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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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England und die baltische Frage

Aspirationen der chemischen und lettischen Intelligenz gibt die englische Geheim¬
agitation im Lande stets neue Nahrung. Unter der wohlbekannten Maske des
Horts der kleinen Völker sucht England im Baltikum selber Fuß zu fassen und
sich so ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen.

Schon an der Wiege eines selbständigen Estenstaates gedachte England die
Patenrolle zu übernehmen. Als zu Anfang dieses Jahres unter dem Eindrucke
der bolschewistischen Tyrannei die Bewegung für einen Anschluß an Deutschland
in allen chemischen Kreisen Platz griff, stachelte der durch die Maximalisten ver¬
triebene fanatisch deutschfeindliche Nationalist Tönnisson von Helsingfors aus in
einem offenen Briefe in der Dorpater chemischen Zeitung "Postimees" die separa¬
tistischen Neigungen des Estenvolkes an, indem er andeutungsweise Englands
Unterstützung auf dem großen internationalen Friedenskongreß in Aussicht stellte.
Etwa um dieselbe Zeit, am 12. Februar 1918, also vor dem deutschen Einmarsch,
wandte sich die Revaler chemische Zeitung "Tallina Teataja" offen gegen Englands
Versuche, sich an der baltischen Küste ein neues Gibraltar zu schaffen, um von
dort aus gleichzeitig Deutschlands Einfluß zu brechen und Schweden, Finnland
und Rußland direkt zu bedrohen. Unmittelbar vor Einmarsch der Deutschen
war bereits der Tag für die Proklamierung der selbständigen chemischen Re¬
publik festgesetzt. Zu diesem Akt waren laut Revaler "Päewaleht" vom
25. Februar 1918 zwei englische Offiziere mit wichtigen Aufträgen ihrer Negierung
in einem Ertrazuge unterwegs. Da jedoch die Bahnlinie an zwei Stellen zerstört
war, konnte diese Gesandtschaft' Reval vor Einzug der Deutschen nicht erreichen,
und das Patestehen unterblieb, zumal die Taufe selber ins Wasser fiel. Inzwischen
gelang es Tönnisson und einigen anderen chemischen Politikern, die sich in Stockholm
als rechtmäßige "Vertretung" des "chemischen Staates" aufladen, einen Protest gegen
die deutschen Maßnahmen ausgerechnet in der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
zu veröffentlichen, der im Baltikum selber nicht nur in der deutschen Presse entrüstete
Gegenäußerungen hervorrief. Übrigens wies damals auch die "Vossische Zeitung"
auf den Zusammenhang hin, der zwischen diesem chemischen Separatismus des
Herrn Tönnisson und englischen Versuchen, sich an der Ostsee festzusetzen, bestünde.
Um dieselbe Zeit beklagte sich eine aus fünf Ehlen und einem Deutschen bestehende
Abordnung mehrerer chemischer Landgemeinden bei dem deutschen kommandierender
General über die provokatorischen Gerüchte, die sichtlich von englischer Seite zur
Beunruhigung der Bevölkerung ausgestreut wurden und die ihre Wirkung namentlich
bei dem chemischen Volke nicht verfehlen, das der Beeinflussung durch unkontrollier-
bare Gerüchte in außerordentlichem Maße zugänglich ist.

Während den chemischen Abordnungen zuerst in London durch Balfour und
dann auch in Paris durch Poincarö freundlicher Empfang und wohlwollende
Zusicherungen zuteil wurden, wovon z. B. die schweizerische Presse durchgehends
Notiz nahm, verstummten in Estland die Gerüchte, z. B. einer nahe bevorstehenden
Landung der Engländer, keineswegs, sondern griffen, wie mir erst kürzlich von
keltischer Seite in Riga versichert wurde, auch auf die lettischen Teile des
Baltikums über. Insbesondere liebt es diese Stimmungsmache, alle deutscheu
Maßnahmen als provisorisch und damit belanglos hinzustellen: der allgemeine
Friedenskongreß werde Deutschlands Niederlage besiegeln und damit den Letten
und Ehlen ihre volle staatliche Selbständigkeit schenken, die ihnen von Deutschland
vorenthalten werde.

Dem Hinweis auf diese offenbaren englischen Machenschaften im Baltenlande
begegnet ein bestimmter Teil der deutschen Presse, eben der, der den fortdauernden
Krieg mit England für ein durch Verständigung jederzeit beizulegendes Mi߬
verständnis hielt, mit einer sehr souveränen Gebärde: er sieht darin halb tendenziöse,
halb ängstliche "altdeutsche" Gespensterseherei. Wer sich im Lande selbst von der
ftimmungsmäßigen Realität dieser Gespenster überzeugt hat, wird sich durch diese
überlegenen Beschwichtigungsgesten, deren Tendenz andererseits gar zu klar zutage
liegt, in der Einsicht nicht beirren lassen, daß es durchaus gilt, hier die Augen
offen zu halten, und daß diese Bestrebungen Englands politisch dmchaus ernst zu
nehmen sind. Daß englisches Geld im Baltikum im Umlauf ist, darf als sicher


England und die baltische Frage

Aspirationen der chemischen und lettischen Intelligenz gibt die englische Geheim¬
agitation im Lande stets neue Nahrung. Unter der wohlbekannten Maske des
Horts der kleinen Völker sucht England im Baltikum selber Fuß zu fassen und
sich so ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen.

Schon an der Wiege eines selbständigen Estenstaates gedachte England die
Patenrolle zu übernehmen. Als zu Anfang dieses Jahres unter dem Eindrucke
der bolschewistischen Tyrannei die Bewegung für einen Anschluß an Deutschland
in allen chemischen Kreisen Platz griff, stachelte der durch die Maximalisten ver¬
triebene fanatisch deutschfeindliche Nationalist Tönnisson von Helsingfors aus in
einem offenen Briefe in der Dorpater chemischen Zeitung „Postimees" die separa¬
tistischen Neigungen des Estenvolkes an, indem er andeutungsweise Englands
Unterstützung auf dem großen internationalen Friedenskongreß in Aussicht stellte.
Etwa um dieselbe Zeit, am 12. Februar 1918, also vor dem deutschen Einmarsch,
wandte sich die Revaler chemische Zeitung „Tallina Teataja" offen gegen Englands
Versuche, sich an der baltischen Küste ein neues Gibraltar zu schaffen, um von
dort aus gleichzeitig Deutschlands Einfluß zu brechen und Schweden, Finnland
und Rußland direkt zu bedrohen. Unmittelbar vor Einmarsch der Deutschen
war bereits der Tag für die Proklamierung der selbständigen chemischen Re¬
publik festgesetzt. Zu diesem Akt waren laut Revaler „Päewaleht" vom
25. Februar 1918 zwei englische Offiziere mit wichtigen Aufträgen ihrer Negierung
in einem Ertrazuge unterwegs. Da jedoch die Bahnlinie an zwei Stellen zerstört
war, konnte diese Gesandtschaft' Reval vor Einzug der Deutschen nicht erreichen,
und das Patestehen unterblieb, zumal die Taufe selber ins Wasser fiel. Inzwischen
gelang es Tönnisson und einigen anderen chemischen Politikern, die sich in Stockholm
als rechtmäßige „Vertretung" des „chemischen Staates" aufladen, einen Protest gegen
die deutschen Maßnahmen ausgerechnet in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
zu veröffentlichen, der im Baltikum selber nicht nur in der deutschen Presse entrüstete
Gegenäußerungen hervorrief. Übrigens wies damals auch die „Vossische Zeitung"
auf den Zusammenhang hin, der zwischen diesem chemischen Separatismus des
Herrn Tönnisson und englischen Versuchen, sich an der Ostsee festzusetzen, bestünde.
Um dieselbe Zeit beklagte sich eine aus fünf Ehlen und einem Deutschen bestehende
Abordnung mehrerer chemischer Landgemeinden bei dem deutschen kommandierender
General über die provokatorischen Gerüchte, die sichtlich von englischer Seite zur
Beunruhigung der Bevölkerung ausgestreut wurden und die ihre Wirkung namentlich
bei dem chemischen Volke nicht verfehlen, das der Beeinflussung durch unkontrollier-
bare Gerüchte in außerordentlichem Maße zugänglich ist.

Während den chemischen Abordnungen zuerst in London durch Balfour und
dann auch in Paris durch Poincarö freundlicher Empfang und wohlwollende
Zusicherungen zuteil wurden, wovon z. B. die schweizerische Presse durchgehends
Notiz nahm, verstummten in Estland die Gerüchte, z. B. einer nahe bevorstehenden
Landung der Engländer, keineswegs, sondern griffen, wie mir erst kürzlich von
keltischer Seite in Riga versichert wurde, auch auf die lettischen Teile des
Baltikums über. Insbesondere liebt es diese Stimmungsmache, alle deutscheu
Maßnahmen als provisorisch und damit belanglos hinzustellen: der allgemeine
Friedenskongreß werde Deutschlands Niederlage besiegeln und damit den Letten
und Ehlen ihre volle staatliche Selbständigkeit schenken, die ihnen von Deutschland
vorenthalten werde.

Dem Hinweis auf diese offenbaren englischen Machenschaften im Baltenlande
begegnet ein bestimmter Teil der deutschen Presse, eben der, der den fortdauernden
Krieg mit England für ein durch Verständigung jederzeit beizulegendes Mi߬
verständnis hielt, mit einer sehr souveränen Gebärde: er sieht darin halb tendenziöse,
halb ängstliche „altdeutsche" Gespensterseherei. Wer sich im Lande selbst von der
ftimmungsmäßigen Realität dieser Gespenster überzeugt hat, wird sich durch diese
überlegenen Beschwichtigungsgesten, deren Tendenz andererseits gar zu klar zutage
liegt, in der Einsicht nicht beirren lassen, daß es durchaus gilt, hier die Augen
offen zu halten, und daß diese Bestrebungen Englands politisch dmchaus ernst zu
nehmen sind. Daß englisches Geld im Baltikum im Umlauf ist, darf als sicher


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[0128] England und die baltische Frage Aspirationen der chemischen und lettischen Intelligenz gibt die englische Geheim¬ agitation im Lande stets neue Nahrung. Unter der wohlbekannten Maske des Horts der kleinen Völker sucht England im Baltikum selber Fuß zu fassen und sich so ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen. Schon an der Wiege eines selbständigen Estenstaates gedachte England die Patenrolle zu übernehmen. Als zu Anfang dieses Jahres unter dem Eindrucke der bolschewistischen Tyrannei die Bewegung für einen Anschluß an Deutschland in allen chemischen Kreisen Platz griff, stachelte der durch die Maximalisten ver¬ triebene fanatisch deutschfeindliche Nationalist Tönnisson von Helsingfors aus in einem offenen Briefe in der Dorpater chemischen Zeitung „Postimees" die separa¬ tistischen Neigungen des Estenvolkes an, indem er andeutungsweise Englands Unterstützung auf dem großen internationalen Friedenskongreß in Aussicht stellte. Etwa um dieselbe Zeit, am 12. Februar 1918, also vor dem deutschen Einmarsch, wandte sich die Revaler chemische Zeitung „Tallina Teataja" offen gegen Englands Versuche, sich an der baltischen Küste ein neues Gibraltar zu schaffen, um von dort aus gleichzeitig Deutschlands Einfluß zu brechen und Schweden, Finnland und Rußland direkt zu bedrohen. Unmittelbar vor Einmarsch der Deutschen war bereits der Tag für die Proklamierung der selbständigen chemischen Re¬ publik festgesetzt. Zu diesem Akt waren laut Revaler „Päewaleht" vom 25. Februar 1918 zwei englische Offiziere mit wichtigen Aufträgen ihrer Negierung in einem Ertrazuge unterwegs. Da jedoch die Bahnlinie an zwei Stellen zerstört war, konnte diese Gesandtschaft' Reval vor Einzug der Deutschen nicht erreichen, und das Patestehen unterblieb, zumal die Taufe selber ins Wasser fiel. Inzwischen gelang es Tönnisson und einigen anderen chemischen Politikern, die sich in Stockholm als rechtmäßige „Vertretung" des „chemischen Staates" aufladen, einen Protest gegen die deutschen Maßnahmen ausgerechnet in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" zu veröffentlichen, der im Baltikum selber nicht nur in der deutschen Presse entrüstete Gegenäußerungen hervorrief. Übrigens wies damals auch die „Vossische Zeitung" auf den Zusammenhang hin, der zwischen diesem chemischen Separatismus des Herrn Tönnisson und englischen Versuchen, sich an der Ostsee festzusetzen, bestünde. Um dieselbe Zeit beklagte sich eine aus fünf Ehlen und einem Deutschen bestehende Abordnung mehrerer chemischer Landgemeinden bei dem deutschen kommandierender General über die provokatorischen Gerüchte, die sichtlich von englischer Seite zur Beunruhigung der Bevölkerung ausgestreut wurden und die ihre Wirkung namentlich bei dem chemischen Volke nicht verfehlen, das der Beeinflussung durch unkontrollier- bare Gerüchte in außerordentlichem Maße zugänglich ist. Während den chemischen Abordnungen zuerst in London durch Balfour und dann auch in Paris durch Poincarö freundlicher Empfang und wohlwollende Zusicherungen zuteil wurden, wovon z. B. die schweizerische Presse durchgehends Notiz nahm, verstummten in Estland die Gerüchte, z. B. einer nahe bevorstehenden Landung der Engländer, keineswegs, sondern griffen, wie mir erst kürzlich von keltischer Seite in Riga versichert wurde, auch auf die lettischen Teile des Baltikums über. Insbesondere liebt es diese Stimmungsmache, alle deutscheu Maßnahmen als provisorisch und damit belanglos hinzustellen: der allgemeine Friedenskongreß werde Deutschlands Niederlage besiegeln und damit den Letten und Ehlen ihre volle staatliche Selbständigkeit schenken, die ihnen von Deutschland vorenthalten werde. Dem Hinweis auf diese offenbaren englischen Machenschaften im Baltenlande begegnet ein bestimmter Teil der deutschen Presse, eben der, der den fortdauernden Krieg mit England für ein durch Verständigung jederzeit beizulegendes Mi߬ verständnis hielt, mit einer sehr souveränen Gebärde: er sieht darin halb tendenziöse, halb ängstliche „altdeutsche" Gespensterseherei. Wer sich im Lande selbst von der ftimmungsmäßigen Realität dieser Gespenster überzeugt hat, wird sich durch diese überlegenen Beschwichtigungsgesten, deren Tendenz andererseits gar zu klar zutage liegt, in der Einsicht nicht beirren lassen, daß es durchaus gilt, hier die Augen offen zu halten, und daß diese Bestrebungen Englands politisch dmchaus ernst zu nehmen sind. Daß englisches Geld im Baltikum im Umlauf ist, darf als sicher

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/128>, abgerufen am 22.07.2024.