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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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gelten. Es ist bekannt, daß Valfour der chemischen Abordnung keine bestimmten
öffentlichen Versprechungen gemacht hat; wie weit er sich im geheimen gebunden
hat, wissen wir nicht. Wir dürfen wohl kaum annehmen, daß das in sehr weit¬
gehendem Maße geschehen ist, da England sich für die Belohnung eines etwaigen
reumütigen Nußland der Zukunft noch Möglichkeiten offen lassen muß. Die oft
wiederholte Behauptung, daß englisches Kapital sich durch Landkäufe in Estland
habe festsetzen wollen, ist mir eist neuerdings an Ort und Stelle von zuverlässiger
Seite als glaubwürdig hingestellt worden. Kurzum: England sucht ohne Zweifel
im Valtenlande politischen Einfluß zu gewinnen, nutzt die dort vorhandenen
separatistischen Strömungen der Ehlen und Letten und den Ehrgeiz ihrer von
Ministerportefeuilles träumenden Intelligenz auf geschickte Weise zu unseren Un-
gunsten und ist leben Augenblick bereit, seinen Finger in eine etwa zwischen
dcuischer und russischer Einflußsphäre entstehende Ritze zu klemmen. Lediglich dem
wachsamen Auge unseres Militärregiments ist es zu danken, daß es nicht in den
gegenwärtigen Wirren im Baltikum festeren Fuß gefaßt hat, wie sich ja auch die
.chemische Küste zu einer "Intervention" wesentlich besser geeignet hätte, als etwa
die abgelegene Murmangegend.

Die Voraussetzung für die Forderung, das deutsch-russische Verhältnis so zu.
gestalten, daß wir ohne englisches Dareinreden mit dem neuen Nußland wirtschaftlich
und politisch möglichst bald auf guten Fuß kommen, ist, unmittelbaren englischen
Einfluß aus Osteuropa gänzlich fernzuhalten und schon die bloße Möglichkeit der
Schaffung einer englischen Machtbasis im deutsch-russischen Grenzgebiete im Keime
zu ersticken. Für das baltische Land bleibt uns die einzige Möglichkeit, den gegen¬
wärtigen Zustand einer militärischen Besetzung des Landes zum mindesten für die
Dauer des Krieges aufrecht zu erhalten. Denn gesetzt, wir gäben Teile des Balten¬
landes oder das ganze Gebiet der ehemaligen russischen Ostseeprovinzen an das
englandfeindliche bolschewistische Rußland zurück, so gäben wir das Land zwar der
maximaWischen Zersetzung preis, von der wir es auf ausdrücklichen Wunsch aller
seiner Bewohner errettet haben, wir öffneten aber zugleich den Engländern ein
Einflußtor in Osteuropa: zum mindesten politisch, denn wir trieben die von uns
verratene bolschewisten-feindliche Bevölkerung des Baltikums geradezu in englische
Arme, aber auch strategisch, wenn wir nicht trotz unserer selbstlosen Verzichte unsere
Besatzungstruppen im Lande ließen, um dort Schulter an Schulter mit bolsche¬
wistischen "Jskosols" (Soldatenräten) den Engländer zu erwarten. Das wäre denn
doch die Freundschaft mit dem schwanken Sowjetregime etwas Weitgetrieben. Daß
dos innerlich geschwächte bolschewistische Regiment allein und gegen den Willen der
breitesten Schichten der baltischen Bevölkerung aller Nationen England vom
baltische" Lande nicht fernhalten kann, liegt durchaus auf der Hand. Folglich ist
dieser Weg für uns überhaupt ungangbar.

Aber bekanntlich ist immerhin mit der Möglichkeit eines inneren Umschwungs
in Nußland zu rechnen. In diesem Falle würden politische Kreise ans Ruder
kommen, von denen statt, des schroff arti-englischen maximalistischen Kurses viel¬
mehr ein starkes Liebäugeln mit der Entente zu erwarten ist. Sollten wir nun
wirklich loca solchen Rußland die baltischen Provinzen zurückgeben? Böte es
uns die mindeste Gewähr für eine erfolgreiche Abwehr einer englischen Festsetzung
an der Ostsee? Sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß England in diesem Falle
auiomatijch den keltisch-chemischen Separatismus an dieses neue Ruß'and verraten
winde, meinem friedlichen Eindringen in das baltische Land stünden wir dann
aber noch ohnmächtiger gegenüber, da es uns zu Eingriffen in innerrussische
Verhältnisse zwingen würde, zu denen wir schlechterdings nicht imstande wären.
Die wirtschaftliche Konsolidierung Rußlands, die Angloämerika dann statt unser
in Angriff nehmen würde, fände in Riga, Liban und Reveil die gegebenen Aus¬
gangspunkte. Nicht wie in einem scheinselbständigen Lettland und Estland ins-
geheim, sondern ganz offen würde sich angelsächsischer wirtschaftlicher und poli¬
tischer Einfluß dann an der baltischen Küste festsetzen und zwischen Rußland und
uns einen unüberwindlichen Keil treiben. Aus der Ritze würde ein breiter Spalt,
in den nicht nur die englische Hand, sondern auch die englische Faust gut hinein-


England und die baltische Frag«

gelten. Es ist bekannt, daß Valfour der chemischen Abordnung keine bestimmten
öffentlichen Versprechungen gemacht hat; wie weit er sich im geheimen gebunden
hat, wissen wir nicht. Wir dürfen wohl kaum annehmen, daß das in sehr weit¬
gehendem Maße geschehen ist, da England sich für die Belohnung eines etwaigen
reumütigen Nußland der Zukunft noch Möglichkeiten offen lassen muß. Die oft
wiederholte Behauptung, daß englisches Kapital sich durch Landkäufe in Estland
habe festsetzen wollen, ist mir eist neuerdings an Ort und Stelle von zuverlässiger
Seite als glaubwürdig hingestellt worden. Kurzum: England sucht ohne Zweifel
im Valtenlande politischen Einfluß zu gewinnen, nutzt die dort vorhandenen
separatistischen Strömungen der Ehlen und Letten und den Ehrgeiz ihrer von
Ministerportefeuilles träumenden Intelligenz auf geschickte Weise zu unseren Un-
gunsten und ist leben Augenblick bereit, seinen Finger in eine etwa zwischen
dcuischer und russischer Einflußsphäre entstehende Ritze zu klemmen. Lediglich dem
wachsamen Auge unseres Militärregiments ist es zu danken, daß es nicht in den
gegenwärtigen Wirren im Baltikum festeren Fuß gefaßt hat, wie sich ja auch die
.chemische Küste zu einer „Intervention" wesentlich besser geeignet hätte, als etwa
die abgelegene Murmangegend.

Die Voraussetzung für die Forderung, das deutsch-russische Verhältnis so zu.
gestalten, daß wir ohne englisches Dareinreden mit dem neuen Nußland wirtschaftlich
und politisch möglichst bald auf guten Fuß kommen, ist, unmittelbaren englischen
Einfluß aus Osteuropa gänzlich fernzuhalten und schon die bloße Möglichkeit der
Schaffung einer englischen Machtbasis im deutsch-russischen Grenzgebiete im Keime
zu ersticken. Für das baltische Land bleibt uns die einzige Möglichkeit, den gegen¬
wärtigen Zustand einer militärischen Besetzung des Landes zum mindesten für die
Dauer des Krieges aufrecht zu erhalten. Denn gesetzt, wir gäben Teile des Balten¬
landes oder das ganze Gebiet der ehemaligen russischen Ostseeprovinzen an das
englandfeindliche bolschewistische Rußland zurück, so gäben wir das Land zwar der
maximaWischen Zersetzung preis, von der wir es auf ausdrücklichen Wunsch aller
seiner Bewohner errettet haben, wir öffneten aber zugleich den Engländern ein
Einflußtor in Osteuropa: zum mindesten politisch, denn wir trieben die von uns
verratene bolschewisten-feindliche Bevölkerung des Baltikums geradezu in englische
Arme, aber auch strategisch, wenn wir nicht trotz unserer selbstlosen Verzichte unsere
Besatzungstruppen im Lande ließen, um dort Schulter an Schulter mit bolsche¬
wistischen „Jskosols" (Soldatenräten) den Engländer zu erwarten. Das wäre denn
doch die Freundschaft mit dem schwanken Sowjetregime etwas Weitgetrieben. Daß
dos innerlich geschwächte bolschewistische Regiment allein und gegen den Willen der
breitesten Schichten der baltischen Bevölkerung aller Nationen England vom
baltische» Lande nicht fernhalten kann, liegt durchaus auf der Hand. Folglich ist
dieser Weg für uns überhaupt ungangbar.

Aber bekanntlich ist immerhin mit der Möglichkeit eines inneren Umschwungs
in Nußland zu rechnen. In diesem Falle würden politische Kreise ans Ruder
kommen, von denen statt, des schroff arti-englischen maximalistischen Kurses viel¬
mehr ein starkes Liebäugeln mit der Entente zu erwarten ist. Sollten wir nun
wirklich loca solchen Rußland die baltischen Provinzen zurückgeben? Böte es
uns die mindeste Gewähr für eine erfolgreiche Abwehr einer englischen Festsetzung
an der Ostsee? Sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß England in diesem Falle
auiomatijch den keltisch-chemischen Separatismus an dieses neue Ruß'and verraten
winde, meinem friedlichen Eindringen in das baltische Land stünden wir dann
aber noch ohnmächtiger gegenüber, da es uns zu Eingriffen in innerrussische
Verhältnisse zwingen würde, zu denen wir schlechterdings nicht imstande wären.
Die wirtschaftliche Konsolidierung Rußlands, die Angloämerika dann statt unser
in Angriff nehmen würde, fände in Riga, Liban und Reveil die gegebenen Aus¬
gangspunkte. Nicht wie in einem scheinselbständigen Lettland und Estland ins-
geheim, sondern ganz offen würde sich angelsächsischer wirtschaftlicher und poli¬
tischer Einfluß dann an der baltischen Küste festsetzen und zwischen Rußland und
uns einen unüberwindlichen Keil treiben. Aus der Ritze würde ein breiter Spalt,
in den nicht nur die englische Hand, sondern auch die englische Faust gut hinein-


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[0129] England und die baltische Frag« gelten. Es ist bekannt, daß Valfour der chemischen Abordnung keine bestimmten öffentlichen Versprechungen gemacht hat; wie weit er sich im geheimen gebunden hat, wissen wir nicht. Wir dürfen wohl kaum annehmen, daß das in sehr weit¬ gehendem Maße geschehen ist, da England sich für die Belohnung eines etwaigen reumütigen Nußland der Zukunft noch Möglichkeiten offen lassen muß. Die oft wiederholte Behauptung, daß englisches Kapital sich durch Landkäufe in Estland habe festsetzen wollen, ist mir eist neuerdings an Ort und Stelle von zuverlässiger Seite als glaubwürdig hingestellt worden. Kurzum: England sucht ohne Zweifel im Valtenlande politischen Einfluß zu gewinnen, nutzt die dort vorhandenen separatistischen Strömungen der Ehlen und Letten und den Ehrgeiz ihrer von Ministerportefeuilles träumenden Intelligenz auf geschickte Weise zu unseren Un- gunsten und ist leben Augenblick bereit, seinen Finger in eine etwa zwischen dcuischer und russischer Einflußsphäre entstehende Ritze zu klemmen. Lediglich dem wachsamen Auge unseres Militärregiments ist es zu danken, daß es nicht in den gegenwärtigen Wirren im Baltikum festeren Fuß gefaßt hat, wie sich ja auch die .chemische Küste zu einer „Intervention" wesentlich besser geeignet hätte, als etwa die abgelegene Murmangegend. Die Voraussetzung für die Forderung, das deutsch-russische Verhältnis so zu. gestalten, daß wir ohne englisches Dareinreden mit dem neuen Nußland wirtschaftlich und politisch möglichst bald auf guten Fuß kommen, ist, unmittelbaren englischen Einfluß aus Osteuropa gänzlich fernzuhalten und schon die bloße Möglichkeit der Schaffung einer englischen Machtbasis im deutsch-russischen Grenzgebiete im Keime zu ersticken. Für das baltische Land bleibt uns die einzige Möglichkeit, den gegen¬ wärtigen Zustand einer militärischen Besetzung des Landes zum mindesten für die Dauer des Krieges aufrecht zu erhalten. Denn gesetzt, wir gäben Teile des Balten¬ landes oder das ganze Gebiet der ehemaligen russischen Ostseeprovinzen an das englandfeindliche bolschewistische Rußland zurück, so gäben wir das Land zwar der maximaWischen Zersetzung preis, von der wir es auf ausdrücklichen Wunsch aller seiner Bewohner errettet haben, wir öffneten aber zugleich den Engländern ein Einflußtor in Osteuropa: zum mindesten politisch, denn wir trieben die von uns verratene bolschewisten-feindliche Bevölkerung des Baltikums geradezu in englische Arme, aber auch strategisch, wenn wir nicht trotz unserer selbstlosen Verzichte unsere Besatzungstruppen im Lande ließen, um dort Schulter an Schulter mit bolsche¬ wistischen „Jskosols" (Soldatenräten) den Engländer zu erwarten. Das wäre denn doch die Freundschaft mit dem schwanken Sowjetregime etwas Weitgetrieben. Daß dos innerlich geschwächte bolschewistische Regiment allein und gegen den Willen der breitesten Schichten der baltischen Bevölkerung aller Nationen England vom baltische» Lande nicht fernhalten kann, liegt durchaus auf der Hand. Folglich ist dieser Weg für uns überhaupt ungangbar. Aber bekanntlich ist immerhin mit der Möglichkeit eines inneren Umschwungs in Nußland zu rechnen. In diesem Falle würden politische Kreise ans Ruder kommen, von denen statt, des schroff arti-englischen maximalistischen Kurses viel¬ mehr ein starkes Liebäugeln mit der Entente zu erwarten ist. Sollten wir nun wirklich loca solchen Rußland die baltischen Provinzen zurückgeben? Böte es uns die mindeste Gewähr für eine erfolgreiche Abwehr einer englischen Festsetzung an der Ostsee? Sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß England in diesem Falle auiomatijch den keltisch-chemischen Separatismus an dieses neue Ruß'and verraten winde, meinem friedlichen Eindringen in das baltische Land stünden wir dann aber noch ohnmächtiger gegenüber, da es uns zu Eingriffen in innerrussische Verhältnisse zwingen würde, zu denen wir schlechterdings nicht imstande wären. Die wirtschaftliche Konsolidierung Rußlands, die Angloämerika dann statt unser in Angriff nehmen würde, fände in Riga, Liban und Reveil die gegebenen Aus¬ gangspunkte. Nicht wie in einem scheinselbständigen Lettland und Estland ins- geheim, sondern ganz offen würde sich angelsächsischer wirtschaftlicher und poli¬ tischer Einfluß dann an der baltischen Küste festsetzen und zwischen Rußland und uns einen unüberwindlichen Keil treiben. Aus der Ritze würde ein breiter Spalt, in den nicht nur die englische Hand, sondern auch die englische Faust gut hinein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/129>, abgerufen am 28.11.2024.