert, terrorisiert. Die bürgerlichen Parteien, d. h. nur die
linken Kadetten hatten trotz alledem noch einen starken Anhang. Die wahn¬
sinnige Zersplitterung der anderen verurteilte sie zur Machtlosigkeit; ihre Indo¬
lenz, ihre erstaunte und ängstliche Neugier zur Untätigkeit.

Endlich, nach dauernden Verschleppungen, Januar 1918 sollte der Zu-
sammentritt der Konstituante erfolgen. Da, ein neuer Trick! Die Wahllegiti¬
mation sollte durch den Kommandanten des Taurischen Palais, den späterhin
als Leiter der Petersburger Außerordentlichen Kommission berüchtigten Uritzki
geprüft werden. Nur die linken S.-R. unterwarfen sich dieser Prüfung. Die
Kadetten und rechten S.-R. streikten — die Konstituante hatte ausgespielt, sie
zerfiel! Ein unschlüssiges Bürgertum hatte sich selbst das Grab gegraben! Es
war reif für den roten Terror!'

Aber auch da noch gingen die Bolschewiken vorsichtig zögernd vor. Erst
der Feldwebelfrieden von Brest gab ihnen Selbstsicherheit. Das Land litt, litt
unsäglich. Selbst das herrschende Proletariat hatte das Lachen verlernt. Wie
auf den Erlöser blickte es aus die deutsche Gesandtschaft, als diese in Moskau ein¬
zog. Eitel Hoffen! — Es kam der berüchtigte Zusatzvertrag, dem Bolschewismus
warm Tür und Tor gegen Westen geöffnet.

Man muß doch in Moskau und Petersburg gewesen sein, um das Elend,
das die bolschewistische Herrschaft über das Land' gebracht hat, ganz ermessen zu
können. Moskau, die Stadt des verstörten, unruhig blickenden Bolksgewimmels,
Petersburg, die tote Stadt, die Stadt der lebendigen Leichname, haben eine Luft,
die einem das Atmen erschwert., Ich- will keine Einzelschilderungen
machen, nicht die Bilder der Armut, des Hungers, der Angst, die sich überall
zeigen, schildern. Die Phantasie kann sie sich kaum ausmalen.

Diktatur des Proletariats!? — Selbst das ist Lüge. Diktatur einzelner,
die Cäsarenwahnsinn zu immer dotieren Streichen treibt. Kampf dem Bürger¬
tum, dem Lebensnerv des Wirtschaftslebens, bis aufs äußerste. Systematisches
Morden unschuldiger Opfer, Hunger und Elend bei den ehemals Besitzenden wie
beim Armen. Zynismus schamloser Art. Dem vor Hunger sterbenden Volke
werden zwei Züge mit Lebensmitteln entzogen, um sie als Propagandamittel nach
Deutschland zu schicken. Deutschland, wo bleibt deine Kultur, deine Moral?!!
Ein Schrei der Entrüstung müßte durch deine Gaue gehen!

Freibeit des Wortes und des einzelnen sind Schlagworte, die dort längst
zum alten Eisen geworfen sind. Knechtschaft, Knechtschaft in jeder> Form ist
Trumpf! Wer keine Arbeit hat. muß Soldat werden. Der höbe Lohn reizt.
Die Papiergelddruckmaschincn arbeiten fieberhaft. Die Offiziere, die früher dort
nicht zu Unrecht geschmähten, müssen wieder eintreten, werden sogar lobend er¬
wähnt. Reinster Militarismus. Strengste Disziplin. Todesstrafen sind an der
Tagesordnung. Ein Millionenbeer wird aus dem Boden gestampft. „Wir
müssen herrschen, herrschen!" schreien die Machthaber/ Es wäre zum Lachen,
wenn es nicht zum Weinen wäre.

Industrie, Handel, Banken nationalisiert. „Wozu braucht man Banken?
Die drucken doch kein Geld!" „Handel ist überflüssig: das macht alles der
Staat!" Unsere Kriegswirtschaft ist ein Waisenknabe gegen dieses Tolmwabohu.
Selbst die bolschewistischen Zeitungen erkennen das 'vollkommene Fiasko an.
„Zentro-Tertil", „Zentro-Tkan" — alle Warengattungen baben ihre Zentral¬
stelle. Das schon im Frieden entset-liebe Schreibwerk des russischen Bureaukratis¬
mus wächst ins Ungemessene. Gefüllte Lager, Warenhunger, alles wirr durch¬
einander. Der arme Verbraucher muß alles erdulden.

Um dem deutschen Zusatzvertrag ein Schnippchen zu schlagen, wurde am
30. Juni d. I. fast die ganze Industrie nationalisiert. Die Folge? Alles liegt


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[0227] Bolschewismus sammen er die Wahl zur Konstituante ausgeschrieben hatte. Ende Oktober 1917 konnten die Bolschewisten den entscheidenden Schlag wagen. In Petersburg relativ leicht, in Moskau nach harten Kämpfen'rissen sie die Zügel an sich. Am 7. November war der Jahrestag ihres Sieges. Immer noch vorsichtig, nicht sicher ihrer Macht, nutzten sie diese. Die Wahlen zur Konstituante wurden nicht verhindert, aber behindert, terrorisiert. Die bürgerlichen Parteien, d. h. nur die linken Kadetten hatten trotz alledem noch einen starken Anhang. Die wahn¬ sinnige Zersplitterung der anderen verurteilte sie zur Machtlosigkeit; ihre Indo¬ lenz, ihre erstaunte und ängstliche Neugier zur Untätigkeit. Endlich, nach dauernden Verschleppungen, Januar 1918 sollte der Zu- sammentritt der Konstituante erfolgen. Da, ein neuer Trick! Die Wahllegiti¬ mation sollte durch den Kommandanten des Taurischen Palais, den späterhin als Leiter der Petersburger Außerordentlichen Kommission berüchtigten Uritzki geprüft werden. Nur die linken S.-R. unterwarfen sich dieser Prüfung. Die Kadetten und rechten S.-R. streikten — die Konstituante hatte ausgespielt, sie zerfiel! Ein unschlüssiges Bürgertum hatte sich selbst das Grab gegraben! Es war reif für den roten Terror!' Aber auch da noch gingen die Bolschewiken vorsichtig zögernd vor. Erst der Feldwebelfrieden von Brest gab ihnen Selbstsicherheit. Das Land litt, litt unsäglich. Selbst das herrschende Proletariat hatte das Lachen verlernt. Wie auf den Erlöser blickte es aus die deutsche Gesandtschaft, als diese in Moskau ein¬ zog. Eitel Hoffen! — Es kam der berüchtigte Zusatzvertrag, dem Bolschewismus warm Tür und Tor gegen Westen geöffnet. Man muß doch in Moskau und Petersburg gewesen sein, um das Elend, das die bolschewistische Herrschaft über das Land' gebracht hat, ganz ermessen zu können. Moskau, die Stadt des verstörten, unruhig blickenden Bolksgewimmels, Petersburg, die tote Stadt, die Stadt der lebendigen Leichname, haben eine Luft, die einem das Atmen erschwert., Ich- will keine Einzelschilderungen machen, nicht die Bilder der Armut, des Hungers, der Angst, die sich überall zeigen, schildern. Die Phantasie kann sie sich kaum ausmalen. Diktatur des Proletariats!? — Selbst das ist Lüge. Diktatur einzelner, die Cäsarenwahnsinn zu immer dotieren Streichen treibt. Kampf dem Bürger¬ tum, dem Lebensnerv des Wirtschaftslebens, bis aufs äußerste. Systematisches Morden unschuldiger Opfer, Hunger und Elend bei den ehemals Besitzenden wie beim Armen. Zynismus schamloser Art. Dem vor Hunger sterbenden Volke werden zwei Züge mit Lebensmitteln entzogen, um sie als Propagandamittel nach Deutschland zu schicken. Deutschland, wo bleibt deine Kultur, deine Moral?!! Ein Schrei der Entrüstung müßte durch deine Gaue gehen! Freibeit des Wortes und des einzelnen sind Schlagworte, die dort längst zum alten Eisen geworfen sind. Knechtschaft, Knechtschaft in jeder> Form ist Trumpf! Wer keine Arbeit hat. muß Soldat werden. Der höbe Lohn reizt. Die Papiergelddruckmaschincn arbeiten fieberhaft. Die Offiziere, die früher dort nicht zu Unrecht geschmähten, müssen wieder eintreten, werden sogar lobend er¬ wähnt. Reinster Militarismus. Strengste Disziplin. Todesstrafen sind an der Tagesordnung. Ein Millionenbeer wird aus dem Boden gestampft. „Wir müssen herrschen, herrschen!" schreien die Machthaber/ Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Industrie, Handel, Banken nationalisiert. „Wozu braucht man Banken? Die drucken doch kein Geld!" „Handel ist überflüssig: das macht alles der Staat!" Unsere Kriegswirtschaft ist ein Waisenknabe gegen dieses Tolmwabohu. Selbst die bolschewistischen Zeitungen erkennen das 'vollkommene Fiasko an. „Zentro-Tertil", „Zentro-Tkan" — alle Warengattungen baben ihre Zentral¬ stelle. Das schon im Frieden entset-liebe Schreibwerk des russischen Bureaukratis¬ mus wächst ins Ungemessene. Gefüllte Lager, Warenhunger, alles wirr durch¬ einander. Der arme Verbraucher muß alles erdulden. Um dem deutschen Zusatzvertrag ein Schnippchen zu schlagen, wurde am 30. Juni d. I. fast die ganze Industrie nationalisiert. Die Folge? Alles liegt 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/227>, abgerufen am 24.11.2024.