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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Berufswahl und Begabtenschule

und auch die Methoden der übrigen Großstädte stehen, soviel ich sehe, grundsätz-
lich auf demselben Boden.

Di: Durchsicht der angewandten Verfahren muß, wenn auch Verbesserungen
naturlich möglich und zum Teil auch schon vorgeschlagen worden sind, unsere
Bewunderung erregen. Die verschiedenen Seiten der intellektuellen Tätigkeit
werden auf ihre Leistungsfähigkeit experimentell untersucht, und es ist kein Zweifel,
daß über Konzentration, Kombination, Einpränsamleit, Generalisation, Definition,
Wichrschemlichkeitsurteil usw. Werte gewonnen werden, die der Exaktheit nahe¬
kommen. Man wird ohne weiteres erkennen, daß diese Verfahren, z. B. auf
unseren höheren Schulen in gemessenen Zeitabschnitten angewandt, das von den
Lehrern gewonnene Bild der einzelnen Individualitäten in willkommener Weise
ergänzen würde. Aber die Anhänger dieses Verfahrens werden uns über seine
Schwächen nicht täuschen. Wen wir sür würdig halten, in die durch Bildung
führenden Schichten unseres Volkes hinausgehoben zu werden, den werden wir
nus nicht nur darauf ansehen dürfen, wie es mit seinen intellektuellen Fähigkeiten
beschaffen ist. Es fragt sich doch, ob sich aus der Einfügung der Persönlichkeit
in die ihm fremde Schicht eine Förderung und keine Schädigung des Ganzen
erwarten läßt. Der Intellekt ist ein scharfes Instrument, das sich zu Nutzen oder
Schaden antuenden läßt. Fleiß, Energie, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Pflichttreue,
Anpassungsfähigkeit können nicht durch eine zehnstündige Prüfung ermittelt weiden,
geniales Führertum überhaupt durch keine Prüfung; den Charakter zu prüfen,
indem man die Kinder in ein Landerziehungsheim steckt und dort eine Woche
oder länger "beobachtet", ist um so mißlicher, je mehr sich die Prüflinge dieser
vorübergehenden Beobachtung bewußt sind. Hier bedürfte es langfristigen un¬
befangenen Zusammenlebens; die Erfahrungen des Lehrers in der Schule werden
also nicht zu umgehen sein, und der Personalbogen, in den jahrelang alles ein¬
getragen wird, was von der biologischen bis zur ethischen Seite des Schülers
zur Kenntnis des Lehrers kommt, wird zur dringlichen Forderung, wichtiger als
die Bemessung der einzelnen Funktionen des Intellekts. Temperament, Naturell,
Stellung zu Natur' und Umwelt -- lauter Grundsteine .der künftigen Weltan¬
schauung --, Phantasie und künstlerische Begabung -- durch die Intelligenz unersetz¬
bare Werte -- kurz, alles was das Wesen der Menschen dur.t und reizvoll macht,
bleibt bei dem Berliner Versuch unberücksichtigt neben den Versiandeskräften.

Ja auch diese finden nicht die ihnen gebührende Würdigung. In Berlin
werden alle die verschiedenen Ergebnisse aller untersuchten Jntelligenzfuuktionen
eines Schülers schließlich auf einen Durchschnittswert reduziert, der dann für die
Beurteilung ausschlaggebend ist. Qualitative Differenzen werden nicht berück¬
sichtigt. Diese sind aber bei Schülern, die man einer Weiterbildung zuführen
möchte, gerade das Wichtigstes. Die zeitgemäße Forderung nach Organisation
der Schulen gemäß den psychologischen Verschiedenheiten der Kinder wird durch
das Berliner System nicht erfüllt. Man sieht mit Erstaunen, daß der ganze
Aufwand psychologischer Untersuchung schließlich wieder in das' Schema der bis¬
herigen höheren Schule einmündet, dessen Starrheit doch gerade durch Berück¬
sichtigung der qualitativ verschiedenen Individualitäten gelockert werden müßte.

Man nähert sich heute in der Pädagogik der Auffassung, daß das Wissen
und die Verstandesbildung hinter das Können zurückzutreten habe. Vielleicht
kommen wir weiterhin zu einer Stufe, auf der das Sein vor allein geschätzt
wird und das Wissen wohl bei der Wahl des Betätigungsfeldes, des. Berufes,
den Ausschlag gibt, nicht aber bei der Schätzung des Wertes der Persönlichkeit
für das Ganze. Erst dadurch wird die Versöhnung der Stände, eine wahre
Demokratie, ermöglicht werden, daß kein Stand als solcher erstrebenswert erscheint,
sondern in jedem Berufe die wertvolle Persönlichkeit, der ganze Mann an rechter
Stelle, höchste Würdigung erfährt. Erst wenn der reine Zusammenklang von



°) Zur Beurteilung dieser Fragen verweise ich auf das besonnene Buch von I. van
den Wyenoergh, Die Organisation ses Volksschulwesens auf diffcrentiell-psycholcgischer Grund-
lage (Leipzig' 1918 Quelle u. Meyer, Preis 3 M.).
Berufswahl und Begabtenschule

und auch die Methoden der übrigen Großstädte stehen, soviel ich sehe, grundsätz-
lich auf demselben Boden.

Di: Durchsicht der angewandten Verfahren muß, wenn auch Verbesserungen
naturlich möglich und zum Teil auch schon vorgeschlagen worden sind, unsere
Bewunderung erregen. Die verschiedenen Seiten der intellektuellen Tätigkeit
werden auf ihre Leistungsfähigkeit experimentell untersucht, und es ist kein Zweifel,
daß über Konzentration, Kombination, Einpränsamleit, Generalisation, Definition,
Wichrschemlichkeitsurteil usw. Werte gewonnen werden, die der Exaktheit nahe¬
kommen. Man wird ohne weiteres erkennen, daß diese Verfahren, z. B. auf
unseren höheren Schulen in gemessenen Zeitabschnitten angewandt, das von den
Lehrern gewonnene Bild der einzelnen Individualitäten in willkommener Weise
ergänzen würde. Aber die Anhänger dieses Verfahrens werden uns über seine
Schwächen nicht täuschen. Wen wir sür würdig halten, in die durch Bildung
führenden Schichten unseres Volkes hinausgehoben zu werden, den werden wir
nus nicht nur darauf ansehen dürfen, wie es mit seinen intellektuellen Fähigkeiten
beschaffen ist. Es fragt sich doch, ob sich aus der Einfügung der Persönlichkeit
in die ihm fremde Schicht eine Förderung und keine Schädigung des Ganzen
erwarten läßt. Der Intellekt ist ein scharfes Instrument, das sich zu Nutzen oder
Schaden antuenden läßt. Fleiß, Energie, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Pflichttreue,
Anpassungsfähigkeit können nicht durch eine zehnstündige Prüfung ermittelt weiden,
geniales Führertum überhaupt durch keine Prüfung; den Charakter zu prüfen,
indem man die Kinder in ein Landerziehungsheim steckt und dort eine Woche
oder länger „beobachtet", ist um so mißlicher, je mehr sich die Prüflinge dieser
vorübergehenden Beobachtung bewußt sind. Hier bedürfte es langfristigen un¬
befangenen Zusammenlebens; die Erfahrungen des Lehrers in der Schule werden
also nicht zu umgehen sein, und der Personalbogen, in den jahrelang alles ein¬
getragen wird, was von der biologischen bis zur ethischen Seite des Schülers
zur Kenntnis des Lehrers kommt, wird zur dringlichen Forderung, wichtiger als
die Bemessung der einzelnen Funktionen des Intellekts. Temperament, Naturell,
Stellung zu Natur' und Umwelt — lauter Grundsteine .der künftigen Weltan¬
schauung —, Phantasie und künstlerische Begabung — durch die Intelligenz unersetz¬
bare Werte — kurz, alles was das Wesen der Menschen dur.t und reizvoll macht,
bleibt bei dem Berliner Versuch unberücksichtigt neben den Versiandeskräften.

Ja auch diese finden nicht die ihnen gebührende Würdigung. In Berlin
werden alle die verschiedenen Ergebnisse aller untersuchten Jntelligenzfuuktionen
eines Schülers schließlich auf einen Durchschnittswert reduziert, der dann für die
Beurteilung ausschlaggebend ist. Qualitative Differenzen werden nicht berück¬
sichtigt. Diese sind aber bei Schülern, die man einer Weiterbildung zuführen
möchte, gerade das Wichtigstes. Die zeitgemäße Forderung nach Organisation
der Schulen gemäß den psychologischen Verschiedenheiten der Kinder wird durch
das Berliner System nicht erfüllt. Man sieht mit Erstaunen, daß der ganze
Aufwand psychologischer Untersuchung schließlich wieder in das' Schema der bis¬
herigen höheren Schule einmündet, dessen Starrheit doch gerade durch Berück¬
sichtigung der qualitativ verschiedenen Individualitäten gelockert werden müßte.

Man nähert sich heute in der Pädagogik der Auffassung, daß das Wissen
und die Verstandesbildung hinter das Können zurückzutreten habe. Vielleicht
kommen wir weiterhin zu einer Stufe, auf der das Sein vor allein geschätzt
wird und das Wissen wohl bei der Wahl des Betätigungsfeldes, des. Berufes,
den Ausschlag gibt, nicht aber bei der Schätzung des Wertes der Persönlichkeit
für das Ganze. Erst dadurch wird die Versöhnung der Stände, eine wahre
Demokratie, ermöglicht werden, daß kein Stand als solcher erstrebenswert erscheint,
sondern in jedem Berufe die wertvolle Persönlichkeit, der ganze Mann an rechter
Stelle, höchste Würdigung erfährt. Erst wenn der reine Zusammenklang von



°) Zur Beurteilung dieser Fragen verweise ich auf das besonnene Buch von I. van
den Wyenoergh, Die Organisation ses Volksschulwesens auf diffcrentiell-psycholcgischer Grund-
lage (Leipzig' 1918 Quelle u. Meyer, Preis 3 M.).
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[0154] Berufswahl und Begabtenschule und auch die Methoden der übrigen Großstädte stehen, soviel ich sehe, grundsätz- lich auf demselben Boden. Di: Durchsicht der angewandten Verfahren muß, wenn auch Verbesserungen naturlich möglich und zum Teil auch schon vorgeschlagen worden sind, unsere Bewunderung erregen. Die verschiedenen Seiten der intellektuellen Tätigkeit werden auf ihre Leistungsfähigkeit experimentell untersucht, und es ist kein Zweifel, daß über Konzentration, Kombination, Einpränsamleit, Generalisation, Definition, Wichrschemlichkeitsurteil usw. Werte gewonnen werden, die der Exaktheit nahe¬ kommen. Man wird ohne weiteres erkennen, daß diese Verfahren, z. B. auf unseren höheren Schulen in gemessenen Zeitabschnitten angewandt, das von den Lehrern gewonnene Bild der einzelnen Individualitäten in willkommener Weise ergänzen würde. Aber die Anhänger dieses Verfahrens werden uns über seine Schwächen nicht täuschen. Wen wir sür würdig halten, in die durch Bildung führenden Schichten unseres Volkes hinausgehoben zu werden, den werden wir nus nicht nur darauf ansehen dürfen, wie es mit seinen intellektuellen Fähigkeiten beschaffen ist. Es fragt sich doch, ob sich aus der Einfügung der Persönlichkeit in die ihm fremde Schicht eine Förderung und keine Schädigung des Ganzen erwarten läßt. Der Intellekt ist ein scharfes Instrument, das sich zu Nutzen oder Schaden antuenden läßt. Fleiß, Energie, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Pflichttreue, Anpassungsfähigkeit können nicht durch eine zehnstündige Prüfung ermittelt weiden, geniales Führertum überhaupt durch keine Prüfung; den Charakter zu prüfen, indem man die Kinder in ein Landerziehungsheim steckt und dort eine Woche oder länger „beobachtet", ist um so mißlicher, je mehr sich die Prüflinge dieser vorübergehenden Beobachtung bewußt sind. Hier bedürfte es langfristigen un¬ befangenen Zusammenlebens; die Erfahrungen des Lehrers in der Schule werden also nicht zu umgehen sein, und der Personalbogen, in den jahrelang alles ein¬ getragen wird, was von der biologischen bis zur ethischen Seite des Schülers zur Kenntnis des Lehrers kommt, wird zur dringlichen Forderung, wichtiger als die Bemessung der einzelnen Funktionen des Intellekts. Temperament, Naturell, Stellung zu Natur' und Umwelt — lauter Grundsteine .der künftigen Weltan¬ schauung —, Phantasie und künstlerische Begabung — durch die Intelligenz unersetz¬ bare Werte — kurz, alles was das Wesen der Menschen dur.t und reizvoll macht, bleibt bei dem Berliner Versuch unberücksichtigt neben den Versiandeskräften. Ja auch diese finden nicht die ihnen gebührende Würdigung. In Berlin werden alle die verschiedenen Ergebnisse aller untersuchten Jntelligenzfuuktionen eines Schülers schließlich auf einen Durchschnittswert reduziert, der dann für die Beurteilung ausschlaggebend ist. Qualitative Differenzen werden nicht berück¬ sichtigt. Diese sind aber bei Schülern, die man einer Weiterbildung zuführen möchte, gerade das Wichtigstes. Die zeitgemäße Forderung nach Organisation der Schulen gemäß den psychologischen Verschiedenheiten der Kinder wird durch das Berliner System nicht erfüllt. Man sieht mit Erstaunen, daß der ganze Aufwand psychologischer Untersuchung schließlich wieder in das' Schema der bis¬ herigen höheren Schule einmündet, dessen Starrheit doch gerade durch Berück¬ sichtigung der qualitativ verschiedenen Individualitäten gelockert werden müßte. Man nähert sich heute in der Pädagogik der Auffassung, daß das Wissen und die Verstandesbildung hinter das Können zurückzutreten habe. Vielleicht kommen wir weiterhin zu einer Stufe, auf der das Sein vor allein geschätzt wird und das Wissen wohl bei der Wahl des Betätigungsfeldes, des. Berufes, den Ausschlag gibt, nicht aber bei der Schätzung des Wertes der Persönlichkeit für das Ganze. Erst dadurch wird die Versöhnung der Stände, eine wahre Demokratie, ermöglicht werden, daß kein Stand als solcher erstrebenswert erscheint, sondern in jedem Berufe die wertvolle Persönlichkeit, der ganze Mann an rechter Stelle, höchste Würdigung erfährt. Erst wenn der reine Zusammenklang von °) Zur Beurteilung dieser Fragen verweise ich auf das besonnene Buch von I. van den Wyenoergh, Die Organisation ses Volksschulwesens auf diffcrentiell-psycholcgischer Grund- lage (Leipzig' 1918 Quelle u. Meyer, Preis 3 M.).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/154>, abgerufen am 24.11.2024.