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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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vom "Großblock" zur "Mehrheit"

politischen Gruppen des Reiches. Jeder .bürgerlichen Partei, die sich mit der
Sozialdemokratie verband, ist dies als Sünde angerechnet worden. Lange Zeit
hat es niemand gewagt, mit den "Roten" ein offenes Wahlbündnis einzugehen,
und erst in den letzten zehn Jahren >etwci vor dem Kriege ist der Bann allmählich
gebrochen "morden. Neben der bürgerlichen Linken war es insbesondere das
Zentrum, das vermöge seines Sinnes für praktische Politik die Scheuklappen
abzulegen begann. Bei den Bülowblockwahlen von 1907 kam es schon vielfach zu
taktischen Vereinbarungen des Zentrums mit der Sozialdemokratie. Zur grund¬
sätzlichen Anerkennung ihrer parteipolitischer Bündnisfähigkeit entschloß sich aber
doch zuerst die bürgerliche Linke. Aus der Bismarckschen Ära kam der alte
Freisinn völlig zersplittert und ziemlich ideenlos heraus. Er gewann neue innere
Kräfte durch den Anschluß des größten Teiles der an bedeutenden Persönlichkeiten
reichen nationalsozialen Bewegung, nachdem deren Versuch einer eignen Partei¬
bildung mißglückt war. In "diesen sozial lebhast angeregten Kreisen war das
Verständnis auch für die politische Arbeiterbewegung größer als anderwärts im
deutschen Bürgertum. Hier fand deswegen auch schon früh der Gedanke Boden,
daß man die Sozialdemokratie zur politischen Mitarbeit und Verantwortung
heranziehen müßte, statt sie grundsätzlich von allem Einfluß möglichst aus¬
zuschließen und ihre Gesinnungen womöglich, einfach nicht gelten zu lassen. Es ist
inzwischen längst anerkannt worden und darf daher ohne besonderen Nachweis
ausgesprochen werden, daß die Sozialdemokratie bei all ihrer jahrzehntelangen
unfruchtbaren Negation, für die sie und ihre Gegner Wohl fast zu gleichen Teilen
die Schuld tragen mögen, doch Gewaltiges für die politische Erziehung sehr breiter
Volksschichten geleistet hat. Große politische Kräfte wurden hier mobil gemacht,
lagen aber für den Staat brach, weil er es nicht verstand, sie zu benutzen, sondern
sie allzu lauge lediglich bekämpfte. Ein großes Glück für die deutsche Entwicklung
ist es gewesen, daß sich die Sozialdemokratie im Kampfe um die politische Macht
Überhaupt für die parlamentarische Taktik entschied und nicht die wirklich staats-
gescihrliche "direkte Aktion" (Massenstreik, Sabotage usw.) vorgezogen hat. Bei
der feindseligen Haltung, die die staatlichen Organe und die bürgerliche Gesell¬
schaft auch nach Bismarcks Rücktritt beibehielten, kann man nicht sagen, daß Staat
und Gesellschaft viel Verdienst daran hätten, daß die Sozialdemokratie eine
parlamentarische Partei geworden ist. Auf der bürgerlichen Linken waren die
Gesinnungsgenossen Friedrich Naumanns unter den ersten, die die parlamen¬
tarische Taktik als ein Mittel erkannten, die politischen Kräfte der Sozial¬
demokratie für Deutschland nutzbar zu machen. Naumann und seine Freunde
erkannten, daß die demokratischen Bestrebungen, denen sie selber anhingen, in
Teutschland so lange zur Ohnmacht verurteilt bleiben mußten, als die Kluft
zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie bestehen blieb. Sie
erkannten, daß man die Scheuklappen grundsätzlich ablegen müßte. Diese
Erkenntnis war jedenfalls schon eine politische Leistung. Man mag zur Demo¬
kratie freundlich oder ablehnend stehen: das wird man jedenfalls bestätigen müssen,
daß sie die politische Macht nimmermehr erlangen konnte, so lange sie in einem
sozialistischen und einem bürgerlichen Lager nicht nur sachlich, sondern auch
taktisch aus Grundsatz geschieden blieb. Deswegen hielten die konservativen
Parteien keineswegs nur aus Berbohrtheit, sondern auch aus richtiger taktischer
Erkenntnis von ihrem Standpunkte aus an der politisch-gesellschaftlichen Achtung
der Sozialdemokratie fest. Der Naumannsche Gedanke eines Zusammenschlusses
der gesamten Linken hat jedenfalls viel Verdienst an der Vorbereitung des Sieges,
den die Demokratie jetzt hat erringen können.

Naumann begann, als er Mitglied der Freisinnigen Vereinigung geworden
war, mit Bestrebungen, die zunächst' eine Einigung des Linkslibcrälismus in sich
zum Ziele hatten. Diese Bestrebungen können heute als völlig gelungen beurteilt
werden. Die heutige Fortschrittliche'Volkspartei steht wirklich als eine Einheit da.
Sie hat nicht die Neigung gezeigt, wieder in die Gruppen auseinanderzufallen,
aus denen sie einst sich zusammengoschlvsslen hat. Das Schwergewicht dieser
gelungenen Parteibildung hat sogar auf den linken Flügel der Nationalliberalen


vom „Großblock" zur „Mehrheit"

politischen Gruppen des Reiches. Jeder .bürgerlichen Partei, die sich mit der
Sozialdemokratie verband, ist dies als Sünde angerechnet worden. Lange Zeit
hat es niemand gewagt, mit den „Roten" ein offenes Wahlbündnis einzugehen,
und erst in den letzten zehn Jahren >etwci vor dem Kriege ist der Bann allmählich
gebrochen »morden. Neben der bürgerlichen Linken war es insbesondere das
Zentrum, das vermöge seines Sinnes für praktische Politik die Scheuklappen
abzulegen begann. Bei den Bülowblockwahlen von 1907 kam es schon vielfach zu
taktischen Vereinbarungen des Zentrums mit der Sozialdemokratie. Zur grund¬
sätzlichen Anerkennung ihrer parteipolitischer Bündnisfähigkeit entschloß sich aber
doch zuerst die bürgerliche Linke. Aus der Bismarckschen Ära kam der alte
Freisinn völlig zersplittert und ziemlich ideenlos heraus. Er gewann neue innere
Kräfte durch den Anschluß des größten Teiles der an bedeutenden Persönlichkeiten
reichen nationalsozialen Bewegung, nachdem deren Versuch einer eignen Partei¬
bildung mißglückt war. In "diesen sozial lebhast angeregten Kreisen war das
Verständnis auch für die politische Arbeiterbewegung größer als anderwärts im
deutschen Bürgertum. Hier fand deswegen auch schon früh der Gedanke Boden,
daß man die Sozialdemokratie zur politischen Mitarbeit und Verantwortung
heranziehen müßte, statt sie grundsätzlich von allem Einfluß möglichst aus¬
zuschließen und ihre Gesinnungen womöglich, einfach nicht gelten zu lassen. Es ist
inzwischen längst anerkannt worden und darf daher ohne besonderen Nachweis
ausgesprochen werden, daß die Sozialdemokratie bei all ihrer jahrzehntelangen
unfruchtbaren Negation, für die sie und ihre Gegner Wohl fast zu gleichen Teilen
die Schuld tragen mögen, doch Gewaltiges für die politische Erziehung sehr breiter
Volksschichten geleistet hat. Große politische Kräfte wurden hier mobil gemacht,
lagen aber für den Staat brach, weil er es nicht verstand, sie zu benutzen, sondern
sie allzu lauge lediglich bekämpfte. Ein großes Glück für die deutsche Entwicklung
ist es gewesen, daß sich die Sozialdemokratie im Kampfe um die politische Macht
Überhaupt für die parlamentarische Taktik entschied und nicht die wirklich staats-
gescihrliche „direkte Aktion" (Massenstreik, Sabotage usw.) vorgezogen hat. Bei
der feindseligen Haltung, die die staatlichen Organe und die bürgerliche Gesell¬
schaft auch nach Bismarcks Rücktritt beibehielten, kann man nicht sagen, daß Staat
und Gesellschaft viel Verdienst daran hätten, daß die Sozialdemokratie eine
parlamentarische Partei geworden ist. Auf der bürgerlichen Linken waren die
Gesinnungsgenossen Friedrich Naumanns unter den ersten, die die parlamen¬
tarische Taktik als ein Mittel erkannten, die politischen Kräfte der Sozial¬
demokratie für Deutschland nutzbar zu machen. Naumann und seine Freunde
erkannten, daß die demokratischen Bestrebungen, denen sie selber anhingen, in
Teutschland so lange zur Ohnmacht verurteilt bleiben mußten, als die Kluft
zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie bestehen blieb. Sie
erkannten, daß man die Scheuklappen grundsätzlich ablegen müßte. Diese
Erkenntnis war jedenfalls schon eine politische Leistung. Man mag zur Demo¬
kratie freundlich oder ablehnend stehen: das wird man jedenfalls bestätigen müssen,
daß sie die politische Macht nimmermehr erlangen konnte, so lange sie in einem
sozialistischen und einem bürgerlichen Lager nicht nur sachlich, sondern auch
taktisch aus Grundsatz geschieden blieb. Deswegen hielten die konservativen
Parteien keineswegs nur aus Berbohrtheit, sondern auch aus richtiger taktischer
Erkenntnis von ihrem Standpunkte aus an der politisch-gesellschaftlichen Achtung
der Sozialdemokratie fest. Der Naumannsche Gedanke eines Zusammenschlusses
der gesamten Linken hat jedenfalls viel Verdienst an der Vorbereitung des Sieges,
den die Demokratie jetzt hat erringen können.

Naumann begann, als er Mitglied der Freisinnigen Vereinigung geworden
war, mit Bestrebungen, die zunächst' eine Einigung des Linkslibcrälismus in sich
zum Ziele hatten. Diese Bestrebungen können heute als völlig gelungen beurteilt
werden. Die heutige Fortschrittliche'Volkspartei steht wirklich als eine Einheit da.
Sie hat nicht die Neigung gezeigt, wieder in die Gruppen auseinanderzufallen,
aus denen sie einst sich zusammengoschlvsslen hat. Das Schwergewicht dieser
gelungenen Parteibildung hat sogar auf den linken Flügel der Nationalliberalen


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[0146] vom „Großblock" zur „Mehrheit" politischen Gruppen des Reiches. Jeder .bürgerlichen Partei, die sich mit der Sozialdemokratie verband, ist dies als Sünde angerechnet worden. Lange Zeit hat es niemand gewagt, mit den „Roten" ein offenes Wahlbündnis einzugehen, und erst in den letzten zehn Jahren >etwci vor dem Kriege ist der Bann allmählich gebrochen »morden. Neben der bürgerlichen Linken war es insbesondere das Zentrum, das vermöge seines Sinnes für praktische Politik die Scheuklappen abzulegen begann. Bei den Bülowblockwahlen von 1907 kam es schon vielfach zu taktischen Vereinbarungen des Zentrums mit der Sozialdemokratie. Zur grund¬ sätzlichen Anerkennung ihrer parteipolitischer Bündnisfähigkeit entschloß sich aber doch zuerst die bürgerliche Linke. Aus der Bismarckschen Ära kam der alte Freisinn völlig zersplittert und ziemlich ideenlos heraus. Er gewann neue innere Kräfte durch den Anschluß des größten Teiles der an bedeutenden Persönlichkeiten reichen nationalsozialen Bewegung, nachdem deren Versuch einer eignen Partei¬ bildung mißglückt war. In "diesen sozial lebhast angeregten Kreisen war das Verständnis auch für die politische Arbeiterbewegung größer als anderwärts im deutschen Bürgertum. Hier fand deswegen auch schon früh der Gedanke Boden, daß man die Sozialdemokratie zur politischen Mitarbeit und Verantwortung heranziehen müßte, statt sie grundsätzlich von allem Einfluß möglichst aus¬ zuschließen und ihre Gesinnungen womöglich, einfach nicht gelten zu lassen. Es ist inzwischen längst anerkannt worden und darf daher ohne besonderen Nachweis ausgesprochen werden, daß die Sozialdemokratie bei all ihrer jahrzehntelangen unfruchtbaren Negation, für die sie und ihre Gegner Wohl fast zu gleichen Teilen die Schuld tragen mögen, doch Gewaltiges für die politische Erziehung sehr breiter Volksschichten geleistet hat. Große politische Kräfte wurden hier mobil gemacht, lagen aber für den Staat brach, weil er es nicht verstand, sie zu benutzen, sondern sie allzu lauge lediglich bekämpfte. Ein großes Glück für die deutsche Entwicklung ist es gewesen, daß sich die Sozialdemokratie im Kampfe um die politische Macht Überhaupt für die parlamentarische Taktik entschied und nicht die wirklich staats- gescihrliche „direkte Aktion" (Massenstreik, Sabotage usw.) vorgezogen hat. Bei der feindseligen Haltung, die die staatlichen Organe und die bürgerliche Gesell¬ schaft auch nach Bismarcks Rücktritt beibehielten, kann man nicht sagen, daß Staat und Gesellschaft viel Verdienst daran hätten, daß die Sozialdemokratie eine parlamentarische Partei geworden ist. Auf der bürgerlichen Linken waren die Gesinnungsgenossen Friedrich Naumanns unter den ersten, die die parlamen¬ tarische Taktik als ein Mittel erkannten, die politischen Kräfte der Sozial¬ demokratie für Deutschland nutzbar zu machen. Naumann und seine Freunde erkannten, daß die demokratischen Bestrebungen, denen sie selber anhingen, in Teutschland so lange zur Ohnmacht verurteilt bleiben mußten, als die Kluft zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie bestehen blieb. Sie erkannten, daß man die Scheuklappen grundsätzlich ablegen müßte. Diese Erkenntnis war jedenfalls schon eine politische Leistung. Man mag zur Demo¬ kratie freundlich oder ablehnend stehen: das wird man jedenfalls bestätigen müssen, daß sie die politische Macht nimmermehr erlangen konnte, so lange sie in einem sozialistischen und einem bürgerlichen Lager nicht nur sachlich, sondern auch taktisch aus Grundsatz geschieden blieb. Deswegen hielten die konservativen Parteien keineswegs nur aus Berbohrtheit, sondern auch aus richtiger taktischer Erkenntnis von ihrem Standpunkte aus an der politisch-gesellschaftlichen Achtung der Sozialdemokratie fest. Der Naumannsche Gedanke eines Zusammenschlusses der gesamten Linken hat jedenfalls viel Verdienst an der Vorbereitung des Sieges, den die Demokratie jetzt hat erringen können. Naumann begann, als er Mitglied der Freisinnigen Vereinigung geworden war, mit Bestrebungen, die zunächst' eine Einigung des Linkslibcrälismus in sich zum Ziele hatten. Diese Bestrebungen können heute als völlig gelungen beurteilt werden. Die heutige Fortschrittliche'Volkspartei steht wirklich als eine Einheit da. Sie hat nicht die Neigung gezeigt, wieder in die Gruppen auseinanderzufallen, aus denen sie einst sich zusammengoschlvsslen hat. Das Schwergewicht dieser gelungenen Parteibildung hat sogar auf den linken Flügel der Nationalliberalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/146>, abgerufen am 22.07.2024.