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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Straßburger Brief

Patzte, Von West und Ost zugleich würde uns alsdann John Bulls sympathische
Physiognomie entgegengrinsen. Finnland gäben wir natürlich völlig preis,
Schweden und Dänemark kämen genau wie Norwegen unter beherrschenden eng¬
lischen Einflutz und würden der Fähigkeit zu standhafter Neutralität beraubt.
Auf Ostseegeltung könnten wir schlankweg verzichten. Und was wäre für unser
Verhältnis zu Rutzland erreicht? Es ist wahrhaftig schwer verständlich, wie breite
Kreise unserer politischen Öffentlichkeit meinen können, das einzige, was uns von
d?in bürgerlichen Rutzland trenne, sei der Friede von Brest-Litowsk. Ist es wirk¬
lich nötig, an die elementare Tatsache zu erinnern, datz uns vom russischen Volke
autzer jenem diplomatischen Ereignis doch sozusagen noch ein Komplex von un-
übersteiglichen Erlebnissen seelisch trennt, die durch die Namen Tannenberg,
Masuren und Gorlice nur zum kleinen Teil bezeichnet sind? Glauben wir, datz
im nationalen Ehrgefühl gerade jener bürgerlichen Kreise, die von einer Eroberung
Königsbergs und Danzigs träumten, die Erinnerung selber wegzuwischen sei?

Unter dem Gesichtspunkt internationaler Resonanz ist bei unserem Verhalten
dem Baltikum gegenüber alle Behutsamkeit erforderlich, da England bekanntlich für
"Befreiung der kleinen Völker" kämpft und in uns den Spezialisten für "Völker¬
unterdrückung" sieht, wird es hier die Gelegenheit wahrnehmen, um uns an Hand
unserer praktischen Ostpolitik auf weitere Musterleistungen dieser Art vor der
Weltöffentlichkeit festzunageln. Wir werden diesem Schicksale nicht entgehen, nicht
nur, weil England stets weiteres Beweismaterial seiner propagandistischen Grund¬
these braucht und folglich auch finden wird, sondern auch nach der ganzen Lage
im Osten. Die politische Unreife und die nationalistische Verhetzung, in der wir
die Letten und Ehlen vorfinden, erfordern gleichermatzen eine feste Hand. Die
schmale Linie, die zwischen Tyrannei und schwächlicher Toleranz hindurchführt, ist
nicht gerade leicht innezuhalten. Wenn aber auch das unmittelbare deutsche
Interesse der beherrschende Gesichtspunkt unserer Behandlung der Ostvölker bleibt,
darf doch auch der Gesichtspunkt internationaler Rückwirkung nicht gänzlich autzer
acht bleiben. Wir haben keinen Grund, England seine Hetzpropaganda allzu sehr
zu erleichtern.




Straßburger Brief

Sehr geehrter Herr!

>^
H^Pezdren Wunsch, einen "Aufsatz" über die neue politische Lage in
! Elsaß-Lothringen für die "Grenzboten" zu schreiben, kann ich beim
! besten Willen nicht erfüllen. Schwerer vielleicht noch wie im
> Reich läßt sich hier im "Reichsland" die Volksstimmung über¬
sehen, die letzten Endes dort allein zur verantwortungsvollen Ent-
_Scheidung berufen sein wird. Während die diplomatischen Ver¬
handlungen zwischen Berlin und Washington hin und her gehler, bleibt das
Schicksal Elsaß-Lothringens als "Schicksalsland des Reiches" in der Schwebe, und
selbst die bevorstehende Tagung des elsaß - lothringischen Landtags wird nur
Streiflichter auf das Kommende werfen, wenn die Volksvertreter dort nach
Schweizer Vorbild ein Referendum über die künftige politische Zugehörigkeit des
Landes beantragen. Das Ergebnis dieser angeblich "freien Volksabstimmung"
selbst läßt sich ja in keiner Weise vorhersehen: alles hängt von den Bedingungen
ab, unter denen die Entente diesen "Volkswillen" zum Ausdruck bringen lassen
will. Nicht die Parlamentarier in Berlin und Straßburg werden über das
Geschick des Reiches, über seine Weltstellung und seine Weltwirtschaft entscheiden:
darüber sind bereits im Frühjahr 1918 vor den Toren von Amiens, Hazebroul
und Reims die eisernen Würfel gefallen, wenn künftige Historiker die Welten¬
wende nicht schon auf den 25. Februar 1916 verlegen, als der siegreiche Angriff


Straßburger Brief

Patzte, Von West und Ost zugleich würde uns alsdann John Bulls sympathische
Physiognomie entgegengrinsen. Finnland gäben wir natürlich völlig preis,
Schweden und Dänemark kämen genau wie Norwegen unter beherrschenden eng¬
lischen Einflutz und würden der Fähigkeit zu standhafter Neutralität beraubt.
Auf Ostseegeltung könnten wir schlankweg verzichten. Und was wäre für unser
Verhältnis zu Rutzland erreicht? Es ist wahrhaftig schwer verständlich, wie breite
Kreise unserer politischen Öffentlichkeit meinen können, das einzige, was uns von
d?in bürgerlichen Rutzland trenne, sei der Friede von Brest-Litowsk. Ist es wirk¬
lich nötig, an die elementare Tatsache zu erinnern, datz uns vom russischen Volke
autzer jenem diplomatischen Ereignis doch sozusagen noch ein Komplex von un-
übersteiglichen Erlebnissen seelisch trennt, die durch die Namen Tannenberg,
Masuren und Gorlice nur zum kleinen Teil bezeichnet sind? Glauben wir, datz
im nationalen Ehrgefühl gerade jener bürgerlichen Kreise, die von einer Eroberung
Königsbergs und Danzigs träumten, die Erinnerung selber wegzuwischen sei?

Unter dem Gesichtspunkt internationaler Resonanz ist bei unserem Verhalten
dem Baltikum gegenüber alle Behutsamkeit erforderlich, da England bekanntlich für
„Befreiung der kleinen Völker" kämpft und in uns den Spezialisten für „Völker¬
unterdrückung" sieht, wird es hier die Gelegenheit wahrnehmen, um uns an Hand
unserer praktischen Ostpolitik auf weitere Musterleistungen dieser Art vor der
Weltöffentlichkeit festzunageln. Wir werden diesem Schicksale nicht entgehen, nicht
nur, weil England stets weiteres Beweismaterial seiner propagandistischen Grund¬
these braucht und folglich auch finden wird, sondern auch nach der ganzen Lage
im Osten. Die politische Unreife und die nationalistische Verhetzung, in der wir
die Letten und Ehlen vorfinden, erfordern gleichermatzen eine feste Hand. Die
schmale Linie, die zwischen Tyrannei und schwächlicher Toleranz hindurchführt, ist
nicht gerade leicht innezuhalten. Wenn aber auch das unmittelbare deutsche
Interesse der beherrschende Gesichtspunkt unserer Behandlung der Ostvölker bleibt,
darf doch auch der Gesichtspunkt internationaler Rückwirkung nicht gänzlich autzer
acht bleiben. Wir haben keinen Grund, England seine Hetzpropaganda allzu sehr
zu erleichtern.




Straßburger Brief

Sehr geehrter Herr!

>^
H^Pezdren Wunsch, einen „Aufsatz" über die neue politische Lage in
! Elsaß-Lothringen für die „Grenzboten" zu schreiben, kann ich beim
! besten Willen nicht erfüllen. Schwerer vielleicht noch wie im
> Reich läßt sich hier im „Reichsland" die Volksstimmung über¬
sehen, die letzten Endes dort allein zur verantwortungsvollen Ent-
_Scheidung berufen sein wird. Während die diplomatischen Ver¬
handlungen zwischen Berlin und Washington hin und her gehler, bleibt das
Schicksal Elsaß-Lothringens als „Schicksalsland des Reiches" in der Schwebe, und
selbst die bevorstehende Tagung des elsaß - lothringischen Landtags wird nur
Streiflichter auf das Kommende werfen, wenn die Volksvertreter dort nach
Schweizer Vorbild ein Referendum über die künftige politische Zugehörigkeit des
Landes beantragen. Das Ergebnis dieser angeblich „freien Volksabstimmung"
selbst läßt sich ja in keiner Weise vorhersehen: alles hängt von den Bedingungen
ab, unter denen die Entente diesen „Volkswillen" zum Ausdruck bringen lassen
will. Nicht die Parlamentarier in Berlin und Straßburg werden über das
Geschick des Reiches, über seine Weltstellung und seine Weltwirtschaft entscheiden:
darüber sind bereits im Frühjahr 1918 vor den Toren von Amiens, Hazebroul
und Reims die eisernen Würfel gefallen, wenn künftige Historiker die Welten¬
wende nicht schon auf den 25. Februar 1916 verlegen, als der siegreiche Angriff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/130>, abgerufen am 24.11.2024.